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Gespräch zwischen Dorian Steinhoff und Tilmann Strasser Literaturvermittlung als Publikumsbedürfnis und Krisensymptom

Die beiden Autoren Dorian Steinhoff und Tilman Strasser leiteten 2017 zusammen die »Kölner Schmiede«, eine Textwerkstatt für jüngere Autorinnen und Autoren. Von Steinhoff erschien zuletzt der Erzählband »Das Licht der Flammen auf unseren Gesichtern«, von Strasser der Roman »Hasenmeister«. Beide sind daneben vorrangig im Bereich der Vermittlung von Literatur tätig. Im Gespräch erläutern sie, warum Literaturvermittlung überhaupt vonnöten ist und welchen Beitrag diese für die Zukunft des Lesens leisten kann.

 

Tilman Strasser: Dorian, auf deiner Website steht, du seist »Literaturvermittler«. Was kann man sich darunter überhaupt vorstellen?

 

Dorian Steinhoff: Ich habe nach einem Wort gesucht, um verschiedene Tätigkeiten auf einen Nenner zu bringen. Zu dem Zeitpunkt habe ich aber schon ein paar Jahre gelehrt, konzipiert, kuratiert, organisiert und moderiert. Das, was Du auch machst – wie nennst Du es denn?

 

Strasser: Genauso, zugegeben. Aber mit einem gewissem Unbehagen. Denn: Warum muss Literatur denn überhaupt vermittelt werden?

 

Steinhoff: Es besteht ein Publikumsbedürfnis, sich mit Literatur, ihren Produzenten und Diskursteilnehmern zu befassen, das über die Beschäftigung mit dem Text beim einsamen Lesen hinausreicht. Ein soziales Bedürfnis nach Begegnung und Austausch. Literaturvermittlung, wie ich sie begreife und praktiziere, formuliert unter anderem Angebote, die geeignet sind, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Insofern erzeugt die Literatur ihre Vermittlung selbst, sie muss nicht vermittelt werden, sie verleitet dazu.

 

Strasser: Und woraus leitest Du dieses Publikumsbedürfnis ab? Ich sehe es nämlich anders: Mir scheint die steigende Zahl an Vermittlungsangeboten eine Reaktion auf sinkende Leserzahlen zu sein. Zugespitzt: Das ganze wabernde Berufsfeld Literaturvermittlung kann auch als Krisensymptom der Literatur verstanden werden.

 

Steinhoff: An dieser Frage enden viele Nervenstränge des gegenwärtigen Literaturbetriebs. Vielleicht müssen wir erstmal die verschiedenen Vermittlungsangebote trennen. Mir scheint, Literaturvermittlung umfasst gemeinhin die Felder Rezeption, Produktion und Reflexion. Ein Angebot zur Literaturrezeption ist zum Beispiel die klassische Lesung: Der Autor kommt, liest vor, beantwortet Fragen. Hier liegt das Publikumsbedürfnis meiner Ansicht nach darin, das Gespräch, das man mit dem Autor beim Lesen geführt hat, fortzusetzen oder bereits vor dem Lesen zu beginnen. Hinzu kommen sicher auch soziale Faktoren, die nichts mit Literatur im eigentlichen Sinn zu tun haben. Lesungen sind prestigeträchtige Erlebnisse, Statussymbole von heute.

 

Strasser: Wir waren vor einiger Zeit zufällig bei derselben prestigeträchtigen Statussymbollesung, in deren Verlauf ich die Organisatorin dabei beobachten konnte, wie sie dem Moderator hektisch Zeichen gab – weil der Autor gerade zehn Minuten am Stück gelesen hatte: Mehr schien der Zuhörerschaft nicht zumutbar. Wie viel Literatur ist da noch in der Vermittlung?

 

Steinhoff: Ich habe das Zeichen der Organisatorin auf der Lesung auch gesehen, aber ich deute es anders. In meinen Augen ging es darum, dem Moderator anzuzeigen, dass er bereits überzogen hatte. Das folgende Gespräch zum Abschluss der Veranstaltung sollte deshalb möglichst kurz gehalten werden. Aber klar, bei solchen Veranstaltungen spielt auch ein kultureller Kapitalwert eine Rolle. Und damit kommen wir in die Nähe deines Gedankens vom Relevanzverlust, falls ich Dich richtig verstehe?

 

Strasser: Die Eventisierung kommt mir tatsächlich wie ein Merkmal des gefühlten Bedeutungsverlustes vor: Es gibt immer mehr Lesungen, aber immer weniger Leute lesen. Und vorbei die Zeiten, als Bücher gesellschaftliche Debatten anstießen, als sie auf SPIEGEL-Covern zerrissen wurden oder Smalltalk-Thema waren. Natürlich kann der Lesungsboom auch Ausdruck einer Transformation von Rezeptionsgewohnheiten sein. Aber ich frage trotzdem: Müsste der Veranstaltungsbereich nicht künftig wieder stärker an den Kern des Mediums, an die Kulturtechnik des Lesens anknüpfen, um den Leserrückgang einzudämmen und eine Schubumkehr einzuleiten?

 

Steinhoff: In diesem Zusammenhang scheint mir wichtig, dass man schon viel früher damit beginnt, den Wert des Lesens zu lehren, und zwar an Orten, die Milieugrenzen noch einigermaßen überwinden: unseren Bildungsinstitutionen. Wir brauchen dringend bessere Angebote zur Leseförderung in Schulen. Für mich gilt leider der Satz: Ich wurde trotz Deutschunterricht zum Leser. Das ist die wirkliche Katastrophe. Ich glaube, dass grundlegende Problem all unserer Beobachtungen ist dieses: In Büchern stehen Probleme, für Lösungen gibt es Apps. Wir leben in technokratischen Zeiten, die Leute interessieren sich für Lösungen, nicht für Probleme. Dabei vergessen sie, dass nachhaltige Lösungen nur über eine ausführliche Kenntnis der Probleme führen können. Aber viele Leute haben das Gefühl, sie hätten dafür nicht die Zeit und ich bin mir sicher, dass sie das nicht glücklicher und unsere Welt nicht besser macht. So gesehen, ist das alles ein organisatorisches Problem, und das stimmt mich zuversichtlich.

 

Strasser: Im Gegensatz zur Leseförderung gibt es in den klassischen Bildungsinstitutionen indes immer mehr Schreibförderung. Auch darüber hinaus schreibt die halbe Welt in neuen Ausbildungszweigen, Kursen, Workshops, Seminaren. Aber mir fehlt etwas, das ich den ganzheitlichen Ansatz nennen würde: Schreibförderung im unauflösbaren Verbund mit Leseförderung.

 

Steinhoff: Ich beziehe das jetzt mal auf unsere Romanwerkstatt »Kölner Schmiede« und erinnere mich, wie du einer Teilnehmerin einen ganzen Stoß an jüngeren Veröffentlichungen genannt hast, die ihr Thema behandeln. Ich glaube außerdem, eine solche Werkstatt ist primär eine Hilfestellung zum besseren Verstehen des eigenen Textes. Sie ist autoreflexive Lektürehilfe. Und das sollte in meinen Augen auch so bleiben, denn nichts hilft beim Schreiben mehr. Schreiben lernen, heißt lesen lernen, heißt Distanz zum eigenen Text aufbauen, um ihn nicht mehr als sein Autor zu betrachten, sondern als Leser, um überhaupt in die Position zu kommen, all das erzähltheoretische Wissen anwenden zu können, das man sich aufgeladen hat. Die Perspektiven von anderen helfen dabei. Es ist klar, dass man viel Lesen sollte, wenn man gute Bücher schreiben will.

 

Strasser: Oh, das sehe ich anders: Klar ist das nicht. War es zumindest nicht in vielen Fällen, die mir im Laufe des Studiums und beim Herumtreiben im Literaturbetrieb begegnet sind. Im Gegenteil scheint mir das Schreiben oft mit einer gewissen Hybris angegangen zu werden: Man macht ohnehin etwas ganz Neues, da braucht man sich auch nicht mit dem überwältigenden Angebot an bisher Dagewesenem herumzuschlagen. Zu einem gewissen Teil ist diese Hybris auch nötig. Gelingende Literaturvermittlung in Bezug auf die Produktion definiert sich deshalb für mich genau so: Den unschätzbaren Wert des intensiven Lesens vermitteln, ohne die Hybrisflamme ganz auszublasen.

 

Steinhoff: Da werden wir uns nicht ganz einig werden, fürchte ich. Aber um wieder auf deinen Gedanken von der Literaturveranstaltung als Förderinstrument für die Kulturtechnik des Lesens zurückzukommen: Ich gebe dir recht, die ganze Branche muss in der aktuellen Situation über neue Strategien der Leseförderung nachdenken. Es gibt aber auch schon viel. Es soll allein in Deutschland etwa 30.000 Lesekreise geben. Eine weitere Institutionalisierung solcher Angebote, mehr spannende Formate, bei denen Leute gemeinsam lesen und über Bücher sprechen, mehr Material, das Verlage für den Diskurs im Privaten zur Verfügung stellen, alles, was diesen Austausch fördert, finde ich gut. Das kann bestimmt etwas sein, auf das zukünftige Konzepte der Literaturvermittlung abzielen.

 

Strasser: Unbedingt. Je länger wir allerdings sprechen, desto mehr hadere ich mit der Trennung von Produktion, Rezeption und Reflexion. Überspitzt würde ich sagen, dass eine gute Literaturvermittlung eben immer eine Mischform sein muss. Unser Ziel bei der »Kölner Schmiede« ist doch im Kern: einen literarischen Multiplikator zu schaffen. Stimmen fördern, die Gehör verdienen. Und ihnen helfen, Gehör zu finden. Wobei sie wiederum den Kontext ihres Schaffens gut kennen müssen. Was sie wiederum zu leidenschaftlichen Leserinnen und Lesern machen sollte (die sie in vielen Fällen schon sind). Weshalb wiederum, sobald ihre Romane erfolgreich erschienen sind, die Literatur insgesamt an Strahlkraft gewinnt.

 

Steinhoff: Eine schöne, sehr romantische Argumentationskette, Til. Aber ich bezweifle, dass ein solches Konzept geeignet ist, die beschriebenen Entwicklungen zurückzudrehen oder die Literatur in eine strahlende Zukunft zu führen.

 

Strasser: Das soll es auch nicht alleine leisten. Aber unbedingt den Anspruch haben, dazu beizutragen.

 

Steinhoff: Mir fällt gerade auf, dass alles, was wir uns für die Zukunft der Literatur wünschen, eigentlich eine Wiederherstellung der Vergangenheit ist. Ich trauere aber keinem SPIEGEL-Titel hinterher, auf dem Bücher zerrissen werden. Was wirklich fehlt, ist die Durchdringung des öffentlichen Diskurses mit literarischen Themen, die die Öffentlichkeit als bedeutungsvoll erachtet, auch, wenn sie (noch) nicht Teil des Mainstreams sind.

 

Strasser: Das knüpft wieder an meinen Anfangsgedanken an: Die Krise der Literatur. Literatur nämlich kommt in ebendieser Zukunft einfach noch viel zu wenig vor, in der digitalen Kommunikation, in alternativen Erzählformaten – und das ist ein Problem, bei dem die Literaturvermittlung nur eingeschränkt helfen kann. Allerdings ist das Buch, ist der Text eben kein Medium, das sich so rasend schnell entwickeln und anpassen will, wie der Zeitgeist es verlangt. Vielleicht geschieht es trotzdem irgendwann, vielleicht bald, vielleicht nie – und so lange sollen Autor/innen mit klassischen Textzuschnitten meinetwegen Stadien füllen.

 

Steinhoff: Ich glaube schon, dass die Literaturvermittlung etwas dazu beitragen kann und muss, um diese Situation zu überwinden. In den Bereichen der Leseförderung genauso wie bei der Transformation der Kommunikationskanäle, auf denen man über Literatur spricht und sie inszeniert. Und parallel gehen wir schön ins Stadion. Nach der Lesung gibt’s Feuerwerk, ein Spektakel für die ganze Familie, ganz fiese Unterhaltung für die niederen Triebe – herrlich.

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