Der Begriff der »Leitkultur« scheint hoffnungslos beschädigt, obwohl das Ansinnen, dem er entsprang, keineswegs überholt ist. Es war der deutsch-syrische Politikwissenschaftler Bassam Tibi, der ihn Anfang der 90er Jahre in der wohlbedachten Akzentuierung als »europäische Leitkultur« vorschlug, interessanterweise parallel zur beginnenden Diskussion über die Entstehung des »Euro-Islam«, welcher in mehreren empirischen Erhebungen des Zentrums für Türkeistudien in Essen unter Faruk Şen Gestalt annahm. Beides schien sich höchst produktiv zu ergänzen: eine europäische Leitkultur, zu der der Euro-Islam von Anfang an dazugehörte. Dann wurde der Begriff aber mutwillig beschädigt, weil er von rechten Integrationsgegnern regelmäßig als Kampfmittel zum Zweck der Stimmungsmache in Wahlkämpfen aktiviert wurde, mit Inhalten bestückt, die in der Sache teilweise lächerlich wirkten (z. B. Hände schütteln als Pflicht), weil sie allein der symbolischen Ausgrenzung dienen sollen, und teilweise, würden sie administrativ wirklich umgesetzt, zur Ausbürgerung nicht geringer Teile der einheimischen Bevölkerung geführt hätten. Das war übrigens die Zeit als Angela Merkel treuherzig dekretierte: »Multikulti ist gescheitert«.
Die Sache, um die es in dieser Debatte eigentlich gehen sollte, ist durch diese Misshandlung nicht vom Tisch. Denn das, worum es eigentlich geht, versteht sich keineswegs von selbst – nicht nur im Hinblick auf die Hinzukommenden: so viel Ehrlichkeit muss sein –, sondern auch für Viele, die schon lange da sind, im Grunde für uns alle. Gesucht wird eine regulative Idee – keine Verordnung – von dem, was wir anstreben müssen, wenn wir als kulturell zunehmend pluralistisches Land zu dem Mindestmaß an Vertrauen, Solidarität und gegenseitigem Respekt finden wollen, ohne das Demokratie, ziviles Zusammenleben und Sozialstaat keine Zukunft hätten. Wir wissen ja aus Erfahrung, dass Demokratie und Sozialstaat von den Institutionen allein, die sie verkörpern, nicht leben können, wenn in den Köpfen und Herzen allzu vieler Bürgerinnen und Bürger der Geist und die Energien erlöschen, die sie tragen. Alle seriösen Forschungen in Ländern mit reichhaltiger und langer Erfahrung in Sachen kulturelle Vielfalt (Niederlande, Frankreich, Deutschland, USA) zeigen, dass selbst günstige materielle Bedingungen in den Kernbereichen Arbeit, Wohnen und Sprache zwar notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für das Gelingen von Integration sind, wenn aus ihnen kein »neues Wir« (Paul Scheffer, Robert D. Putnam) hervorgeht, also ein Bewusstsein und ein Gefühl der gegenseitigen Verbundenheit.
Es geht dabei gerade nicht um den überzogenen Anspruch einer kulturellen Gemeinschaft, die nichts Trennendes à la Identitätspolitik mehr kennt. Im Gegenteil, was wir brauchen ist die politisch-kulturelle Verständigung zwischen in ihrem Glauben und in ihrer Lebensweise höchst unterschiedlichen Menschen, die gemeinsam einen Staat bilden wollen: friedlich, solidarisch, rücksichtsvoll. Die Übereinstimmung in dem gesuchten »neuen Wir« schließt daher vor allem die Anerkennung legitimer Verschiedenheit ein. Es ist ja ohnehin der Geltungssinn der rechtsstaatlichen Demokratie, ihr ganzer Sinn und Zweck, die größtmöglichen Freiheitsräume für alle zu garantieren, damit sie ihr persönliches Leben selbstbestimmt gestalten können. Für alle, die alten und die neuen Bürgerinnen und Bürger, muss dabei der Grundsatz gelten: soviel Unterschiedlichkeit wie möglich, soviel Gemeinsamkeit wie nötig, denn die letzten Fragen des Glaubens und der Lebensweise kann jeder Mensch nur für sich selbst beantworten. Aus der Praxis dieses selbstverständlich gewordenen Freiheitsrechts ist in den modernen Demokratien unversehens eine zunehmende Vielfalt sozial-kultureller Milieus von Menschen hervorgegangen, die jeweils ähnliche Lebensstile praktizieren. Sie erkennen und vertrauen einander auf Anhieb und unterscheiden sich von den Menschen aus anderen Milieus erkennbar, suchen den Kontakt mit ihnen meist nicht oder meiden ihn sogar. Die Anderen kommen ihnen in ihrem Verhalten, ihrer Alltagsästhetik, ihrer Sprache, selbst ihren Grußformen regelrecht wie »Fremde im eigenen Land« vor: In den Begriffen des Sinus-Milieu-Modells illustriert, meiden hierzulande die »etabliert Konservativen« (10 %) eher die »Eskapisten« (15 %) und den »Prekären« (9 %) kommen die »Beweger/Erfolgreichen« (6 %) mitunter verdächtig vor. Sie alle bleiben am liebsten in ihren eigenen Lebenswelten und begegnen sich fast nur noch in begrenzten gesellschaftlichen Funktionen, etwa im Beruf, im Straßenverkehr oder beim Einkaufen. Dennoch deutet alles darauf hin, dass diese Vielfalt mit ihren starken Abgrenzungen das Bewusstsein ihrer Verbundenheit als Bürger/innen nicht trübt.
Da wir hierzulande nun schon ein Dutzend solcher abgrenzenden Milieus verzeichnen – muss es uns da eigentlich kümmern, wenn infolge verstärkter Zuwanderung zwei, drei weitere hinzukommen? Die Religionen, die sie mitbringen, sind ja alle schon da und die Lebensstile auch. Deutsch werden ja hoffentlich alle bald verstehen und der Respekt vor dem Grundgesetz lässt sich von außen ohnehin nur an der Gesetzestreue erkennen, deren Verletzung ohne Ansehung der Person geahndet wird. Arbeitsplätze und Bildungschancen werden für viele der Zugewanderten noch auf sich warten lassen, aber für die meisten schließlich verfügbar sein. Dann wäre also, folgt man dem konstruktiven Zweig der Debatten zum Thema, im Grunde alles geregelt, die Integration kann ihren Lauf nehmen – oder fehlt etwas Entscheidendes in diesem Bild? Reicht das alles für das »neue Wir«? Offenbar nicht ganz, wie die neuere Forschung ahnen lässt. Die interessanteste Studie dazu kommt aus den USA, sie stammt von Robert D. Putnam, dem weltweit geachteten Pionier der wissenschaftlichen Erforschung der Zivilgesellschaft als Grundlage gelingender Demokratie. Er war es auch, der seit den 90er Jahren die herausragende Rolle der Zivilgesellschaft im Prozess der gesellschaftlichen Integration belegte und die Bedeutung von »Sozialkapital« alias »Vertrauen« für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachwies. Putnam hat nun fünf Jahre lang mit 30.000 Befragungen den Zusammenhang von ethnisch-kultureller Vielfalt und Bürgerengagement erforscht, also die Quellen von Vertrauen und Solidarität. Er hat die Ergebnisse lange zurückgehalten, weil er ihren politischen Missbrauch in den USA fürchtete. Ihre Veröffentlichung hat er nun mit der Hoffnung entschärft, wirkliche Integration bleibe möglich, nämlich dann, wenn doch noch ein »Neues Wir« gelingt.
Dem Verfasser zufolge führen die beiden die Diskussionen bisher beherrschenden Theorien über Migration und Integration – die Kontakttheorie und die Konflikttheorie – gleichermaßen in die Irre. Erstere beruht auf der Annahme, dass zunehmender Kontakt zwischen Personen mit ethnisch-diversem Hintergrund die Harmonie zwischen ihnen wachsen lässt, während letztere annimmt, sie zerstöre diese. Der zunehmende Kontakt zwischen Angehörigen unterschiedlicher ethnisch-kultureller Gruppen bewirke weder das eine noch das andere, sondern etwas fast Erschreckendes, das der Verfasser eine »allgemeine staatsbürgerliche Malaise« nennt: das zivilgesellschaftliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger erlahmt. Die Menschen ziehen sich aus dem öffentlichen Raum zurück, so wie die Schildkröte ihren Kopf in den Panzer zurückfährt, sobald Gefahr droht.
Die Werte für die soziokulturellen Einstellungen in den Bereichen Vertrauen und Solidarität in gesellschaftlicher Nahwelt und Zivilgesellschaft sind in direkter Entsprechung umso schlechter, je größer das Ausmaß der ethnisch-kulturellen Vielfalt in der jeweiligen Lebenswelt ist. Das gilt vor allem für die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement. Auf kurze Sicht lässt ethnische Vielfalt die Schildkröte in uns allen hervortreten.
Da das »neue Wir«, das den Schildkröteneffekt verhindern könnte, in den zahlreichen Lebenswelten der USA, die Putnam untersucht, so lange ausgeblieben ist, stellt sich die Frage, was dieses »Wir« gewährleistet oder wie es wenigstens gefördert werden könnte. Für den europäischen, besonders den deutschen Fall lässt sich die Lehre ziehen, dass wirkliche Integration weit über ein konfliktarmes Zusammenleben hinausgehen muss und keineswegs aus einem reibungslosen sozialräumlichen Nebeneinander der kulturell Verschiedenen mit der Zeit von selbst erfolgt. Eine verbindende politisch-soziale Kultur setzt offenbar mehr voraus als Arbeit und Wohnung für alle, was freilich selbst schon ein hoher Anspruch ist. Sie verlangt auch mehr, als dass die Hinzukommenden die Sprache lernen und sich in der neuen Umwelt zu bewegen verstehen. Worauf es ankommt ist vielmehr, dass möglichst alle, die in einem Gemeinwesen zusammenleben wollen, eine öffentliche Kultur teilen, die sie verbindet. Das gilt für die politische Kultur der Demokratie und ihren Kern, religiöse Differenzen und politische Gegnerschaft nie in persönliche Feindschaft abgleiten zu lassen, sondern in gegenseitigem Respekt zu bewältigen. Es gilt ebenso für die zivile Kultur des Umgangs miteinander in Lebenswelt und Zivilgesellschaft, geprägt von den Regeln der gleichen Anerkennung anderer Religionen und Lebenskulturen; es gilt erst recht für die uneingeschränkte Gleichheit der Geschlechter und sexuellen Identitäten symbolisch und real. Und es gilt für das Gebot der Höflichkeit, also für Rücksichtnahme und Respekt gegenüber allen im öffentlichen Raum. Es kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu: Die sozialen Demokratien Europas unterscheiden sich unter anderem durch ihre solidarische Sozialkultur von sehr vielen anderen Gesellschaften der Welt, in denen korrupte Eliten das Misstrauen gegen den Staat täglich nähren und die Begrenzung der Solidarität auf die Familie geradezu als Überlebensstrategie erzwingen. Die egalitäre europäische Zivil- und Sozialkultur, deren allmähliche Durchsetzung als »Leitkultur« in langen Krisen und Konflikten mehr als zwei Jahrhunderte bedurfte, um allmählich zur Gewohnheit zu werden, setzt Erfahrung und Vertrauen voraus. Sie ist gewöhnungsbedürftig – das zeigen ja schon die gar nicht so wenigen hiesigen »Eingeborenen«, die damit noch immer ihre anhaltenden Probleme haben. Auch für sie, wie für uns alle, ist eine Neubesinnung auf das, was uns verbinden muss, wenn wir frei und solidarisch zusammenleben wollen, ein großer kultureller Gewinn. Es geht um die Erneuerung der gemeinsamen »Gewohnheiten des Herzens« (Robert N. Bellah). Bis hierher handelt es sich um eine europäische, nicht deutsche Zivil- und Sozialkultur, die schon auf dem Kontinent selbst viele Ausprägungen kennt, aber nicht ohne einen gemeinsamen Kern. Für Deutschland kommt noch etwas hinzu, das die Sache erschwert: ein paar Grundkenntnisse über die heikle Geschichte und das historische Verbrechen des Landes, das sie zu einer besonderen macht. Eine gewisse Bereitschaft zur gemeinsamen Erinnerungskultur, die von dem »Wir«, das wir in diesem Lande sind und sein wollen, nicht zu trennen ist. Das kann nicht für jeden Hinzukommenden zur Herzenssache werden, aber Verstehen und Verständnis ist von allen zu verlangen, die dazugehören wollen.
Wie aber gelangen wir, falls wir uns auf all das verständigen können, hin zu diesem »neuen Wir«? Schon klar, das Bewusstmachen des Verbindenden entsteht weder durch Predigen noch durch Verordnungen, es muss aus verbindender Alltagspraxis erwachsen, in der die Medien, Kunst und Kultur, die Schulen, noch entscheidender wohl die Vorschulen, eine große Rolle spielen. Den Ausschlag aber dürfte, außer alldem sowie Arbeitsplätzen und Wohnungen für alle, am Ende die Frage geben, ob wir im Alltag in getrennten Welten wohnen und leben oder uns in verbindenden Räumen begegnen. Das ist nicht nur eine Frage der Stadtpolitik. Es spricht viel dafür, das der entscheidende Schub für das »neue Wir« von einer Bürgerbewegung ausgehen muss, der es gelingt, die »Willkommenskultur« des Jahres 2015 in ihrer Zahl und Leidenschaft in ein neues Engagement zu verwandeln, das die kulturell-religiös Verschiedenen überall in den Lebenswelten und der Zivilgesellschaft zusammenbringt – also dort, wo aus Vielem Gemeinsames werden kann.
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