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Liberale Identitätspolitik und die Kulturalisierung sozialer Ungleichheit

Unmittelbar nach dem Wahlsieg Donald Trumps über Hillary Clinton veröffentlichte Mark Lilla in der New York Times einen viel beachteten Essay, in dem er forderte, die Ära liberaler Identitätspolitik zu beenden. In der Folge wurde auch hierzulande heftig diskutiert, wie weit das mit starken moralischen Wertungen vorgetragene Engagement der liberalen Linken für spezifische Gruppen, deren Rechte, Anerkennung und gesellschaftliche Position den spektakulären Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen mit zu verantworten habe. Ein Hauptargument lautete dabei, die Identitätspolitik habe die Vernachlässigung der klassischen sozialen Frage begünstigt. An die Stelle des Kampfes gegen ökonomische Ausbeutung sei der gegen kulturelle Diskriminierung getreten. Die dadurch entstandene Repräsentationslücke eröffne Rechtspopulisten die Möglichkeit, sich erfolgreich als Fürsprecher der sogenannten kleinen Leute zu profilieren. Darüber hinaus werde der Moralismus der akademisch gebildeten Linken, ihre belehrenden Zurechtweisungen des Publikums und das Einklagen immer neuer politisch korrekter Sprachregelungen von vielen als arrogante Entwertung der eigenen, stärker traditionell geprägten Lebensweise empfunden. Selbstvergewisserung und Aufwertung biete demgegenüber dann die von Rechtspopulisten beschworene eigene ethnische Herkunft, die Abgrenzung gegenüber dem Fremden und eine pauschale Kritik an den angeblich korrupten und fremdgesteuerten Eliten.

Das Problem mit dieser Sicht auf die Entwicklung der letzten Jahre ist m. E. nicht, dass sie falsch wäre. Das Problem ist, dass sie nahelegt, mit einer Wiederentdeckung der sozialen Frage und etwas mehr Zurückhaltung bei der moralischen Belehrung der Bevölkerung seien die traditionellen Wähler/innen linker Parteien zurückzugewinnen und der Aufstieg der Rechtspopulisten zu stoppen. Das darf bezweifelt werden. Die Widersprüche zwischen der kulturellen und der sozialen Linken gehen tiefer und dürften durch kleinere programmatische Nachjustierungen und eine Optimierung der politischen Kommunikation nicht zu überbrücken sein. Dies zeigt bereits ein etwas genauerer Blick über den Atlantik. Mark Lillas Artikel vom November 2016 war durchaus keine spontane Reaktion auf den Schock des Wahlergebnisses. Der Gegensatz zwischen einer auf kulturelle, ethnische und sexuelle Diversität und einer an Klassenfragen und Gemeinschaftswerten orientierten Linken ist in den Vereinigten Staaten bereits vor mehr als 30 Jahren aufgebrochen. Insbesondere Autoren, die dem Pragmatismus und Kommunitarismus zuzuordnen sind, werfen der kulturellen, die Universitäten dominierenden Linken seither immer wieder vor, mit ihrer Dramatisierung verschiedener, nach Hautfarbe, Geschlecht oder sexueller Orientierung differenzierten Identitäten weniger eine Politik der Gleichstellung dieser Gruppen zu betreiben, als vielmehr deren Selbstbestätigung bis hin zum Narzissmus. Allgemeininteressen und Bürgertugenden blieben auf der Strecke und würden durch den Moralismus politischer Korrektheit ersetzt, der es den akademischen Eliten ermögliche, besten Gewissens ihre Verachtung kleinbürgerlicher und proletarischer Lebensstile zu pflegen.

Vom solidarischen zum liberalen Emanzipationsbegriff

Nun haben deutsche Universitäten weder die öffentliche Wirkung von US-Colleges, noch erreicht bei uns die soziale Kluft zwischen akademischer und nichtakademischer Bevölkerung amerikanische Ausmaße. Zudem sind Kampagnen gegen den von Männer- und Frauentoiletten ausgehenden Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit und ähnliche Aktionen bislang eher Episoden geblieben. Dennoch zeigen sich ernst zu nehmende Parallelen in den Entwicklungen diesseits und jenseits des Atlantiks. Auch in Europa kam es während der vergangenen Jahrzehnte zu bedeutsamen Verschiebungen im Emanzipationsbegriff, den Fortschrittsvorstellungen und dem Politikverständnis der Linken. Emanzipation und sozialer Fortschritt wird mittlerweile weitgehend identifiziert mit der Durchsetzung von Aufstiegschancen für Frauen und Minderheiten, weniger jedoch mit dem Abbau von Hierarchien und extremen Ungleichverteilungen von Einkommen und Vermögen. Schlaglichtartig beleuchtet wird diese Veränderung von der gefeierten Durchsetzung einer gesetzlichen Frauenquote in den Aufsichtsräten großer deutscher Aktiengesellschaften. Wenn sich politische Radikalität daran festmacht, ob diese Quote 30 oder 50 % betragen soll, bedient sie die Karrierechancen einer kleinen Elite, geht aber an den Bedürfnissen der großen Mehrheit der Frauen vorbei. Eine derartige meritokratische Umdefinition des Emanzipationsbegriffs, mit der es um Aufstiegschancen für Repräsentant/innen bislang benachteiligter Gruppen, aber nicht mehr um Gleichheit und Solidarität geht, versteht die amerikanische Feministin Nancy Fraser als Teil des »progressiven Neoliberalismus«, zu dem sich die Bewegungen von Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und sexuellen Minderheiten einerseits und die Kapitalfraktionen der symbolischen und dienstleistungsbasierten Wirtschaftssektoren (Wall Street, Silicon Valley, Medien- und Kulturindustrie) andererseits zusammengefunden hätten. Richtig ist daran zumindest, dass sich die kulturellen Werte des globalisierten Kapitalismus mit denen der genannten Bewegungen erheblich überschneiden. Kosmopolitismus, Antirassismus, individuelle Selbstoptimierung und jugendlicher Hedonismus lassen sich wirkungsvoll zur Legitimation der von den Finanzmärkten und den Megakonzernen der Digitalisierung vorangetriebenen Vermarktlichungs- und Entgrenzungsprozesse in Anspruch nehmen. Tatsächlich haben es die New Democrats der Clintons, Tony Blairs New Labour und zeitweise auch die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder gut verstanden, den Abbau nationalstaatlich organisierter Sozialsysteme nicht nur als Anpassung an ökonomische Notwendigkeiten zu rechtfertigen, sondern zugleich mit einem fortschrittlichen, den Muff nationaler Grenzen und kleingeistiger Reglementierungen hinter sich lassenden Image zu versehen. Obwohl diese Politik der Öffnung von Waren-, Kapital- und Arbeitsmärkten in fast allen westlichen Industrieländern zu höherer sozialer Ungleichheit und zu einer absoluten Verschlechterung des Lebensstandards der unteren Einkommensgruppen geführt hat, konnte sie ihr prinzipiell progressives Image bewahren.

Politikwissenschaftler sprechen in Bezug auf diese Konstellation von einer Ablösung der in westlichen Demokratien traditionell dominanten wirtschaftspolitischen durch eine kulturelle Konfliktlinie. An die Stelle des Konflikts zwischen Staat und Markt sei der zwischen kosmopolitischen und gemeinschaftsbezogenen Einstellungen getreten. Die deutschen Feuilletons der letzten Jahre sind voll von Essays, die diese Konfliktlinie auf den Gegensatz zwischen Modernisierungsgewinnern und Modernisierungsverlierern beziehen und dabei argumentieren, das kulturelle Unbehagen der Modernisierungsverlierer reflektiere deren Unfähigkeit, sich den gestiegenen beruflichen und psychischen Anforderungen einer globalisierten Welt anzupassen. Während Kosmopoliten sowohl in der individualisierten beruflichen Konkurrenz als auch der wachsenden Vielfalt von Lebensweisen und Kulturen Möglichkeiten der Selbstentfaltung sähen, bedürften weniger flexible und »ich-starke« Menschen einer vermeintlich objektiven Vergewisserung in Herkunft, Tradition und vorgestellter Gemeinschaft. Demnach geht es dann weniger um den Gegensatz zwischen wirtschaftlichen Gewinnern und Verlierern, als vielmehr zwischen zwei Charaktertypen: denjenigen, die aufgrund ihrer Bildung und Psyche die Chancen einer unübersichtlichen, dynamisierten Welt zu nutzen vermögen und denjenigen, die aufgrund ihrer mangelhaften subjektiven Ausstattung mit den Anforderungen der modernen Gesellschaft nicht Schritt halten können und sich in irrationale Ängste, Ressentiments und entlastende Vereinfachungen flüchten. Die letztgenannte Gruppe wird dann entweder zum Objekt pädagogischer Bemühungen (und sieht sich damit ein weiteres Mal abgewertet) oder aber gleich offen diffamiert und ausgegrenzt. Letzteres etwa in Hillary Clintons berühmt-berüchtigter Bezeichnung der Trump-Wähler als deplorables (Erbärmliche).

Die unterstellte kulturelle Konfliktlinie zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen wird durch Meinungsumfragen bestätigt. Ihre Erklärungsschwäche liegt jedoch in einer unzureichenden Reflexion der kosmopolitischen, diversitätsbejahenden Seite des Gegensatzes. Wer die sozialpsychologischen Aspekte der Verteidigung traditioneller Lebensweisen und nationalstaatlicher Grenzen durchleuchtet, sollte dasselbe auch für die Gegenseite tun. Hier darf vermutet werden, dass das Eintreten für die Rechte von Frauen, kulturellen und sexuellen Minderheiten nicht nur zum Wohl der benachteiligten Gruppen erfolgt. Das Bekenntnis zu einem kulturellen, differenzbejahenden Liberalismus und seinen Werten ist längst zu einer der wichtigsten Markierungen für die Zugehörigkeit zur neuen, durch Bildung geprägten Mittelschicht und ihrem Lebensstil geworden. Insofern steht die moralisierte Debatte um Minderheiten, Grenzen und Zuwanderung für eine kulturelle Konfliktlinie, hinter der sich Status- und Verteilungskonflikte verbergen. Die gesellschaftlichen Positionen dieser akademischen Mittelschicht beruhen vor allem auf ihrem kulturellen Kapital. Deshalb ist sie mehr als die alte, durch Eigentum oder institutionalisierte Hierarchien definierte Mittelschicht auf ständige Selbstvergewisserung durch die symbolische Abgrenzung von Anderen angewiesen. Die Moralisierung der Debatten um Minderheiten und die Fixierung auf eine politisch korrekte Sprache dienen dabei auch der Selbstaufwertung durch Entwertung der »Abgehängten«, der »bornierten Provinzler« und »konservativen Kleinbürger«. Die Konfliktlinie zwischen kosmopolitischen und gemeinschaftsbezogenen Milieus muss deshalb als »Kulturalisierung von Ungleichheit« (Andreas Reckwitz) verstanden werden. Der kulturelle Liberalismus, der sich in den 60er und 70er Jahren noch primär gegen traditionell legitimierte Autoritäten und Hierarchien wandte, richtet sich heute nach »unten« und ist damit selbst zu einer Legitimationsquelle sozialer Ungleichheit geworden. Darin liegt ein Hauptgrund der Schwierigkeiten linker Parteien, das jahrzehntelang erfolgreiche Bündnis zwischen kulturellen und sozialen Linken aufrecht zu erhalten. Solange große Teile der Bevölkerung ihre Lebensweise durch die in linken Parteien tonangebend gewordene akademische Mittelschicht abgewertet sehen, werden sie durch einzelne sozialpolitische Forderungen kaum als Wähler/innen zurückzugewinnen sein.

Überbietungsdiskurse oder politische Vermittlung

Diese Funktion der sozialen Abgrenzung begünstigt zudem das Phänomen der Überbietungsdiskurse im Namen benachteiligter Minderheiten. Aus der Verteidigung des Asylrechts wird etwa die Forderung nach einem »Bleiberecht für alle«. Oder die gerichtliche Entscheidung, neben »männlich« oder »weiblich« auch »divers« in den Pass eintragen lassen zu können, wird überboten durch die Forderung, überhaupt auf die Geschlechtsbezeichnungen »Herr« und »Frau« zu verzichten. Wer dieser Überbietungslogik widerspricht, läuft Gefahr, seinerseits als Gegner von Diversität und Offenheit ausgegrenzt zu werden. Identitätspolitik im Namen benachteiligter Minderheiten erweist sich damit zugleich als Identitätspolitik der liberalen, kosmopolitisch orientierten Mittelschicht.

Diese Beispiele verweisen auf ein weiteres Problem einer Politik für ethnisch, kulturell oder sexuell definierte Gruppen, nämlich das der politischen Vermittlung. Damit ist hier nicht eine geschickte Kommunikationsstrategie gemeint, sondern die für repräsentative Demokratien konstitutive Vermittlung von Partikularinteressen auf eine Version des Allgemeinwohls, für die um Mehrheiten geworben werden kann. In der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 50er und 60er Jahre findet eine solche Vermittlung bereits Ausdruck in ihrer Selbstbezeichnung, im positiven Bezug auf die gemeinsamen Bürgerrechte und deren uneingeschränkte Nutzung durch alle. Das ist bei anderen Bewegungen nicht immer der Fall. Sie wenden sich gegen einzelne Diskriminierungen und Missstände, und das zu Recht, ihr positiver Bezug bleibt jedoch häufig auf die Aufwertung der eigenen Gruppe beschränkt. Deutlich wird diese Schwierigkeit am Symbol des Regenbogens, das verschiedenste Bewegungen zusammenführen soll, aber eben doch nichts weiter ist, als eine Aneinanderreihung von Farben. Eine allgemeine, auch traditioneller orientierte Bevölkerungsgruppen ansprechende Perspektive entsteht so nicht.

Vor diesem Hintergrund ist es durchaus plausibel, dem kulturellen, differenziellen Liberalismus analog zum wirtschaftspolitischen Liberalismus eine Tendenz zur Entpolitisierung vorzuwerfen. Während im einen Fall die Logik des Marktes an die Stelle politischer Alternativen tritt, werden im anderen Fall Werte wie kulturelle und sexuelle Diversität oder unbegrenzte individuelle Mobilität, durch Moralisierung dem Bereich legitimer politischer Auseinandersetzung entzogen. Selbstverständlich gibt es Grundrechte, die nicht zur Disposition politischer Mehrheiten gestellt werden dürfen. Nicht jeder Anspruch auf Anerkennung und Förderung gesellschaftlicher Gruppen gehört jedoch dazu. Demokratische Politik lebt von der Repräsentation legitimer gesellschaftspolitischer Alternativen. Das bezieht sich auch auf die mehr oder weniger liberale Regelung von Zuwanderung, den wirtschafts- und sozialpolitischen Stellenwert des Nationalstaates und eine angemessene Gleichstellungspolitik. Parteien, die im Interesse unterer Einkommensgruppen agieren wollen, werden nicht umhin können, auf deren soziale Schutzbedürfnisse und kulturellen Werte einzugehen. Das wird ohne kritische Reflexion des liberalen Kosmopolitismus und seiner soziale Ungleichheiten legitimierenden Kehrseite nicht zu machen sein. In anderen Worten: Linke Politik braucht den Mut zur Kritik der in Überbietungsdiskursen gefangenen Identitätspolitik, und sie benötigt eine Neubestimmung ihres Verhältnisses zur Solidargemeinschaft des demokratischen Nationalstaates.

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