Die Bundestagswahlen sind vorbei, mit desaströsem Ergebnis für die SPD und die Union, mit erträglichen Ergebnissen für DIE GRÜNEN und DIE LINKE und starken Zuwächsen für FDP und AfD. Und nun? Alle Parteien schütteln sich kurz und machen im Prinzip weiter wie bisher. Bei den Wahlgewinnern FDP und AfD ist das zu verstehen: Sie fühlen sich bestätigt, ihre Wahltaktik ist aufgegangen, sie sehen keinen Grund, sich zu verändern. Die Union diskutiert unter dem Druck der CSU, ob man nicht doch ein wenig nationalistischer und ausländerfeindlicher werden sollte, um die eigene rechte Flanke zu sichern. Ob die CSU, die trotz ihrer Avancen nach rechts mehr verloren hat als die CDU, sich mit dieser Idee durchsetzt, hängt wohl vor allem von den wahrscheinlichen künftigen Koalitionspartnern FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ab. DIE LINKE ist dort, wo sich ein Großteil ihrer Mitglieder immer noch am wohlsten fühlt – in der Opposition. Sorgen bereitet es ihr aber, dass die AfD, vor allem im Osten Deutschlands, als Protestpartei deutlich erfolgreicher ist als sie.
Was aber geschieht nun mit der SPD? Sich darüber zu beklagen, dass ihr die guten Taten in der Großen Koalition nicht zugeschrieben wurden, hilft nicht. Der Niedergang der SPD ist ein Prozess, der sich bereits über mehrere Jahrzehnte hinzieht. Er hat schon begonnen, als die SPD in den 70ern die ökologischen Themen verschlief und sich in den 80ern DIE GRÜNEN als Partei gründeten. Er hat sich fortgesetzt, als die Partei unter dem Kanzler Gerhard Schröder mit einer weitgehend neoliberal inspirierten Arbeits- und Sozialpolitik kurzzeitig erfolgreich war und in der Folge massenhaft Wähler und Mitglieder an die Linkspartei verlor. Dieser doppelte Aderlass, das hat sich bei der Bundestagswahl wieder einmal gezeigt, ist mit biederer Pflichterfüllung als Juniorpartner der Union nicht ungeschehen zu machen.
Falsche Grundannahmen
Die SPD muss sich entscheiden, ob sie weitermachen will wie bisher oder ihre Politik grundsätzlich verändern will. Daran ändert auch der überraschende Sieg bei den Landtagswahlen in Niedersachsen nichts. Früher oder später muss die SPD sich zu der Einsicht durchringen, dass ihre Politik in weiten Teilen auf falschen Grundannahmen beruht. Will sie fortfahren, so zu tun, als habe sie seinerzeit die angeblich »soziale« Marktwirtschaft erfunden? Will sie fortfahren, mit der Union darüber zu wetteifern, wer dem »Industriestandort Deutschland« auch in Zukunft die höheren Wachstums- und Exportraten sichert, weil angeblich nur so die Bundesrepublik sozial gerechter werden könne? Will sie sich auch in Zukunft von der Illusion leiten lassen, ständig weiter getriebenes Wachstum, ständig erhöhter Ressourcenverbrauch und immer höher wachsende Abfallberge seien mit ein wenig Umweltkosmetik zu korrigieren?
Ach ja, der Klimawandel. Wir Sozialdemokraten wollen ihn in Grenzen halten, das Zwei-Grad-Ziel ist uns heilig, aber gleichzeitig wollen wir auch die Braunkohleverstromung nicht aufgeben, wollen uns nicht den Unwillen der Automobilindustrie zuziehen, weil wir ahnen, dass der angeblich alternativlose und so unendlich kreative Kapitalismus arbeitslos werdenden Menschen in diesen Industriesektoren von sich aus keine neuen Jobs besorgen wird, und wir uns selbst nicht zutrauen, ausreichend alternative Beschäftigung zu fördern. Wir wollen einer besseren Zukunft den Weg ebnen, tun aber gleichzeitig alles dafür, dass sie nicht möglich wird, indem wir immer weiter auf kapitalistisches Wachstum setzen.
Dabei liegen die triftigen Argumente für eine Abkehr von der dogmatischen Wachstumsfixierung seit Langem auf dem Tisch. Ganze Bibliotheken sind gefüllt mit klugen Analysen und klugen Vorschlägen für eine alternative Organisation unseres Wirtschaftsgebarens. Ich selbst habe in den letzten Jahrzehnten einiges dazu beigetragen. Auch in der Grundwertekommission der SPD haben wir unter dem Titel An den Grenzen des Wachstums – neuer Fortschritt ist möglich bereits 2010 Ideen für nahezu alle Politikbereiche als Denkanstoß für die Partei aufgeschrieben. »Die Abkehr vom Wachstumszwang«, heißt es in diesem Papier, »bedeutet nicht Stillstand und Stagnation. Sie bedeutet, dass wir der gesellschaftlichen Dynamik eine andere Richtung geben: vom Immer-Mehr zum Immer-Besser, von der Maximierung zur Optimierung (…) Die neuen Parameter der Entwicklung und die neue Dynamik der Optimierung nach Maßgabe des Leitbilds der Nachhaltigkeit fordern die kreativen Kräfte der Menschen sogar nachdrücklicher heraus als das alte Fortschrittsmodell.«
Überholter Fortschrittsbegriff
Natürlich ist es für eine Fortschrittspartei wie die SPD schwer, sich von einem über mehr als zwei Jahrhunderte erfolgreich, unter Verdrängung der zunehmend negativen Folgen, praktizierten Fortschrittskonzept zu trennen. Aber jetzt – spätestens jetzt – sind wir an einem Punkt angelangt, wo niemand, der sich sachkundig macht, mehr leugnen kann, dass das, was wir immer noch Fortschritt nennen, alles in allem ein gigantisches Zuschussgeschäft ist. Und ein Weg in die absehbare Katastrophe dazu. Nicht für alle, noch nicht für alle, versteht sich, aber für immer mehr Menschen. Die ökologischen Probleme erweisen sich immer deutlicher auch als soziale Probleme. Und fürs Soziale fühlen sich die Sozis doch seit eh und je besonders zuständig.
Wenn das Steigerungsspiel mitsamt dem berühmten »Fahrstuhleffekt« nicht mehr funktioniert, wird soziale Politik immer mehr zur Umverteilungspolitik. Das bedeutet, dass man dem Konflikt mit den Bessergestellten nicht mehr aus dem Weg gehen kann, wenn man nicht riskieren will, dass die Gesellschaft zerfällt. Von Sozialdemokraten, die unter diesen Umständen an sozialer Gerechtigkeit festhalten wollen, wird mehr Mut verlangt, als sie bisher aufzubringen hatten. Wenn sie die Menschen auf diesem konfliktreichen Weg mitnehmen wollen, müssen sie eine packende Vision eines solidarischen Zusammenlebens in der Gesellschaft entwickeln, müssen sie zeigen, dass die Gesellschaft, die die ökologischen Notwendigkeiten ernst nimmt und von dem besinnungslosen Wachstumskurs Abschied nimmt, dennoch – oder besser: gerade deswegen – gerechter, humaner und freiheitlicher sein kann.
Wagnisse eingehen!
Zugegeben: Ein solcher Kurs ist riskant. Es ist eine offene Frage, ob man als Partei Wahlen gewinnen kann, wenn man den Menschen die Wahrheit zumutet. Niemand kann uns garantieren, dass unsere moderne Gesellschaft, die sich in ihrer derzeitigen Verfasstheit nur im Prozess der fortschreitenden Steigerung von Akkumulation, Innovation und Konsum stabilisieren kann, bei dem Versuch, ihre Grundlagen zu verändern nicht zwangsläufig in einen chaotischen Zustand gerät, der gestaltende Politik am Ende unmöglich macht. Und aus Erfahrung wissen wir, dass in kritischen Situationen politische Kräfte, die die Illusion verbreiten, die Lösung aller Probleme liege im Rückzug aus der komplizierten globalisierten Welt, in der Rückkehr zum angeblich bewährten »Mir san mir«, starken Zulauf bekommen. Ich gebe zu, dass ich eine solche Entwicklung für durchaus möglich halte. Andererseits mag ich mich aber nicht damit abfinden, dass die Wahrheit verleugnet werden muss, wenn man nicht politisch scheitern will, die Wahrheit nämlich, dass der gegenwärtige kapitalistische Fortschrittskurs über kurz oder lang in eine umfassende Katastrophe führen wird.
Als 20 %-Partei, die sie zurzeit ist, sollte die SPD, meine ich, das Wagnis eingehen, ihre Politik auf eine andere Grundlage zu stellen. Und sie sollte die vielen anderen schwächelnden sozialdemokratischen Parteien Europas ermuntern, mit ihr zusammen diesen Weg zu gehen. Sie sollte sich gegen die von wohlmeinenden Beratern geförderte Selbstsuggestion wehren, dass es mit ein wenig Facelifting, mit ein paar cleveren Werbegags und ein paar personellen Veränderungen an der Parteispitze demnächst wieder steil nach oben gehen könne. Die SPD kann auf Dauer nur als Programmpartei erfolgreich sein, sie muss sich, auch wenn das keine schnellen Erfolge verspricht, der schwierigen Zukunftsaufgaben annehmen, sie muss diskutieren, streiten, gängige Annahmen infrage stellen, sie darf sich bei dem Entwurf einer besseren, humaneren Zukunft nicht allein auf das verlassen, was die weltläufigen Gaukler im Silicon Valley und die Werbeabteilungen der großen Konzerne aus durchaus egoistischen Motiven in die Welt setzen.
In den letzten Monaten hat die SPD, nicht zuletzt dank Martin Schulz, viele neue Mitglieder gewonnen, darunter besonders viele junge Leute. Wenn die SPD die neuen Mitglieder nicht verprellen will, muss sie sich öffnen, muss sie die politische Diskussion, die zurzeit im Parlament und in den Medien sträflich vernachlässigt wird, in den eigenen Reihen beleben. Ohne Tabus, ohne Basta-Allüren, streitig und solidarisch. Die vielen jungen Leute, die in den letzten Monaten zu uns fanden, haben sich, das dürfen wir wohl annehmen, auch deswegen für die SPD entschieden, weil mit Martin Schulz nicht nur ein überzeugter, sondern auch ein kompetenter Europäer an der Spitze der Partei steht. Dass er in den Landtagswahlkämpfen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sowie im Bundeswahlkampf, in den Wahlkämpfen also, die die SPD sämtlich verlor, sein europäisches Profil kaum zur Geltung brachte, war ein schwerer Fehler, der sich nicht wiederholen sollte. Denn alle großen Zukunftsthemen, die die SPD anpacken muss, um wieder als große Reformpartei wahrgenommen zu werden, sind zwangsläufig in der europäischen Perspektive zu diskutieren und zu realisieren.
»Die Welt ist aus den Fugen« – diese an ein Hamlet-Zitat angelehnte Formulierung fällt in jeder zweiten Talkshow, in jedem zweiten Zeitungskommentar, in jeder zweiten Politikerrede. In der Tat sind überall auf der Welt die Zeichen des Umbruchs zu erkennen, Angst und Ressentiments nehmen zu. Auch in Europa, auch in Deutschland. In dieser Situation muss die Sozialdemokratie beweisen, dass sie die Zeichen der Zeit verstanden hat. Ein business as usual oder hastige modische Schwenks werden den Niedergang nicht aufhalten können. Zweifellos können sich Sozialdemokraten auch gerade jetzt nicht verweigern, wenn es gilt, pragmatisch das Schlimmste zu verhüten. Aber zugleich müssen sie nun, da sie in der Opposition sind, den Blick weiten, sich zur Zivilgesellschaft hin öffnen, die vielen neuen Ideen, die in der Gesellschaft zirkulieren, endlich zur Kenntnis nehmen. Nur so können sie die Zukunft gewinnen – für sich selbst, für ihre Partei und für Deutschland und Europa.
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