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Über Erfolge und Misserfolge der bisherigen Großen Koalitionen Macht Gewohnheit süchtig?

Zu jeder der drei Großen Koalitionen (1966–1969 mit Kurt Georg Kiesinger, 2005–2009 und 2013–2017 mit Angela Merkel) gibt es eine spezifische Vorgeschichte, jede folgte besonderen politischen Rahmenbedingungen, alle drei waren imprägniert vom jeweiligen vorherrschenden Zeitgeist und jede produzierte unerwartete Nebenfolgen jeweils anderer Art. Alle Faustregeln also, welchen Sinn Große Koalitionen prinzipiell machen oder welche Risiken sie bergen, taugen herzlich wenig.

Ohne Zweifel genießt diese Konstellation, die politische Elefantenhochzeit, hierzulande mehr Sympathien als andere, das gilt für den Wahlherbst 2017 erneut. Aber, sorry: Nach der Großen Koalition Nummer drei kann man nur raten, auf absehbare Zeit einen weiten Bogen um dieses Modell zu machen, auch wenn die Akteure selber hinter diesem gesicherten Zaun, ausgestattet mit einer breiten Mehrheit, insgeheim vermutlich gern weiterregieren würden. Sie wissen: Den Sehnsüchten nach Politik als einer möglichst lärmfreien Zone, von der man nicht behelligt wird, kommt diese Allianz der Großen wunderbar entgegen.

Hinzu kommt: Keines der drei großen Bündnisse ist in sich gescheitert. Gewohnheit macht süchtig. Aber nach drei Feldversuchen muss man sagen: Zu leicht könnte in Vergessenheit geraten, dass sie wirklich nur die Ausnahme bilden dürfen. Sonst müsste die Bundesrepublik sich bald die Frage gefallen lassen, ob das Regieren mit Dreiviertelmehrheiten, XXL, die Lightversion jenes Bedürfnisses sei, das anderswo zur autoritären und a-demokratischen Variante geführt hat: zu Silvio Berlusconi in Rom, in Warschau zu Jarosław Kaczyński und in Ungarn zu Viktor Orbán.

1966 bis 1969

Lange genug, bis Mitte der 60er Jahre, hat es gebraucht, bevor sich die Republik aus dem obrigkeitlichen Modus der frühen Adenauer-Jahre allmählich emanzipierte. 1965 publizierte Ralf Dahrendorf seinen epochalen Befund über Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, mit seinen zwei Kernthesen von der andauernden sozialen Ungleichheit sowie fehlenden Bereitschaft, sich als »Konfliktdemokratie« zu begreifen. Beides sei überdies eng miteinander verknüpft, lautete die Diagnose. Und selbst dann flüchtete sich das Land noch unter das Dach der ersten Großen Koalition mit Kurt Georg Kiesinger an der Spitze – eine eigentümlich vertrackte Konstellation. Ein Nazi-Mitläufer als Kanzler, an seiner Seite Willy Brandt mit seiner Exil-Biografie als Minderheitsdeutscher, der spürbar unter dieser Kombination litt. Man konnte nicht wissen, ob die Republik sich von ihrem Vergangenheitsballast endgültig befreit und in Richtung »Konfliktdemokratie« à la Dahrendorf steuert, oder ob sie sich in der gemütlichen Großen Koalition häuslich einrichtet und auf Dauer stellt.

Diesem Bündnis haftete fast noch etwas Politisch-Existenzielles an, die (nervöse, unruhige) Bundesrepublik war noch nicht im Reinen mit sich. Ob es sich wirklich um eine »Modernisierungskoalition« handelte, wie gerne behauptet wird, die viel von der folgenden sozialliberalen Koalition (1969–1982) antizipierte, möchte ich bezweifeln. In der Wahlnacht 1969 jedenfalls machten sich die inhärenten Spannungen Luft: Herbert Wehner, der die Ehe mit der CDU eigentlich – zu Recht – als Vehikel zur Anerkennung der Sozialdemokratie auf Augenhöhe betrachtete und sie nun fortsetzen wollte, musste zusehen, wie Brandt ihm – gleichfalls mit Recht – das Steuer aus der Hand nahm. Er traute sich die sozialliberale Koalition zu. Damals jedenfalls, soviel lässt sich sagen, hatte der Juniorpartner SPD von dem Bündnis tatsächlich profitiert. Auf dialektische Weise hatte sich damit die erste Große Koalition immerhin als Schritt auf dem Weg zur Selbstliberalisierung der Republik erwiesen. Die Sozialliberalen (sogar die FDP sprang über ihren Schatten) konnten sich seit dem Spätherbst 1969 daran machen, einen politischen Neuanfang zu wagen, sie konnten sogar die u. a. durch die Notstandsgesetze abgesprengten Sympathisanten der Außerparlamentarischen Opposition aufsammeln.

2005 bis 2009

Vordergründig nahm sich die Bilanz der zweiten Großen Koalition, unter der Regie Angela Merkels mit einem populären und kompetenten Außenminister Frank-Walter Steinmeier an der Seite, gleichfalls nicht schlecht aus. Die Arbeitslosigkeit ging spürbar zurück, der Export florierte, die Wachstumsraten stiegen klar an, die Steuereinnahmen ließen auf einen ausgeglichenen Haushalt hoffen. Von den »drei Kanzlern unter Merkel«, wie damals gespottet wurde, Steinmeier, Steinbrück und Schäuble, stellte die SPD immerhin zwei. Sie schleppte allerdings den Ballast namens »Agenda 2010« mit sich herum. Zudem war es die rot-grüne Koalition, die die Banken dereguliert und die Finanzmärkte liberalisiert hatte. Das Argument setzte sich nie ganz durch, dass ohne diese Antworten auf die Globalisierung die Schröder-Regierung, wie ich meine, nicht bis 2005 überlebt hätte. Der Missmut blieb und überschattete die Große Koalition Nummer zwei, an dem Juniorpartner klebte es wie Pech. Die Geschichte ist ungerecht.

Auf den großen politisch-mentalen Paradigmenwechsel, den niemand antizipiert hatte, das allmähliche Ende der neoliberalen Epoche und die Rückkehr des Staates, reagierte die zweite Große Koalition mit einem entschiedenen Krisenmanagement. Man erlebte eine keynesianische Wende sondergleichen, in der alten Weltordnung eine Sache der Linken. Jetzt war die CDU im Boot. Im Windschatten dieser großen Dramen holten die Christdemokraten eine gesellschaftspolitische Kontroverse über eine zeitgemäßere Ausländer- und Familienpolitik nach, die gemeinhin als »Sozialdemokratisierung« der Union galt. Das verlagerte die Spannungen nach innen, in die Reihen der Christdemokraten. Die Kanzlerin konnte argumentieren (wenn sie überhaupt argumentierte), sie müsse ja auch auf den Juniorpartner Rücksicht nehmen. Die SPD registrierte verblüfft, wie erfolgreich eine Regierungschefin sein kann, wenn sie sich politisch ungreifbar, unsichtbar macht und so gut wie nicht kommuniziert. Holla, es geht auch ohne Legitimation durch Verfahren! Die rot-grünen Diskursparteien reagierten perplex. Die fatalen Nachwirkungen dauern bis heute.

2013 bis 2017

Dass sie ihrer Klientel zu viel zugemutet hätten (wie es im Falle der zweiten Großen Koalition hieß), kann nicht wirklich der Grund dafür sein. Natürlich hat der ohnehin schwache Juniorpartner manches, was er für töricht und falsch hielt (von der Maut bis zur Mütterrente), seufzend geschluckt. Zu den Verschärfungen des Asylgesetzes und den strengeren Auflagen für Migranten und Kriegsflüchtlinge haben die Sozialdemokraten sich – vermutlich ganz gerne – zwingen lassen. Zugleich haben sie zügig allerhand abgearbeitet, was auf ihrer Prioritätenliste obenan stand, voran der Mindestlohn, die Rente mit 63, die Mietpreisbremse. An sozialdemokratischer »Handschrift« in diesem Sinne fehlt es also trotz aller Kompromisse, trotz der Anbiederungen bei der Klientel aller Beteiligten nicht wirklich.

Ohne die Vorgeschichte lassen sich die Großen Koalitionen zwei und drei nicht ganz verstehen. Begonnen hatten dramatische Verschiebungen in der politischen Arena, wie angedeutet, schon weit früher, spätestens mit dem Machtwechsel 1998, dem Ende der Ära Kohl. Gerhard Schröder schien das ungreifbar Neue zu wittern. Wenn das Wünschen geholfen hätte, hätte er wohl damals schon eine Große Koalition dem rot-grünen Experiment vorgezogen, schließlich war mit Händen zu greifen, dass der klassische Nationalstaat mit seinen ökonomischen Instrumenten auf die neoliberalen Verhältnisse in der Weltwirtschaft hypnotisiert und antwortlos starrte. Die Folge: Schröder regierte seit 1998, als ob er an der Spitze einer Großen Koalition stünde.

Große Koalitionen ersparen im Notfall komplizierte Legitimationsverfahren selbst bei großen Kurskorrekturen. Die Kanzlerin konnte ihre Basta-Politik betreiben, ohne »Basta« sagen zu müssen (Energiewende, Bundeswehrreform, Grenzöffnung 2015). Die breiten Mehrheiten erleichterten ihr den Regierungsstil vollends, zu dem sie ohnehin neigt. Zugute kommt das ihr – wie sich zeigt –, nicht dem Junior.

Die Große Koalition Nummer drei erhält sogar noch bessere Noten als die Nummer zwei, weil sie als Stabilitätsanker in turbulenten internationalen Krisenjahren gilt. Das ist zur Hauptsache geworden, jenseits der Koalitionsagenda – ohne zu fragen, ob man eher eine sozialdemokratische oder eine christdemokratische Handschrift erkennt.

Für das Hauptgeschäft »Krise« ist die Kanzlerin zuständig, sie muss nur die Schürze aufhalten und kann Sterntaler sammeln, da kann der Außenminister (Steinmeier, Gabriel) noch so gute Noten bekommen. DIE GRÜNEN und DIE LINKE wiederum mussten eher um Sichtbarkeit kämpfen. Zur wirklichen Opposition avancierte außerhalb des Parlaments die AfD, die die Große Koalition auch noch als Popanz benutzt und dem repräsentativen System insgesamt den Krieg erklären konnte.

Worauf ich hinausmöchte: Die Frage nach der Bilanz geht an der Sache vorbei, weil Große Koalitionen, so allmächtig sie auch wirken, in der Regel langsame Ozeantanker sind und obendrein den Blick auf sich selber verstellen. Sie machen sich intransparent. Die Politik heute ist zweifellos komplexer als 1966, sie spielt sich auf mehr Ebenen ab, ist erklärungsbedürftiger. Die dritte Große Koalition hat das aber, offen gestanden, nicht geschafft. In der Griechenlandkrise beispielsweise war es vor allem Berlin, das in Brüssel einen Austeritätskurs für das hochverschuldete Athen durchsetzte, es war die deutsche Politik, die eine Abkehr von dem solidarischen Europagedanken einleitete und Europa einen »deutschen Weg« aufdrückte, ohne je offen darüber zu sprechen. Sogar jetzt noch kündigt Angela Merkel an (von Martin Schulz mit Recht kritisiert), über das weitere Vorgehen in Sachen Griechenland werde sie erst Auskunft geben und entscheiden, wenn ein Wählermandat vorliege. Die Wähler bekommen die Katze im Sack. Angeblich gilt weiterhin die »Willkommenskultur«, um ein zweites Beispiel zu nennen, aber zugleich schreibt die Union in ihr Programm, ein Fall wie die Grenzöffnung in Ungarn 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Aus dem »System« Große Koalition heraus lassen sich solche Ungereimtheiten offenbar schwerlich enthüllen.

Nein, Pegida und AfD sind nicht wegen der sperrigen Großen Koalition derart gewuchert, obwohl sie sich dafür in Berlin gern bedanken, sondern im Aufstand gegen Europa. Der Zuzug von Migranten und Kriegsflüchtlingen hat nationalkonservative Ressentiments beflügelt, die sich jetzt legitimiert glauben. Die Bundesrepublik schlägt seit geraumer Zeit einen »nationaleren« Kurs ein, ohne dass darüber wirklich verhandelt würde. Ausgerechnet der »Europäer« Wolfgang Schäuble geht dabei voran.

Gerade die aktuell regierende Große Koalition illustriert für mich in besonderem Maße, dass Wille und Kraft abhandenkamen, große Fragen groß zu verhandeln. Damit verstärkt sie noch das Misstrauen in den repräsentativen Parlamentarismus, das ohnehin floriert. Welche Paradoxie: Wohin man auch sieht – die Verhältnisse könnten kaum aufgeladener sein mit Politik –, so viel Desorientierung war selten, aber das Korsett namens Große Koalition erschwert oder verhindert heute die überfällige Rückkehr des »Politischen« generell. Es grenzt an Selbstbetrug, die Augen davor zu verschließen, bloß weil dieser Pakt der Großen wie eine Insel der Stabilität erscheint.

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