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© picture alliance / dpa-Zentralbild | Stephan Schulz

Ein realistischer Blick auf Stärken und Schwächen in Ost wie West ist gefragt Leben spielt sich in Regionen ab

Ein Lieblingsspruch des ehemaligen brandenburgischen Ministerpräsidenten Matthias Platzeck lautet: »Das Leben spielt sich in Relationen ab.« Das galt auch lange für die Debatten über Ostdeutschland. Allzu häufig standen die Defizite im Vordergrund – das im Vergleich zu Westdeutschland niedrigere Bruttoinlandsprodukt, die geringere Produktivität, die Abwanderung. Und ja, es gibt nach wie vor objektive strukturelle Unterschiede zwischen Ost und West und auch Ungleichheiten. Die Kluft bei den Löhnen ist eklatant, aber auch bei Eigentum und Erbschaften, mit überaus negativen Auswirkungen auf die Lebenschancen der Einzelnen.

»Die Defizitorientierung hat das Klischee eines ewig hinterherhinkenden Ostens verstärkt.«

Auf der anderen Seite hat die – teilweise von der Linkspartei über das reale Maß hinaus zusätzlich verstärkte – Defizitorientierung das Klischee eines ewig hinterherhinkenden Ostens verstärkt. Dabei gibt es den Osten ebenso wenig wie den Westen. Die Entwicklungspfade einzelner Regionen in Deutschland sind sehr unterschiedlich und werden es bleiben. Auch Teile Westdeutschlands haben mit strukturellen Problemen zu kämpfen, umgekehrt hat sich der Osten in den vergangenen Jahren gut entwickelt, in Teilen boomt er sogar. Seine Defizite sind ein Handlungsauftrag. Seine Vielfalt und Stärke sind die Basis für ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein. Für beides – Schwächen und Stärken – brauchen wir einen neuen, realistischen Blick.

Nach dem tiefgreifenden Umbruch von 1989/90 hat sich Ostdeutschland neu erfunden. Dieser Prozess hat den Menschen viele Entbehrungen abverlangt, Arbeitsbiografien wurden entwertet, Familien auseinandergerissen. Die Dimension der Veränderungen im Rekordtempo haben viele Westdeutsche gar nicht richtig zur Kenntnis genommen, denn für sie änderte sich kaum etwas. Im Osten brach hingegen eine Welt zusammen. Ganze Industriezweige verschwanden. Vier Millionen Menschen gingen in den Westen. Die Eliten wurden ausgetauscht und funktionierende Infrastrukturen der Daseinsfürsorge rückgebaut.

Doch die Menschen haben etwas aus dieser Situation gemacht. Sie haben sich einen – wenn auch häufig bescheidenen – Wohlstand aufgebaut. Eine neue Vielfalt und Dynamik ist entstanden. Heute gilt der Osten als Zukunftsregion. »The East German economy finally gets a boom«, verkündete der britische Guardian. Es ist kein Zufall, dass internationale Technologie-Unternehmen wie Intel und TSMC oder Tesla hier ebenso investieren wie die Traditionsfirma Birkenstock. Sie schätzen den Osten mit seinem Vorsprung bei den Erneuerbaren Energien, der mittlerweile gut ausgebauten Infrastruktur, hochmotivierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und vielen verfügbaren Flächen.

Neues Selbstbewusstsein

Die Probleme der Vergangenheit haben sich zum Teil sogar ins Gegenteil verkehrt, etwa wenn es um Unternehmensansiedlungen geht. Früher wurde praktisch jedes Großprojekt begrüßt, solange es nur Arbeitsplätze brachte. Jetzt gibt es bei Vorhaben auch mal Widerstände. Bei einer (nicht bindenden) Bürgerbefragung zu den Erweiterungsplänen für die Tesla-Fabrik in Grünheide stimmten im Februar 65 Prozent dagegen. Für Unternehmen, die attraktiv sein wollen, wird es künftig ein entscheidender Erfolgsfaktor sein, die Bevölkerung mitzunehmen und die eigenen Projekte gut zu erklären.

Dieses neue Selbstbewusstsein ist auch auf dem Arbeitsmarkt spürbar. Die Arbeitslosigkeit lag 2023 nur noch bei 7,2 Prozent, knapp über dem Wert in Westdeutschland. Aus dem Arbeitgeber- ist ein Arbeitnehmermarkt geworden. Die Chancen der Einzelnen, Jobs mit guten Arbeitsbedingungen und fairen Löhnen zu finden, sind deutlich gewachsen. Junge Menschen, die einen Ausbildungsplatz suchen, können sich die Unternehmen häufig fast aussuchen. In dieser neuen Lage werden auch die Löhne weiter steigen können, wenn sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dafür selbstbewusst einsetzen, am besten in starken Gewerkschaften. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, dass dies möglich ist, machen viele Ostdeutsche zum ersten Mal.

Stehen Ostdeutschland also rosige Zeiten bevor? Das kommt darauf an. Der positive wirtschaftliche Entwicklungspfad ist kein Selbstläufer. Die deutsche Wirtschaft ist im Jahr 2023 um 0,3 Prozent geschrumpft und die Bundesregierung erwartet für 2024 nur 0,2 Prozent Wirtschaftswachstum. Das geht auch an Ostdeutschland nicht spurlos vorbei. Neben der aktuellen Malaise bestehen aber auch einige mittel- bis langfristige Herausforderungen, die angepackt werden müssen, damit der Osten eine Chancenregion bleibt.

»Die ostdeutschen Stärken in Zukunftstechnologien müssen ausgebaut werden.«

Zum einen muss die Energiewende ein Treiber für Fortschritt bleiben. Mit Energieeffizienz, Innovationen und der Digitalisierung bei der Strom- und Wärmeversorgung wird die Wettbewerbsfähigkeit Ostdeutschlands gestärkt und neue Investitionen werden angezogen. Erstmals besteht die Möglichkeit, dass Unternehmen im Osten nicht mehr nur die verlängerten Werkbänke des Westens sind, sondern selbst zu den Zentren der Entwicklung werden. Die ostdeutschen Stärken in Zukunftstechnologien wie der Halbleitertechnik, der Optik/Photonik, der Batterietechnik und der Wasserstofftechnologie müssen ausgebaut werden. Weil Regionen mit ausgezeichneten Bildungs- und Forschungseinrichtungen in der Transformation Vorteile haben, unterstützt die Bundesregierung Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen dabei, regionale Potenziale für Innovationen zu heben. Eine Entscheidung mit Signalwirkung ist die geplante Ansiedlung der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI) in Thüringen.

Damit die Energiewende eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte bleibt, müssen die Bürgerinnen und Bürger sowie die Betriebe vor Ort einen Nutzen davon haben und mitgestalten können. Umso wichtiger sind gerade bei großen Projekten Transparenz und demokratische Beteiligung unter Berücksichtigung regionaler Besonderheiten und Traditionen.

Wachstumsbremse Fachkräftemangel

Zudem müssen wir den Arbeits- und Fachkräftemangel in den Griff bekommen, der immer mehr zur Wachstumsbremse wird. Eine von mir in Auftrag gegebenen Studie aus dem vergangenen Jahr hat ergeben, dass sich 40 Prozent der ostdeutschen Unternehmen in ihrer Existenz bedroht sehen, wenn es ihnen nicht gelingt, in den kommenden fünf Jahren ausreichend Arbeitskräfte zu gewinnen. Denn bis 2030 werden im Osten rund 800.000 Menschen im arbeitsfähigen Alter weniger als heute leben. Der demografische Trend ist die Achillesverse Ostdeutschlands. Zwar konnte der Abwanderungstrend der vergangenen 30 Jahre gestoppt werden. Dringend notwendig sind dennoch bessere Voraussetzungen, um das Fachkräftepotenzial vor Ort zu heben und mehr Menschen aus dem In- und Ausland nach Ostdeutschland zu locken.

»Eine gelebte Willkommenskultur ist entscheidend für die Zukunft des Ostens.«

Gerade auch im Osten brechen viel zu viele junge Menschen Schule oder Studium ab. Deutschland hat die vierthöchste Schulabbrecherquote in der EU. Die Bundesländer müssen sich dieser Herausforderung endlich intensiver stellen. Mit Blick auf mehr gesteuerte Zuwanderung hat die Bundesregierung mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Weichen gestellt. Deutschland ist mittlerweile eines der weltweit modernsten Einwanderungsländer. Gleichzeitig helfen alle Anstrengungen zur Weiterentwicklung des Einwanderungsrechts nichts, wenn sich ausländische Arbeitskräfte in Ostdeutschland nicht hinreichend willkommen fühlen. Es ist in unserem ureigenen Interesse, gegen Vorurteile und für ein weltoffenes Ostdeutschland zu kämpfen – für Vielfalt, Toleranz und Demokratie. Eine gelebte Willkommenskultur ist entscheidend für die Zukunft des Ostens.

Damit verbunden ist, dass Ostdeutschland in den Köpfen vieler ein Zentrum des Rechtsextremismus ist. Dieses negative Image wird durch die Wahlerfolge der AfD vor allem im Osten noch verstärkt. Mit gravierenden Folgen: In der erwähnten Studie beklagt rund ein Drittel der ostdeutschen Unternehmenslenker, dass das Auftreten fremdenfeindlicher Akteure in der Region es erschwert, Beschäftigte aus anderen Ländern anzuwerben und zu halten. Nur 32 Prozent bewerten die Einstellung der Bevölkerung vor Ort gegenüber Geflüchteten und Zugewanderten als gut.

Mut macht hingegen, dass Unternehmen, in denen mehr Beschäftigte mit Migrationshintergrund arbeiten, über eine deutlich positivere Einstellung der Bevölkerung vor Ort gegenüber Geflüchteten und Zuwanderern berichten. Kontakte und Erfahrungen sind also Wegbereiter für Toleranz – auch über den engen Bereich des Arbeitslebens hinaus. Arbeitskräfte aus dem Ausland sind also nicht nur zur Linderung des akuten Arbeitskräftemangels relevant. Sie können zugleich dazu beitragen, die Attraktivität von Standorten insgesamt zu erhöhen.

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Eine zentrale Zukunftsfrage für Ostdeutschland lautet deshalb, wie wir Weltoffenheit fördern und das Vertrauen in die Demokratie und die staatlichen Institutionen stärken können. Der jährliche »Deutschland-Monitor« zeigt, dass Ressentiments, Populismusaffinität und Demokratieskepsis verbreitet dort auftreten, wo sich viele Menschen abgehängt fühlen oder angeben, im Vergleich zu anderen den »fairen Anteil« nicht zu erhalten – und viele ihre Lebensumgebung vor Ort negativ bewerten. Die Wahrnehmung von Defiziten beim Öffentlichen Personennahverkehr, bei der Ärzteversorgung oder der Pflege ist im Osten besonders stark ausgeprägt, wobei die Forschenden Gefühle des Abgehängtseins maßgeblich auf die Abwanderung der letzten Jahrzehnte zurückführen.

Gerade im Osten müssen wir daher neue Wege finden, die Wohnorte aufzuwerten. Das ist auch eine Frage des Geldes. Schließlich ist in Regionen mit besserer sozioökonomischer Lage und mehr Finanzkraft die Zufriedenheit mit dem Wohnumfeld größer. Wir müssen Infrastruktur und Lebensqualität gerade in strukturschwachen Gebieten weiter verbessern. Das Ziel der Bundesregierung, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, bleibt deshalb zentral, auch um die Demokratie zu stärken. Sie wird 2024 erstmals einen Gleichwertigkeitsbericht vorlegen, um auf der Basis von wissenschaftlichen Analysen regionalen Disparitäten begegnen zu können.

»Noch immer fühlen sich 63 Prozent der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse.«

Klar ist zugleich: Im Wandel müssen soziale Aspekte im Mittelpunkt stehen, auch um Abstiegsängsten entgegenzutreten, nicht nur in Ostdeutschland. Maßnahmen wie die überfällige Rentenangleichung zwischen Ost und West, der Mindestlohn oder die jüngste Erhöhung des Wohngeldes sind gerade im Osten wichtige Antworten auf ein gestiegenes Sicherheitsbedürfnis. Denn dort sind die Erwartungen an einen handlungsfähigen Staat hoch: Dem Deutschland-Monitor zufolge sind 78 Prozent der Ostdeutschen der Meinung, der Staat sei dafür verantwortlich, allgemeine Lebensrisiken aufzufangen. Zusätzlich zur materiellen Dimension muss die Politik mit der gesellschaftlichen Stimmung im Osten sensibel umgehen. Noch immer fühlen sich 63 Prozent der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse. Viele Menschen glauben, dass die Bundespolitik sich nicht für die eigene Region interessiert und dass ihre Lebenswirklichkeit und Art zu leben zu wenig respektiert wird.

Neue Identität – neues Selbstbewusstsein

Dies hat zentral mit den Demütigungserfahrungen vieler Ostdeutscher nach 1990 zu tun. Sie können natürlich nicht ungeschehen gemacht werden, verloren gegangenes Vertrauen in demokratische Institutionen muss mühsam wieder erarbeitet werden. Dafür ist es wichtig, dass mehr Ostdeutsche in Führungspositionen gelangen – in Verwaltung, Wirtschaft, Justiz, Politik, Wissenschaft und Medien. Wie die Studie »Eliten-Monitor« zeigt, sind Ostdeutsche an den entscheidenden Stellen noch immer unterrepräsentiert. Ihren Erfahrungen und Sichtweisen müssen sich bei Entscheidungsfindungen besser wiederfinden. Das ist auch eine Frage des Respekts.

Ebenso bedeutsam ist die Förderung der ostdeutschen Kunst- und Kulturszene, die für die Identitätsbildung und das »Selbst-Bewusstsein« dieser Region unglaublich viel leistet. Junge Autorinnen und Autoren wie Anne Rabe, Hendrik Bolz oder Lukas Rietzschel schaffen Anknüpfungspunkte für viele andere Ostdeutsche, indem sie gemeinsame Erfahrungen verarbeiten. Auch Musiker und Musikerinnen wie Kraftklub oder Marteria nehmen in ihren Texten immer wieder Bezug auf die Besonderheiten des Ostens und ihre eigene Herkunft. Sie erkunden literarisch und musikalisch, was es heißt, eine ostdeutsche Identität zu haben. Auf den Veranstaltungen rund um die europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025 wird die schöpferische Kraft des Ostens und die neue Ost-Identität auch für ein internationales Publikum erfahrbar werden.

Diese neue Identität ist der Zukunft zugewandt, weltoffen und avantgardistisch. Sie entsteht nicht in Abgrenzung zum Westen, sondern gerade viele Jüngere verstehen Ostdeutschland als eigenständigen, längst integrierten Landesteil mit Stärken und Schwächen in einem vielfältigen Gesamtdeutschland. Aus dieser Perspektive spielt sich das Leben nicht in Relationen ab, wie Matthias Platzeck sagen würde, sondern in Regionen.

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