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Leitkultur-Verständnis der AfD vs. Verfassungspatriotismus

Was ist eigentlich mit »Leitkultur« gemeint? Eine differenzierte Antwort auf diese Frage sollte zwei Sphären unterscheiden. Denn es stellen sich dazu zwei Unterfragen: Welcher Anspruch an Gültigkeit wird erhoben? Und: Welche Inhalte sind als Prinzipien gemeint? Bei dem erstgenannten Aspekt geht es darum, wie verbindlich die Leitkultur für Menschen sein soll. Handelt es sich um ein erwünschtes, aber unverbindliches Ideal? Oder soll das Gemeinte notwendig und verpflichtend sein? Bei der Frage nach den Inhalten stehen die gemeinten Normen im Zentrum. Sind sie mit nationaler oder religiöser Ausrichtung exklusiv? Oder können sie als interkulturelle und universelle Wertvorstellungen gelten? Die meisten Anhänger eines Leitkultur-Modells positionieren sich hierzu nicht klar. Daher stehen auch diverse Auffassungen mit eigenem Gültigkeitsanspruch in inhaltlicher Konkurrenz nebeneinander. Dies macht aus dem Begriff nicht notwendigerweise eine Leerformel, gleichwohl bedarf es doch einer Klarstellung zum Verständnis.

Wie steht es da um die »Alternative für Deutschland« (AfD) und deren Auffassung? Eine erste Antwort gibt der Blick in ihr Grundsatzprogramm. Dort heißt es in dem Abschnitt »Deutsche Leitkultur statt Multikulturalismus«: »Die Alternative für Deutschland bekennt sich zur deutschen Leitkultur, die sich im Wesentlichen aus drei Quellen speist: erstens der religiösen Überlieferung des Christentums, zweitens der wissenschaftlich-humanistischen Tradition, deren antike Wurzeln in Renaissance und Aufklärung erneuert wurden, und drittens dem römischen Recht, auf dem unser Rechtsstaat fußt«. Es geht demnach um eine »deutsche«, nicht um eine universelle »Leitkultur«. Doch von den drei genannten Quellen ist keine exklusiv »deutsch«: Das Christentum ist weltweit verbreitet, die Aufklärung steht für eine kulturübergreifende Denkhaltung, und das römische Recht prägt alle modernen Rechtsstaatsvorstellungen. Dies bedeutet in der Gesamtschau: Die AfD kann selbst nicht das typisch »deutsche« ihrer Auffassung von »deutscher Leitkultur« benennen.

Allenfalls betont man die Frontstellung gegen den »Multikulturalismus«, heißt es dazu doch: »Die Ideologie des Multikulturalismus (…) betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen«. Wie Letzteres genau geschehen soll, wird nicht näher erläutert. Wäre der Staat angesprochen, müsste er verbindliche Vorgaben machen. Wäre die Zivilgesellschaft angesprochen, müsste sie soziale Wirkung entfalten. Wie beides genau zu geschehen hätte, bleibt unklar. Beachtenswerter ist hier aber die Formulierung »kulturelle Einheit«. Was soll damit in einer ausdifferenzierten und komplexen Gesellschaft gemeint sein? Es gibt dort zumindest keine inhaltlich stärker entwickelte »kulturelle Einheit«. Eine gegenteilige Annahme ist nicht nur wirklichkeitsfremd, sie hat auch erkennbar eine antipluralistische Dimension. Die Ausgrenzung des Anderen deutet sich hier an.

Auch im AfD-Bundestagswahlprogramm 2017 gab es Ausführungen zur »deutschen Leitkultur«. Genannt werden zunächst Antike, Aufklärung, Christentum und Humanismus, wobei es sich aber eben nicht um typisch »deutsche« Werte handelt. Danach heißt es: »Die umfasst neben der deutschen Sprache auch unsere Bräuche und Traditionen, Geistes- und Kulturgeschichte. Unser liberaler Rechtsstaat, unsere Wertschätzung von Bildung, Kunst und Wissenschaft und der sozialen Marktwirtschaft als Ausdruck menschlicher Kreativität und Schaffenskraft sind damit engstens verbunden«. Auch hier gilt, dass der positive Bezug auf Bildung, Kultur, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit nicht typisch deutsch ist. Bei den Bräuchen und Traditionen sowie der Geistes- und Kulturgeschichte bleibt unklar, was jeweils damit genau gemeint sein soll. Bekanntlich hat es dazu in der deutschen Geschichte die unterschiedlichsten Prägungen gegeben. Allenfalls kann einer »deutschen Leitkultur« eindeutig und klar die »deutsche Sprache« zugeordnet werden.

Dieser Auffassung war auch Aydan Özoğuz, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. Die SPD-Politikerin veröffentlichte Mitte Mai im Berliner Tagesspiegel den Kommentar »Gesellschaftsvertrag statt Leitkultur. Leitkultur verkommt zum Klischee des Deutschseins«. Darin heißt es: »Sobald diese Leitkultur aber inhaltlich gefüllt wird, gleitet die Debatte ins Lächerliche und Absurde, die Vorschläge verkommen zum Klischee des Deutschsein. Kein Wunder, denn eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.« Demgegenüber solle man im Grundgesetz den Ordnungsrahmen für das Zusammenleben sehen. Die Verfassung liefere indessen »kein kulturelles, sondern ein politisches Leitbild«. In diesem Sinne könnten und müssten sich auch Eingewanderte in die politische Kultur einleben. Man erwarte von ihnen erkennbare Anstrengungen sich einzubringen und teilhaben zu wollen. Demnach plädiert Özoğuz nicht für eine national-, sondern für eine verfassungspatriotische Position.

Wie reagierte man nun in der AfD auf diese Sicht? Der heutige Fraktionsvorsitzende im Bundestag Alexander Gauland hielt drei Monate nach der Publikation von Özoğuz’ Kommentar eine Wahlkampfrede im thüringischen Eichsfeld. Dort äußerte er mit Bezug auf die Aussage, dass eine spezifisch deutsche Kultur jenseits der Sprache nicht identifizierbar sei gegenüber dem Publikum: »Das sagt eine Deutsch-Türkin. Ladet sie mal ins Eichsfeld ein, und sagt ihr dann, was spezifisch deutsche Kultur ist. Danach kommt sie hier nie wieder her, und wir werden sie dann auch, Gott sei Dank, in Anatolien entsorgen können«. Diese Aussage löste Empörung in der Öffentlichkeit aus. Gauland weigerte sich in einer Fernsehsendung, eine Entschuldigung gegenüber Frau Özoğuz auszusprechen. Das Wort »entsorgen«, so Gauland, würde er nicht mehr verwenden. Inhaltlich bleibe er aber bei seinen Aussagen, denn die Integrationsbeauftragte sei in Deutschland »nicht am richtigen Ort«.

Die zweite AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel stimmte Gauland von der Sache her zu. Es entstehe »tatsächlich der Eindruck, dass Frau Özoğuz in der Türkei besser aufgehoben wäre als in Deutschland«. Über die Wortwahl könne man sich »sehr wohl streiten«. Demnach ging es hier nicht um eine Einzelaussage Gaulands, sie kann der Partei in Gänze zugerechnet werden. Dabei ist aber aus einem demokratietheoretischen Blick nicht nur eine Formulierung, sondern die Sache selbst mehrfach höchst problematisch: Zunächst kann noch einmal daran erinnert werden, dass die AfD nicht das typisch »deutsche« an der »deutschen Leitkultur« benennen kann. Als einziges trennscharfes Merkmal wird – wie von Aydan Özoğuz – die deutsche Sprache genannt. Ansonsten ist nur diffus von Bräuchen und Traditionen die Rede. Diese waren in der deutschen Geschichte aber nicht immer von Demokratie, Menschenrechten und Pluralismus geprägt. Eine genaue Erläuterung dazu, welche man teilt oder nicht teilt, fehlt denn auch bei der Partei.

Allein dieses intellektuelle Defizit macht die referierten Positionen noch nicht verwerflich. Aber mit der gleichzeitig beschworenen »kulturellen Einheit« werden hier folgenreiche Konsequenzen für eine Staatsbürgerin und ihren Verfassungspatriotismus beschworen. Die letztgenannte Auffassung, dies sei noch einmal gesondert hervorgehoben, steht dafür, dass die Menschenwürde den höchsten Stellenwert haben soll. Sie ist laut dem ersten Artikel des Grundgesetzes allen Individuen als Menschen von Natur aus unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit eigen. Die Menschenrechte gehören zur Menschenwürde, und die Meinungsfreiheit gehört zu den Menschenrechten. Das Bekenntnis gegen die Leitkultur von Özoğuz und ihr damit einhergehendes Plädoyer für Verfassungspatriotismus hätten aber laut Gauland und Weidel eine problematische Wirkung. Beide sind nicht nur erklärtermaßen anderer Auffassung, was völlig legitim ist. Beide wollen der deutschen Staatsbürgerin aber auch das Recht auf die Anwesenheit in Deutschland absprechen.

Nicht nur damit richten sich die Auffassungen von Gauland und Weidel gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, welche die AfD laut ihren programmatischen Aussagen doch eigentlich mit zur »deutschen Leitkultur« zählt. Denn dazu gehören auch die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte inklusive dem der Meinungsfreiheit. Dagegen verstößt Gaulands Aussage: »Ich finde eine Frau, die sagt, eine deutsche Kultur sei jenseits der Sprache nicht identifizierbar, hat in diesem Land nichts verloren«. Es gibt darüber hinaus aber noch eine andere bedenkliche Komponente, die sich in den Aussagen der AfD-Vorsitzenden findet. Dabei kommt der Ort, wohin Özoğuz gehen soll, ein hoher Stellenwert zu: Die türkischstämmige Politikerin und deutsche Staatsbürgerin müsse in Anatolien »entsorgt« werden bzw. sei in der Türkei besser aufgehoben. Zu einer solchen Auffassung kann man nur kommen, wenn ihr die deutsche Staatsbürgerschaft abgesprochen wird. Dies ist die innere Logik der Rede.

Dabei bediente Gauland sich auch scharfer Worte: »Entsorgen« ist im Gegensatz zu den Auffassungen mancher Kritiker zwar keine nationalsozialistische Vokabel. Im Alltagssprachgebrauch steht die Formulierung aber für die Weiterleitung von Müll. Damit identifizierte er die SPD-Politikerin objektiv. Auch wenn sie nicht deutlich artikuliert werden, bestehen sogar Gewaltfantasien im Subtext. Spätestens darin kann eine menschenfeindliche Grundeinstellung gesehen werden. Gauland nahm später die Wortwahl zwar zurück, aber ohne eine Distanzierung in der Sache vorzunehmen. Die Auffassung deckt sich auch mit dem »Leitkultur«-Verständnis seiner Partei. Es ist zwar nicht inhaltlich entwickelt, aber auf eine »kulturelle Einheit« angelegt. Damit geht es um die Homogenisierung politischer Positionen, was auf die Negierung des Pluralismus hinausläuft. Gauland formulierte demnach nur das deutlich, was die »Leitkultur«-Position seiner Partei ist. Sie richtet sich damit auch gegen Deutsche ohne Migrationshintergrund.

Die vorstehenden Ausführungen zur Kritik des »Leitkultur«-Verständnisses der AfD sprechen nicht grundsätzlich gegen die Idee von einer »Leitkultur« als Orientierung für das soziale Zusammensein. Es kommt ganz, wie einführend betont, auf den Geltungsanspruch und die Inhalte an. Kulturelle und rechtliche Normen unterscheiden sich. Demnach können aus dieser Blickrichtung die Elemente einer »Leitkultur« nicht verbindlich sein. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche kulturellen Besonderheiten nur einer nationalen Identität zugeordnet werden können. Demgegenüber bestehen in größerer Klarheit universelle Normen. Diese dürften in einer Gesellschaft, die von Angehörigen unterschiedlicher Kulturen geprägt ist, in weitaus höherem Maße integrierend wirken. Die gemeinsamen Bezugspunkte sind größer als bei einer »deutschen Leitkultur«. Erst dies ermöglicht eine Einheit in Vielfalt. Die Idee von einer »Nation als kulturelle Einheit« läuft demgegenüber auf eine Renaissance von geschlossenen Gesellschaften und eine Negierung des Verfassungspatriotismus hinaus.

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