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Offene Erfolgsaussicht des Wagenknecht-Projektes Links-konservativ

2018 argumentierte die damalige Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht im Interview mit dem Deutschlandfunk, dass sich »viele Probleme (…) auch durch die Flüchtlingskrise verschärft« hätten. Zu dieser Zeit überwogen in ihrer eigenen Partei, vor allem bei den Themen Arbeitsmigration und Flüchtlingsaufnahme, im Gegensatz dazu die Stimmen für eine Öffnung. Über viele Jahre konnte man danach dem öffentlichen Zerfleischen der Linkspartei zusehen – Ende 2023 wurde nun die Bundestagsfraktion aufgelöst.

Das ist ein einschneidendes Ereignis für die Partei, aber auch für die Bundesrepublik eine historische Besonderheit; bislang löste sich hierzulande noch nie eine Fraktion mitten in der Legislaturperiode selbst auf. Der Zerfall hat weitreichende Konsequenzen für Die Linke, denn mit dem Verlust ihres Fraktionsstatus' verlor die Partei wichtige Ressourcen und Rechte im Parlament. Vielleicht noch wichtiger ist allerdings, wie sich das abgespaltene Konkurrenzprojekt Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) nun entwickeln wird.

Schon vor der offiziellen Vorstellung des BSW am 8. Januar 2024 waren Wagenknechts programmatische Positionen bekannt. Das Bündnis orientiert sich heute weitgehend an ihren Vorstellungen. Das ist nicht überraschend – arbeitet Wagenknecht doch seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, an der medialen Verbreitung ihrer eigenen Positionierung, im Übrigen immer schon unabhängig von ihrer jetzt ehemaligen Partei. Das führte dazu, dass viele Menschen in Deutschland mehr oder weniger wissen, wofür Sahra Wagenknecht steht.

Obwohl das nach einem einfachen Prozess klingt – Politiker/innen und Parteien kommunizieren schließlich immer ihre politischen Präferenzen – ist das weitaus ressourcenaufwändiger als man vermuten würde. Gerade neue Parteien benötigen viel Kraft und Zeit um einen sogenannten »Information Short-Cut« (also eine Informationsabkürzung) herzustellen. Sahra Wagenknecht ist das, obwohl die Partei erst ein paar Wochen alt ist, bereits durch jahrelange Vorarbeit gelungen. Hinter BSW steht die Chefin Sahra Wagenknecht, das wurde bereits Ende 2023 zur Gründung des Vereins, nicht zuletzt durch die Namensgebung, klar kommuniziert.

»Working Class Authoritarianism«

Wagenknechts Kombination aus traditionell linken wirtschaftlichen Präferenzen und kulturell eher konservativen gesellschaftlichen Positionen ist eine Seltenheit, auch im europäischen Ausland, obwohl es offenbar eine Nachfrage für diese Zusammensetzung gibt. Menschen mit diesen Präferenzen haben zum Beispiel die Vorstellung, dass Ressourcen im Land gerechter verteilt werden sollen, sie möchten aber etwa auch, dass Umweltschutz weniger staatlich gefördert wird, aus Angst, dass dies auf Kosten der Ärmeren im Land vonstatten geht.

Schichtenübergreifende Ideologiekombination.

Die Politikwissenschaft erforscht dieses Phänomen seit Langem; 1959 identifizierte der Politologe Seymour Martin Lipset diese Zusammensetzung als »Working Class Authoritarianism«. In den letzten Jahrzehnten versteht man linkskonservative Präferenzen allerdings nicht mehr ausschließlich als Phänomen der Arbeiterklasse, sondern findet diese Ideologiekombination schichtenübergreifend. Allerdings fanden linkskonservative Wähler/innen keine Partei im deutschen Parteiensystem, die sie komplett repräsentieren.

Die Politikwissenschaftlerin Zoe Lefkofridi hat in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftler/innen 2014 gezeigt, dass sich Menschen mit linkskonservativen Präferenzen zwischen linksliberalen und rechtskonservativen Parteien entscheiden müssen – eine Entscheidung, die darauf basiert, welche Themen (die wirtschaftlichen oder die soziokulturellen) der Person wichtiger sind. In der Politikwissenschaft nennt man dies »left authoritarian supply gap« (linksautoritäre Angebotslücke), obwohl autoritär hier ausschließlich auf den Gegensatz zu progressiv hinweist und nicht notwendig auf antidemokratische Werte. Sven Hillen und Nils Steiner zeigten 2019, dass diese Angebotslücke bei linkskonservativen Bürger/innen oft zu Unzufriedenheit und geringerem Vertrauen ins politische System führt.

»Populistisch-einfache Antworten auf komplexe Fragen.«

Diese Dynamik könnte für Wagenknecht von Vorteil sein. Sie möchte diese Angebotslücke in der deutschen Parteienlandschaft mit linker Wirtschaftspolitik und angeblich konservativen Positionen wie Migrationsskepsis schließen. Gemeinsam mit Constantin Wurthmann und Jan-Philip Thomeczek habe ich 2023 die Neigung untersucht, für eine, damals noch potenzielle, Wagenknecht-Partei zu stimmen. Unter anderem wurde deutlich, dass diese Neigung steigt, wenn Menschen unzufriedener mit der Demokratie in Deutschland sind.

Das wiederum unterstreicht, wie wichtig der Kontext des Jahres 2024 für Wagenknecht ist. Das Stimmungsbild zeigt mehr als zwei Jahre nach Unterzeichnung des Koalitionsvertrages eine große Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung mit der Bundesregierung. Sahra Wagenknecht und ihre oft populistisch-einfachen Antworten auf die komplexen Fragen unserer Zeit könnten angesichts dieser äußeren Umstände eine wichtige Rolle spielen.

Die erste Probe wird hierfür die Europawahl im Juni 2024 werden. Obwohl das BSW dem Anschein nach eine Top-Down-Organisation wird, also eine hierarchische Struktur aufweist, wird Wagenknecht selbst nicht auf der Europawahlliste stehen. Welche Rolle dies für sie und die Performance ihrer Partei spielen wird, muss man abwarten. Die Europawahl ist besonders interessant für diese neue Partei, da sie im Gegensatz zu innerdeutschen Wahlen wie Landtags- oder Bundestagswahlen geringere bürokratische und logistische Anforderungen stellt. Bei der Europawahl gibt es darüber hinaus auch keine Fünfprozenthürde – ein Vorteil vor allem für kleine Parteien. Diese Wahl könnte folglich für die neue Partei ein idealer Einstieg in das Superwahljahr sein.

Nach der Europawahl stehen drei weitere wichtige Wahlen vor der Tür – am 1. September in Sachsen und Thüringen, am 22. September in Brandenburg. Die Wahrscheinlichkeit, für die Wagenknecht-Partei zu stimmen, ist eindeutig in Ostdeutschland größer. Gerade dort sind die Probleme wie prekäre Arbeitsverhältnisse, soziale Ungerechtigkeitserfahrung und Anerkennungsdefizite stark mit kulturellem Konservatismus verknüpft. Von diesem Ost-West-Gefälle konnte zuletzt besonders die im Osten in großen Teilen rechtsextreme AfD profitieren. Allerdings haben die Wahlen in Hessen und Bayern deutlich gezeigt, dass nicht ausschließlich in Ostdeutschland für rechte Parteien gestimmt wird.

Für Wagenknecht könnten die ostdeutschen Landtagswahlen eine wegweisende Bedeutung haben, so denn ihre Partei überhaupt an allen teilnimmt. Nicht nur unsere Studie zeigte, dass dann wohl die AfD den größten Wähler/innenverlust wird verkraften müssen. Gerade die Menschen, die speziell im Osten die AfD wählen, weil sie das Gefühl haben, dass sie keine andere Partei repräsentiert, oder diese aus Protest wählen, könnten in Wagenknecht eine Alternative sehen. Die AfD hat in den letzten zehn Jahren vor allem Menschen mobilisieren können, die sich von Politik und Parteien enttäuscht und im Stich gelassen fühlen. Davon sind mittlerweile viele zu Stammwähler/innen geworden, rechtsextreme Einstellungen haben sich verbreitet und sind wieder sagbar geworden.

Trotzdem gibt es auch viele, die sich nicht heimisch mit dem autoritären Nationalismus oder gar Rechtsextremismus eines Björn Höcke fühlen. Diese migrationsskeptischen und kulturell konservativen Stimmen, durchaus innerhalb des demokratischen Spektrums, könnten bei den Landtagswahlen 2024 statt bei der AfD beim BSW landen. Wagenknecht könnte also eine Option mit konservativer Glaubwürdigkeit sein, allerdings ist die Frage offen, ob ihre Position dafür ausreicht. Die AfD wird stark mit dem Megathema Migration und deren Abwehr identifiziert; in der Politikwissenschaft spricht man davon, dass die Partei das Thema »besitzt«. Es ist keine leichte Herausforderung für Wagenknecht, Menschen davon zu überzeugen, dass das BSW eine bessere Wahl ist als die AfD.

Zukunft der Linkspartei

Es bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen die Abspaltung für die Linkspartei haben wird. Es gab auch Menschen, die diese Partei eigentlich wählen wollten, dies in der Vergangenheit aber dann nicht getan haben, weil sie etwa beim Thema Migration oder hinsichtlich der LGBTI*-Rechte nicht wussten, ob das Kreuzchen am Ende dem skeptischen Wagenknecht-Lager oder der kulturprogressiven Bartsch-und-Co-Sektion zugute kommen würde. Durch die Abspaltung des Wagenknecht-Lagers ist dieser Konflikt nun verschwunden.

Auf der Suche nach einer neuen Daseinsberechtigung.

Kurzfristig ist diese Trennung, gerade durch den Verlust des Fraktionsstatus' schmerzhaft. Langfristig muss die Linke nun eine neue Daseinsberechtigung begründen. Die Ernennung der Aktivistin Carola Rackete für die Europawahl zeigt dafür einen möglichen Ansatz: dass sich die Linkspartei in Zukunft als linksprogressive Bewegungspartei verorten könnte. Zudem ist noch unklar, ob die Unzufriedenheit der Wählerinnen und Wähler über die Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP weiter steigt, und wem diese letztlich zugutekommen wird.

Das BSW steht vor vielen Herausforderungen, vor allem logistischen und strategischen. Allerdings hat die Partei auch die Möglichkeit eine Repräsentationslücke zu füllen und damit die deutsche Parteienlandschaft zu verändern. Erfolge lassen sich allerdings nicht allein an Stimmengewinnen und Koalitionsmöglichkeiten messen. Das BSW könnte auch auf andere Art Einfluss auf die politische Lage nehmen, ohne jemals Teil einer Regierung zu werden. Hier lassen sich unterschiedliche Motivationen (Coalition und Blackmail Potentials, Koalitions- oder Erpressungspotentiale) unterscheiden. Eine Partei kann eben auch indirekt die Positionen von anderen Parteien verändern und den Diskurs beeinflussen. Das beste Beispiel dafür ist die AfD, die zwar an keiner Regierung beteiligt ist, aber den Diskurs in der deutschen Politik wesentlich verändert hat. Das Jahr 2024 wird entscheidend dafür sein, ob Wagenknecht mit ihrem neuen Projekt Erfolg haben wird; die Umstände sprechen zunächst einmal für sie.

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