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Der Ausgang der französischen Parlamentswahlen als gesamteuropäisches Ereignis Links statt rechts

Nach einer Zeit der politischen Undurchsichtigkeit gerät Europa erneut in eine harte Auseinandersetzung von rechten und linken politischen Gesellschaftsprojekten. Die Wahl des Europäischen Parlaments Anfang Juni 2024 gab den Ton an. In Italien, in Deutschland, vor allem aber in Frankreich erzielten rechtsex­treme Parteien Rekordgewinne. Mit 31,4 Prozent der Stimmen und 30 Abgeordneten stellt der von Marine Le Pen geführte Rassemblement National (RN) nun die stärkste französische Fraktion im Europaparlament. Emmanuel Macrons Bündnis Ensemble pour la République (ENS) verbuchte herbe Verluste und landete bei 14,6 Prozent.

»Ein erdrutschartiger Sieg des Rassemblement schien eine ausgemachte Sache zu sein.«

Da sich bedeutende Teile der Wählerschaft nicht sonderlich für Europawahlen mobilisieren lassen, werden diese meist als Stimmungstest ohne besondere Bedeutung für die nationale Politik eingestuft. Diesmal jedoch nicht. Wenigstens war dies Macrons Einschätzung. Er entschied sich, dem Ratschlag seines engsten Beraterkreises zu folgen, ohne die Gremien seiner Partei und selbst den Premierminister Gabriel Attal miteinzubeziehen. Noch am Abend der Europawahl rief er vorgezogene Parlamentswahlen aus, die am 30. Juni im ersten und am 7. Juli im zweiten Wahlgang stattfinden sollten – ein Vorrecht, das die französische Verfassung dem Präsidenten gibt. Die consternation war allgegenwärtig. Vor allem in Macrons Lager. Denn vielen Abgeordneten stand der Verlust ihrer Mandate vor Augen. Die Wahlkampagne würde nur knapp drei Wochen dauern. So schien ein erdrutschartiger Sieg des RN eine ausgemachte Sache zu sein.

Anschließend haben Kommentatoren sehr viel über die Gründe von Macrons Entscheidung spekuliert. Es handele sich um »politischen Narzissmus«, um den verzweifelten Versuch, sich selbst, um aus den miserablen Umfragewerten herauszukommen, als die letzte Bastion gegen die faschistische Machtergreifung zu stilisieren. Doch hinter der irrationalen Fassade steckte ein zynisches Kalkül, denn die französische Linke besteht zurzeit aus vier größeren politischen Parteien: die Sozialistische Partei (PS), die Ökologisten (EELV), die Kommunistische Partei (PCF) und die linkspopulistische France Insoumise (LFI), die seit 2022 auch die stärkste linke Fraktion im Parlament stellt.

Sie waren bei der Parlamentswahl 2022 mit dem Kartell der Nouvelle Union populaire écologique et sociale (NUPES) angetreten und hatten 31,6 Prozent der Stimmen erzielt. Aufgrund ständiger Streitigkeiten fiel die Koalition jedoch bald danach wieder auseinander. Getrennt hätten die linken Parteien keine Konkurrenz dargestellt. Alle Gegner des rechtsgerichteten RN hätten notgedrungen für die Macron-Koalition stimmen müssen. Bis zum Termin für das Einreichen der Wahllisten gab es kaum Zeit für Verhandlungen. Macrons Pokerblatt hätte aufgehen können.

Die Linke vereinigt sich

Die dramatische Zuspitzung, um die Machtergreifung des RN zu vereiteln, brachte jedoch eine tief verwurzelte Eigenschaft der linken politischen Kultur Frankreichs zum Vorschein: Im Angesicht der faschistischen Gefahr vereinigt man sich! So konnte sich das historische Gedächtnis auf die Erfahrung des Front Populaire der 30er Jahre berufen, der den rhetorischen politischen Rahmen bot, um die Parteien der Linken erneut in einer Koalition zu vereinen.

»Der Druck aus dem ›linken Volk‹ löste eine außerordentliche politische Verhandlungsleistung aus.«

Dieser Druck aus dem »linken Volk« löste eine außerordentliche politische Verhandlungsleistung aus, der es innerhalb von Stunden gelang, eine Koalition der vier Parteien zu schmieden und sich sogar über die Quoten von Abgeordneten zu einigen, die jeder Partei zustanden. Drei Tage später stand Le Nouveau Front Populaire (NFP) und konnte rechtzeitig in allen Wahlbezirken seine Wahllisten einreichen. Natürlich war nicht alles eitel Sonnenschein. Spannungen gab es innerhalb vonLFI, die sich weigerte einige ihrer Abgeordneten wieder zu nominieren. Für Unverständnis sorgte auch die erneute Kandidatur des ehemaligen sozialistischen Präsidenten François Hollande, den viele für das Debakel der PS im Jahr 2017 verantwortlich machen.

So kam es zu einem sehr kurzen Wahlkampf und zum ersten Wahlgang am 30. Juni. Der rechte RN und seine Alliierten konnten bereits 39, sowie der linke NFP 32 und Macrons ENS 2 Abgeordnete in das Parlament wählen, die laut Wahlgesetz jeweils eine qualifizierte absolute Mehrheit in ihrem Wahlkreis erhalten hatten. Im Prozentsatz erzielte der RNzusammen mit den abtrünnigen gaullistischen Abgeordneten, die sich kurzfristig auf seine Seite geschlagen hatten, 34 Prozent, sowie der linke NFP 28,1 Prozent und Macrons Koalition 20,3 Prozent der Stimmen. Alle anderen von insgesamt 577 Abgeordneten der Nationalversammlung sollten im zweiten Wahlgang gewählt werden.

Nun besteht die Besonderheit des französischen Mehrheitswahlrechts darin, dass im zweiten Wahlgang jeweils die beiden Erstplatzierten sowie Kandidaten noch einmal antreten können, für die mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten in einem Wahlbezirk stimmten. Die Vorhersage der Meinungsforscher war dementsprechend horrend: Gemessen am Erfolg im ersten Wahlgang könnte der RN zusammen mit seinen Alliierten der letzten Stunde zwischen 230 und 280 Sitze bekommen. Dies wäre einer absoluten Mehrheit von 289 Sitzen nahegekommen. Der NFP könne sich 125 bis 165, sowie der ENS 70 bis 100 Sitze versprechen. Macrons Pokerblatt zog nicht.

Fähigkeit zur politischen Initiative der französischen Linken

Am Wahlabend des 30. Juni streute Jordan Bardella, der junge Ministerpräsidentkandidat des RN, seine giftige Botschaft und rief alle »republikanischen Parteien« zu einer Allianz gegen die Gefahr auf, die von der linkspopulistischen LFI samt ihrer Alliierten für die Demokratie ausgehen würde. In der Hoffnung, dass viele ihrer Brieftasche folgend den Schritt nach rechts vollzögen, zielte die Attacke vor allem auf das Wahlprogramm des NFP, das sowohl höhere Steuern für Reiche als auch eine inflationsbedingte Erhöhung des Mindestlohns vorsah. Damit sollte ein Rechts-Mitte-Bündnis nach italienischem Vorbild aus der Taufe gehoben werden, das 2024 Bardella zum Ministerpräsidenten und 2027 eine am Abend des 30. Juni strahlende Marine Le Pen zur Staatpräsidentin gekürt hätte. Mit der Notlage des zweiten Wahlgangs konfrontiert, zeigte die Fähigkeit zur politischen Initiative der französischen Linke jedoch zum zweiten Mal Wirkung. Der NFP handelte schnell, einig und entschlossen. Ohne auf die zögernden Gaullisten und Macronisten zu warten, zogen die linken Parteien insgesamt 125 Kandidatinnen und Kandidaten vom zweiten Wahlgang zurück.

»Frankreichs politische Klasse hat bewiesen, dass sie in der Lage ist, eine antifaschistische rote Linie zu ziehen.«

Dieser Schritt führte zu einem Nachahmungseffekt, sodass am Abend des 2. Juli 215 Verzichte des Front Républicain gegen die Machtergreifung von Le Pens RN zu verbuchen waren und davon 80 aus dem Macron-Lager kamen. Im Gegensatz zu 2022, als die Macronisten dies nicht taten, hat somit Frankreichs politische Klasse bewiesen, dass sie in der Lage ist, eine antifaschistische rote Linie zu ziehen. Voraussetzung dafür war die tiefgreifende Selbstdisziplin, zu der die Kandidat/innen der linken Allianz fähig waren. Antifaschismus, Einigkeit und Selbstdisziplin sind somit als die positive Folge des demokratischen Notstands zu verbuchen, in den Macrons verantwortungsloses politisches Pokern das Land geworfen hatte. Auf dieser Basis konnte man sich in der kurzen Woche vom 1. bis zum 7. Juli durchaus engagieren, um das Schlimmste zu vereiteln. Und tatsächlich hat diese Stimmung zu einer beispiellosen Mobilisierung der linken Kräfte in ganz Frankreich geführt.

Am Freitag den 5. Juli ging die Wahlkampagne zu Ende. Während im Hintergrund die Spiele der Fußball-EM liefen, konnte man noch hoffnungsvoll sein, dass dank der Mobilisierung der RN womöglich keine absolute Mehrheit bekommen werde.

Umso mächtiger war die Überraschung als die Medien am Sonntag um 20 Uhr die Ergebnisse ankündigten. Mit 180 Abgeordneten bekam der NFPdie meisten Sitze. Es folgte Macrons Lager mit 163 und nur an dritter Stelle der RN mit 126 Sitzen. Von den Verzichten im zweiten Wahlgang haben am meisten die Vertreter des Macron-Lagers profitiert mit 86 Kandidat/innen, die im Rahmen des Front Républicain gewählt wurden – gegenüber der 57, die dadurch an das linke NFP gingen. Später am Abend trafen sich vor allem junge Leute an der Place de la République und feierten wild den Sieg des NFP. Hier sieht man das Frankreich der Zukunft. Eine multiethnische und multireligiöse Gesellschaft. Klar ist, dass in weiten Flächen Frankreichs, auf dem Land und vor allem im Süden, wo die Satrapen der gaullistischen Partei zum RN gewechselt sind, eine ganz andere Stimmung herrscht.

Sofort wurde der Refrain der linken Spaltung angestimmt.

Nun steht das neue Parlament, in dem der NFP eine relative, aber keine absolute Mehrheit hat. Mainstream-Medien haben sofort den Refrain der linken Spaltung angestimmt, in der Hoffnung, dass der NFP in Scherben liegt. Es hieß: Sie werden sich nie auf einen Premierministernamen einigen. Spannungen innerhalb des NFP gibt es ja. Im Vergleich zu 2022 verdoppelte der PS seine Abgeordnetenzahl auf 66 und steht nun fast gleichauf mit LFI, das über 72 Abgeordnete verfügt. Der Wettbewerb zwischen beiden Parteien verschärft sich. Und trotzdem. Nach zwei Wochen Verhandlungen (eine lange Zeit für Frankreich – eine knappe Zeit aus deutscher Perspektive) einigte sich der NFP auf Lucie Castets, Spitzenbeamtin und Gegnerin von Macrons Rentenreform, als Kandidatin für den Posten der Premierministerin. Dementsprechend irritiert war Macrons Reaktion auf den Vorstoß des NFP. Er versucht nun Zeit zu gewinnen.

Politische Lehren für Europa

Somit stellt sich die Frage, welche politische Lehre für ganz Europa die bewegte Zeit der französischen Parlamentswahl erteilt. Die soziodemografische Zusammensetzung des NFP zeigt, dass LFI mit ihrem von Chantal Mouffe inspiriertem linkspopulistischem Gesellschaftsprojekt eine außerordentliche Fähigkeit an den Tag legt, junge Leute, sowie soziale Unterschichten und Banlieus für linke Politik zu mobilisieren. Die PS findet indes stärker Zuspruch in älteren Kohorten, sowie – dank der Plattform Place publique von Raphaël Glucksmann – bei den vielen Sozialist/innen, die mit Macron 2017 Richtung Mitte gegangen waren und durch seine radikal neoliberale Politik extrem enttäuscht sind. Hinzu kommen die Grünen: ein Sammelbecken der ökosozialistischen Intellektuellen, und die Kommunisten, die noch einige Sektoren der Industriearbeiterschaft zu mobilisieren vermögen. Die erfolgreiche Strategie der Zukunft besteht somit darin, einig zu bleiben und vor allem die interne Kommunikation der Linken so zu intensivieren, dass Macrons Spaltungsversuche weiterhin scheitern.

»Wenn die Linke es nicht schafft, eine sozial verträgliche Politik zu implementieren, steigen die Chancen des RN, die nächste Parlaments- oder Präsidentschaftswahl zu gewinnen.«

Dies setzt jedoch voraus, einen kühlen Kopf zu bewahren und das gemeinsame Ziel zu verfolgen, in Frankreich eine neue politische Kultur aufzubauen, die Kompromisse zwischen ungleichen politischen Positionen schmiedet. So wird es möglich sein, auch einige Sektoren des sehr verunsicherten präsidentiellen Blocks für das sozialdemokratische Gesellschaftsprojekt zu gewinnen, das im Wahlprogramm des NFP geschrieben steht. Die kommenden Monate und Jahre werden sehr schwierig. Wenn die Linke es nicht schafft, eine sozial verträgliche Politik zu implementieren, steigen die Chancen des RN, die nächste Parlaments- oder Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Die Konsequenzen für ganz Europa wären verheerend.

Linkspolitische Besonnenheit und Reflexivität können sich trotzdem durchsetzen. Beide Haltungen sind keine Eigenschaft der Jugend, sondern der Reife. Es ist daher vor allem die Aufgabe des PS, sich politisch in Geduld zu üben und den sozialen, generationellen und kulturellen Forderungen Gehör zu schenken, die durch LFI zum Ausdruck kommen.

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