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Erinnerung an Ernst-Wolfgang Böckenförde Leidenschaft für Freiheit und Gleichheit

1957 veröffentlichte der 27-jährige Ernst-Wolfgang Böckenförde in der katholischen Zeitschrift Hochland seinen ersten Aufsatz mit dem Titel »Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche«. Den Anstoß hatte ein Vortrag des sozialdemokratischen Juristen Adolf Arndt an der Technischen Universität München gegeben, den dieser auf Einladung von Hans-Jochen Vogel als Vorsitzendem des Arbeitskreises Sozialdemokratischer Akademiker gehalten hatte. In dem Text warb der frisch promovierte Jurist Böckenförde für die Demokratie der jungen Bundesrepublik als Ordnung der Freiheit und Gleichheit und opponierte scharf gegen die herrschende kirchliche Position, dass naturrechtliche Bestimmungen – etwa mit Blick auf Familie und Schule – den demokratischen Prozessen entzogen seien. Konkret kritisierte er die Wahlhirtenbriefe der katholischen Bischöfe und ihren Rückzug auf ein Wächteramt. »Das hat natürlich in ein Wespennest gestochen«, erinnerte sich Böckenförde 2011 in einem biografischen Interview mit Dieter Gosewinkel.

Doch ging es ihm nicht in erster Linie um Kritik. Vielmehr wollte er die katholische Kirche dazu bringen, die gefährlichen Sackgassen zu erkennen, in die sie eine für konkrete politische Verhältnisse blinde Verteidigung des Naturrechts hineingetrieben habe. Vor dem Hintergrund dieser Rücksichtnahme sind auch die kritischen Texte Böckenfördes in den Folgejahren zu verstehen, etwa 1960 sein Beitrag mit Robert Spaemann gegen die naturrechtliche Kriegslehre im Rahmen der Debatte um die atomare Bewaffnung der Bundeswehr, oder der 1961 wiederum in Hochland veröffentlichte Aufsatz »Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933. Eine kritische Betrachtung«, der ein »mittleres Erdbeben« im deutschen Katholizismus auslöste. Böckenförde wies darin nicht nur nach, dass Bischöfe das NS-Regime emphatisch begrüßt hatten, sondern er schloss aus dem Befund, dass jedwede politische Ordnung durch den Katholizismus akzeptiert würde, solange bestimmte naturrechtlich begründete Forderungen – etwa in der Schulpolitik – erfüllt würden. Im Gegensatz dazu warb Böckenförde bei den Katholiken eindringlich dafür, die Vorbehalte gegen die freiheitliche Demokratie aufzugeben. Geschichte geschrieben hat sein Vortrag unter dem Titel »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, den er 1964 bei einem Kolloquium von Ernst Forsthoff im Kloster Ebrach gehalten hatte und der 1967 veröffentlicht wurde. In ihm findet sich der berühmte Satz: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« Böckenförde wollte dies als Einladung an die Katholiken zur Mitgestaltung des politischen Gemeinwesens verstanden wissen.

Ernst-Wolfgang Böckenförde nahm also von Anfang an auch die Rolle eines öffentlichen Intellektuellen ein und sah sich darin wenig später durch das Zweite Vatikanische Konzil bestätigt. Woher aber nahm er die Sicherheit seines Urteils und die Leidenschaft, sich als bekennender Katholik für den säkularen Staat auszusprechen und gegen den katholischen Mainstream?

Sein Elternhaus dürfte dafür sicher den Boden bereitet haben. Die geistige Atmosphäre beschrieb der 1930 Geborene, der mit sieben Geschwistern in Kassel-Wilhelmshöhe aufwuchs, als »zugleich offen und ohne Kritikverbote«. Später lehrten ihn seine akademischen Lehrer, juristische Begriffe nicht nur als abstraktes Denkgebäude zu begreifen, sondern auch die soziale Wirklichkeit zu betrachten, in der sie entstanden und jeweils gelebt werden.

Die 1956 in Münster bei Hans J. Wolff abgeschlossene Dissertation – einem reformierten Protestanten, »eher liberal und ideologisch nicht passend für das Dritte Reich« – ist bereits begriffsgeschichtlich angelegt. Die 1960 in München bei Franz Schnabel, einem »Anwalt des Humanismus« eingereichte historische Arbeit nimmt ebenfalls in ihrer Hinwendung zur verfassungsgeschichtlichen Forschung im 19. Jahrhundert eine wissenschaftshistorische Perspektive ein. Auf Anregung von Carl Schmitt habilitierte sich Böckenförde dann 1963 in Münster über das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland und wurde Ordentlicher Professor für Öffentliches Recht, Rechts- und Verfassungsgeschichte sowie Rechtsphilosophie in Heidelberg (1964 bis 1969), Bielefeld (1969 bis 1977) und Freiburg i. Br. (1977 bis 1995).

Die akademischen Schriften zu normativen Fragen der politischen Ordnung zeigen Ernst-Wolfgang Böckenförde als zutiefst liberalen Denker. Er war überzeugt, dass der Rechtsstaat der Freiheitssicherung dient, »und zwar durch Grundrechte und Gewaltenteilung und die Ausbildung freiheitsschützender Formen und Verfahren, die wichtiger sind als materielle Gewährleistungen«. Seine Rechtsdogmatik ist erklärtermaßen durch Carl Schmitt geprägt. Der Schmitt-Biograf Reinhard Mehring sieht ihn als dessen liberalen Rezipienten, und Böckenförde konnte dem zustimmen. Er habe nie verheimlicht, viel von Schmitt gelernt zu haben, den er als 23‑jähriger Student zusammen mit seinem Bruder Werner (der später Domkapitular in Limburg wurde) besucht hatte und bis zu dessen Tod immer wieder aufsuchte. Er habe sich aber nur das herausgesucht, was er von Schmitt übernehmen und akzeptieren konnte. Dessen Rolle in der NS-Zeit, die Böckenförde auch als Leser der Frankfurter Hefte bekannt gewesen sein dürfte, sei zwischen ihnen so gut wie kein Thema gewesen: »Was soll man dazu sagen? Es gibt eben in jedem Leben dunkle, vielleicht auch sehr dunkle Seiten und Flecken, ich bin nicht sein Richter. Wieso sollte ich ihn zur Rechenschaft ziehen und ein nachgeholtes Spruchkammerverfahren machen?« Diese unausgesprochene Übereinkunft im Schweigen ist für Nachgeborene schwer zu verstehen. Christoph Möllers trifft es wohl am ehesten, wenn er in seinem Beitrag zum 80. Geburtstag in der Zeitschrift für Ideengeschichte schreibt, dass bei Böckenförde der »zutiefst moralische Charakter seines Denkens« auch »die moralische Verpflichtung« einschloss, »sich mit dem Totalitarismus auseinanderzusetzen, ohne sich seiner nur durch Moralisierung zu entledigen«.

Doch nicht nur Carl Schmitt hat ihn beeinflusst, Lorenz von Stein verdankte Böckenförde die grundlegende Einsicht, dass die Sicherung der sozialen Voraussetzungen, die die Entfaltung der Freiheit zuallererst ermöglichen, elementar zur Freiheitsgewährleistung dazugehören und insofern verfassungsrechtliche Relevanz haben.

Sein Eintreten für den sozialen Ausgleich und das Godesberger Programm brachten Böckenförde in die Nähe zur Sozialdemokratie, die sicher auch durch Mitglieder aus dem münsteraner Kreis um Joachim Ritter sowie durch einen Vortrag von Adolf Arndt an der Münchner Katholischen Akademie von 1958 befördert wurde, dem eine intensive Korrespondenz folgte. Doch war es bis zum Parteieintritt in die SPD 1967 noch ein langer Weg, galt doch damals für einen Katholiken die Mitgliedschaft noch als etwas, für das man sich beim Jüngsten Gericht zu rechtfertigen hätte. 1965 wurde Böckenförde zum rechtspolitischen Kongress der SPD in Heidelberg eingeladen. Vermittelt durch seinen Bruder Christoph, der in der SPD-Fraktion als Assistent arbeitete, war er 1966 erstmals als Experte in der Fraktion. Herbert Wehner bemühte sich um ihn; nach einem privaten Besuch bei ihm zu Hause entschied sich Böckenförde, auch offiziell Sozialdemokrat zu werden. 1969 wurde er Mitglied im rechtspolitischen Ausschuss beim Parteivorstand, 1970 in die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Verfassungsreform berufen. 1969 kam es auf Vermittlung von Burkhard Reichert, dem langjährigen Kirchenreferenten der Partei, zu einer persönlichen Begegnung mit Helmut Schmidt. Der spätere Bundeskanzler hielt auf dem Höhepunkt der hitzigen Grundwertedebatte einen Vortrag an der Katholischen Akademie in Hamburg, Böckenförde war einer der Ghostwriter seiner Rede. Im Streit um die Abtreibungsregelung der 70er Jahre sprach sich Ernst-Wolfgang Böckenförde für eine Indikationenregelung aus, konnte sich damit aber parteiintern nicht durchsetzen. In den heftigen Debatten um die Notstandsgesetzgebung hielt er öffentlich an seiner Auffassung fest, dass auch die Feinde der Freiheit nicht von den Freiheitsgarantien ausgenommen werden dürften.

1983 wurde Böckenförde auf Vorschlag der SPD zum Richter des Zweiten Senats am Bundesverfassungsgericht berufen. In seine Amtszeit bis 1996 fielen wegweisende Entscheidungen. Mit insgesamt 11 Sondervoten schrieb er Rechtsgeschichte; in zwei Fällen folgte das Gericht später seiner Position. Im Blick auf die Entscheidung um eine gesamtdeutsche Abtreibungsregelung 1993 betonte Böckenförde noch einmal die strikte Trennung zwischen seiner persönlichen Auffassung und seiner Rolle als prüfender Richter: »Die Position im Verfassungsgericht als katholischer Akteur auszunutzen, wäre für mich ein Mißbrauch des Amtes gewesen.« Die Beratungstätigkeit beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken ließ er (ebenso wie die Mitgliedschaft in der SPD) während seiner Amtszeit ruhen.

Nach seiner Zeit als Verfassungsrichter bezog Böckenförde öffentlich wieder klar Position. Breit wahrgenommen wurde seine scharfe Kritik am Kapitalismus auf dem Höhepunkt der Finanzkrise und seine deutliche Ablehnung einer Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. Christoph Möllers hat Böckenförde als den »einzige[n] juristische[n] Demokratietheoretiker in der Bundesrepublik« gewürdigt und seine Demokratiekonzeption verstanden als »anspruchsvollste[n] theoretische[n] Ausdruck der Normalität eines zu Ende gehenden geschlossenen Republikanismus, den die Bundesrepublik hervorgebracht hat«.

Von aktueller Bedeutung aber bleibt sein zum »Böckenförde-Diktum« geronnener Satz, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht selbst garantieren kann. Für seinen Schüler Bernhard Schlink gehört dieser »zum intellektuellen Hausgut unseres Landes«. Seine Entstehung und kontroverse Rezeptionsgeschichte sind intensiv aufgearbeitet. Vor diesem Hintergrund sollte das Missverständnis als ausgeräumt gelten, dass der Satz auf die Notwendigkeit religiöser Überzeugungen für die Demokratie abzielt und damit gleichsam durch die Hintertür die christlichen Kirchen wieder zur Fundierung des säkularen Staates einzusetzen sucht. Böckenförde hat immer wieder erklärt, dass die Motivation für ein demokratisches Ethos aus ganz unterschiedlichen Quellen erfolgen kann. Ihm geht es darum festzuhalten, dass der Staat keine hoheitlichen Mittel hat, es durchzusetzen. Das Grundgesetz erzwingt laut Bundesverfassungsgericht keine Werteloyalität. Mit Böckenförde kann also keine Forderung nach einer christlichen Leitkultur des säkularen Staates erhoben werden. Konsequent hat er sich zum Beispiel immer gegen ein generelles Kopftuchverbot ausgesprochen.

Gleichwohl ging auch Böckenförde davon aus, dass es – Rolf Dahrendorf folgend – für ein demokratisches Ethos von Freiheit, Gleichheit und Solidarität so etwas wie einen »sense of belonging« geben muss, eine gemeinsame Basis, die auch in Schulen und Bildungseinrichtungen vermittelt werden sollte. Durchaus missverständlich (und vielfach kritisiert) sprach er in diesem Zusammenhang von einer (relativen) Homogenität der Gesellschaft. In der Diskussion im Rahmen der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken 2004 verdeutlichte Böckenförde den Gedanken mit einem Satz von Adolf Arndt: »Demokratie als System der Mehrheitsentscheidung setzt die Einigkeit über das Unabstimmbare voraus.«

Was aber ist zu tun, wenn sich das gemeinsame Wir in Partikularinteressen aufspaltet, die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr durch eine gemeinsame Sprache und Geschichte verbunden sind? Wenn der Grundkonsens bröckelt, dass unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung allen Bürgerinnen und Bürgern das gleiche Recht auf Verwirklichung ihrer Freiheit im Rahmen der allgemeinen Gesetze zubilligt, und wenn Freiheit an Attraktivität verliert? Dann stellt sich die bohrende Frage nach den bindenden Kräften der Gesellschaft, die der böckenfördesche Satz aufwirft, umso drängender. Der Satz gibt darauf keine Antwort, sondern ist eine Aufforderung an die Einzelnen, demokratische politische Tugenden zu entwickeln, sich als »Mitgesetzgeber« (Jürgen Habermas) zu verstehen und das Gemeinsame im zivilgesellschaftlichen Diskurs auszuloten.

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat dafür vielfach Anstöße gegeben. Er war ein herausragender Staatsrechtler, akademischer Lehrer, Verfassungsrichter, öffentlicher Intellektueller, überzeugter Sozialdemokrat und bekennender Katholik. Die große Klammer dieser durchaus unterschiedlichen Identitäten war seine Leidenschaft für ein Ethos der Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Darin wird er, der am 24. Februar 2019 in Au bei Freiburg gestorben ist, als große Persönlichkeit in Erinnerung bleiben.

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