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Die Erwartungen des Globalen Südens an die deutsche Zeitenwende Macht im Sinne von Autonomie

»Wie können wir (...) in einer zunehmend multipolaren Welt weiterhin unabhängige Akteure sein?« Diese Frage könnte jedes Staatsoberhaupt eines Landes des Globalen Südens stellen. Dazu gehört auch Argentinien, wo dieser Artikel entstanden ist. Die sogenannte »entscheidende Frage« wurde jedoch von Bundeskanzler Olaf Scholz formuliert, als er im Januar 2023 in der Zeitschrift Foreign Affairs einen Beitrag mit dem Titel »The Global Zeitenwende« veröffentlichte, in dem er seine Idee eines Epochenwandels vertiefte, die er bereits im Februar 2022 nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine formuliert hatte.

Deutschland befasst sich also trotz seiner ganz anderen Geschichte und Stärke mit einer Frage, die auch Argentinien und insgesamt Lateinamerika umtreibt. War es dem zentralen Land in Europa in der Vergangenheit gelungen, seine Versorgung weitgehend sicherzustellen, so wurde diese durch die Unterbrechung der russischen Gaslieferungen 2022 sowie den eingeschränkten Zugang zu den landwirtschaftlichen Erzeugnissen aus zwei Ländern im Krieg infrage gestellt. In der Folge wurden dann aber auch die Beziehungen zu den weniger zuverlässigen Handelspartnern des Landes hinterfragt.

Lateinamerika, eine Region, die mit der Anpassung an unterschiedliche Mächte, insbesondere die USA, oder zumindest dem Erdulden von diesen vertraut ist, muss demgegenüber in dieser Phase einen Zustand relativer Autonomie erreichen, um in Zeiten der fortschreitenden globalen Neuordnung mit den zentralen Ländern weiter Beziehungen zu unterhalten, darf sich dabei aber nicht nur auf diese beschränken.

Die Neuorientierung Deutschlands eröffnet Chancen für beide Seiten.

Argentinien steht heute vor der Situation, dass sein wichtigster Handelspartner in der Europäischen Union gerade dabei ist herauszufinden, wie er die Risiken seiner Beziehungen zu anderen Ländern durch zu starke Abhängigkeiten reduzieren kann, ohne sich von der Welt abzukoppeln. Das eröffnet Chancen, nicht nur für die beiden Nationen, sondern auch für die beiden Blöcke, denen sie angehören.

Die Neuausrichtung Europas hinsichtlich seiner Energieversorgung und die Nahrungsmittelkrise unterstreichen die Notwendigkeit, sichere Lieferketten aufzubauen, womit Lateinamerika für Deutschland, aber auch für die EU insgesamt wichtiger wird. Denn nach den Worten von Scholz »hängt die Sicherheit Europas von der Diversifizierung seiner Zulieferer und seiner Energieversorgung ab«.

Die kommerziellen und politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien – immerhin seit vier Jahrzehnten eine stabile Demokratie und zugleich Produzent von Nahrungsmitteln und Energie – bestehen bereits seit dem 19. Jahrhundert, als beide Länder noch ganz unterschiedlich strukturiert waren. Argentinien ist zudem der drittgrößte Handelspartner Deutschlands in Lateinamerika nach Brasilien und Mexiko.

Im Zentrum steht die Zuverlässigkeit

Seit dem vergangenen Jahr nähern sich die beiden führenden Politiker Argentiniens und Deutschlands, die sich zunächst in Berlin und anschließend 2023 in Buenos Aires trafen, an. Sowohl der Bundeskanzler als auch die Vertreter der Unternehmen und Medien hoben bei diesen Treffen zwischen »Partnern« die Zuverlässigkeit als zentrales Merkmal der Beziehungen hervor.

Der argentinische Präsident Alberto Fernández traf sich mit Scholz 2022 im Rahmen der G7-Tagung in Berlin, an der er als – einziger – Ehrengast aus der Region und amtierender Präsident der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (CELAC) teilnahm.

»Es ist gut zu wissen, dass wir in diesen Zeiten mit Argentinien einen zuverlässigen Partner in Lateinamerika haben«, waren die ersten Worte des Bundeskanzlers bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Fernández in Berlin. Der deutsche Regierungschef ging vor allem auf die Zusammenarbeit in Energiefragen ein und erklärte: »Argentinien hat insbesondere auf dem Gebiet der Erneuerbaren Energien ein enormes Potenzial für die Erzeugung von grünem Wasserstoff, wodurch ein wertvoller Beitrag zum Erreichen der Klimaneutralität geleistet wird«. Fernández stimmte dem zu und ergänzte, dass sein Land die weltweit zweitgrößten Erdgasvorkommen habe, bevor er abschließend feststellte: »Deutschland, das auf eine lange Geschichte von Investitionen in Argentinien zurückblickt, kann sich auf uns verlassen«.

Der Kanzler sprach aber nicht nur das Thema Energie an, sondern auch die Nahrungsmittelfrage: »Es ist zu befürchten, dass Länder, die auf dem Gebiet der Nahrungsmittelsicherheit eine große Rolle spielen, nicht mehr zur Lieferung von Nahrungsmitteln in der Lage sein könnten«.

Als nächster Schritt erfolgte der Besuch des Bundeskanzlers in Buenos Aires im Rahmen einer Reise in die Region, die auch Brasilien und Chile umfasste und die ganz besonders den Versuch verdeutlichte, die Beziehungen zwischen Europa und Lateinamerika vor dem Hintergrund des Epochenwandels, wie er in der russischen Invasion in der Ukraine und im zunehmenden Gewicht Chinas zum Ausdruck kommt, zu überdenken.

»Konturen eines neues Kapitels in den Beziehungen beider Länder.«

Die veränderte Sicht Europas auf Argentinien und die Region Lateinamerika kam auch auf Unternehmerebene zum Ausdruck. »Argentinien kann ein zuverlässiger Partner Deutschlands sein, der im Zuge der Energiewende Gas liefert und langfristig zu einem strategischen Lieferanten von sauberer Energie, von grünem Wasserstoff und seinen Derivaten werden könnte«, erklärte der Präsident der Deutsch-Argentinischen Industrie- und Handelskammer (AHK), Javier Pastorino, und fügte hinzu: »Im neuen globalen geopolitischen Kontext zeichnen sich die Konturen eines neuen Kapitels in den Beziehungen beider Länder ab«.

Argentinien ist sich des Potenzials dieser Beziehung sicherlich bewusst, weiß aber auch, wo einer der Schwachpunkte liegt. Fernández drückte es folgendermaßen aus: Die Umschuldungsverhandlungen mit dem IWF »sind eine notwendige Vorbedingung, damit wir über all das sprechen können, was wir heute ansprechen«.

Ein weiterer kritischer Punkt für Argentinien ist innenpolitischer Natur: die Versuchung des Extraktivismus. Dabei geht es um das bereits bekannte Reprimarisierungsmodell, also die Rückbesinnung auf die Gewinnung und den Export von Rohstoffen. Schon jetzt ist die Wirtschaft von Erzeugnissen mit niedriger Wertschöpfung abhängig. Angesichts des Bedarfs an ausländischen Devisen in einer Zeit hoher Schuldenbelastung würde dadurch das Problem noch einmal größer werden.

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Es ist zu bedenken, dass Deutschland und die EU sich beim Aufbau von Beziehungen mit zuverlässigen Partnern für die Absicherung ihrer Lieferketten der Konkurrenz stellen müssen, die durch die zunehmende Instabilität aufgrund der Spannungen mit China bedingt ist. Dabei haben sie mit der Anbindung ihrer Volkswirtschaften an die asiatische Macht zu kämpfen, die sie zugleich als Systemrivalen einstufen.

Im April bestand der Vertreter der EU für Außenpolitik, Josep Borrell, vor dem Europaparlament auf der Notwendigkeit einer »Diversifizierung« der Zulieferer zur »Reduzierung der Verwundbarkeit« – ein Prozess, der »mehrere Jahre dauern wird« – und bekräftigte, dass es ein Irrtum sei, die Aufmerksamkeit nur auf das Dreieck China-USA-EU zu richten, ohne die Länder des Globalen Südens zu berücksichtigen, da sich die asiatische Macht gerade diesen Ländern zuwende, »um eine Weltordnung aufzubauen, die sich von der westlichen unterscheidet«.

Diversifizierung ohne Abkopplung ist ein Dilemma.

Argentinien und Lateinamerika laufen Gefahr, in eine Auseinandersetzung unter diesen Vorzeichen hineingezogen zu werden, obwohl ihnen diese eher fremd ist. Diversifizierung ohne Abkopplung ist auch ihr Dilemma, zumal die Schulden beim IWF und anderen westlichen Gläubigern zumindest im Fall Argentiniens mit der Verpflichtung verbunden sind, sich zeitweise gegenüber der Macht im Norden des Kontinents zurückzuhalten, während China weiterhin (nach Brasilien) der wichtigste Handelspartner bleibt, mit dem es einerseits das größte Handelsbilanzdefizit erwirtschaftet, zugleich aber Investitionsvorhaben auf mehreren Gebieten verfolgt. Eine Rivalität mit der aufstrebenden Macht steht eher nicht auf der Tagesordnung.

Diese Richtungsentscheidungen geschickt zu meistern, ist eine der wichtigsten Herausforderungen Argentiniens, obwohl sie nicht Bestandteil der Debatten vor den allgemeinen Wahlen im Oktober sind. Hinzu kommt als weiterer entschei­den­der Punkt, dass bei diesem Urnengang Fernández nicht wiedergewählt werden kann, da er nicht kandidiert und die Meinungsumfragen zum jetzigen Zeitpunkt nicht von einem Sieg seiner politischen Kraft ausgehen.

Entscheidender Partner bei der Suche nach einer »dritten Position«

Daneben sollte betont werden, dass nach offiziellen Angaben (März 2023) Deutschland der drittgrößte Gläubiger in der argentinischen Handelsbilanz war und als entscheidender Partner bei der Suche nach einer »dritten Position« gegenüber den beiden konkurrierenden Mächten gilt.

Wenn also Argentinien Deutschland als einen zuverlässigen Partner betrachtet, wäre zu fragen, welche Art von Autonomie oder Unabhängigkeit es in dieser Beziehung zwischen »zuverlässigen Partnern« erwarten kann; ob es dieselbe ist, für die sich Argentinien einsetzt, oder ob sie eher früheren Zeiten ähnelt, von denen Kanzler Scholz sprach: »In der Vergangenheit haben wir uns vorgenommen, die Länder Asiens, Afrikas, der Karibik und Lateinamerikas als gleiche zu behandeln. Doch viel zu häufig entsprachen die Tatsachen nicht unseren Worten. Das muss sich ändern«.

Die argentinischen Spezialisten für internationale Beziehungen Esteban Actis und Nicolás Creus stellen den deutschen Scheideweg, ausgehend von der durch die COVID-19-Pandemie verursachten Krise als ein Dilemma dar, in dessen Mittelpunkt die Idee der »Macht« steht. »Deutschland war gewohnt, Macht als Einfluss zu verstehen (...) Die heutigen schwierigen Zeiten erfordern Neudefinitionen (...), und auf globaler Ebene wird Deutschland angesichts des zunehmenden Drucks der Supermächte USA und China dazu übergehen müssen, Macht im Sinne von Autonomie zu verwirklichen«.

Wenn es tatsächlich zu diesem Wechsel kommt, könnten Argentinien und andere Länder der Region »gesündere« Beziehungen erkunden, vor allem, wenn sie gemeinsam handeln und die innenpolitisch begründeten Pendelbewegungen überwinden, die die Region beeinträchtigen.

Die erneute Beteiligung Brasiliens an Integrationsprozessen wie der CELAC seit dem Beginn der dritten Amtszeit von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, aber auch die neuen Impulse für den Mercosur sind für die Länder des südlichen Südamerika ein Versuch, mit den wichtigsten Wirtschaftsmächten in einen gleichberechtigteren Dialog einzutreten. Das Abkommen zwischen der EU und Mercosur ist ein Beispiel dafür.

Positives Bild von Deutschland

Abschließend soll noch das deutsche Image in Argentinien hervorgehoben werden, das in einem anlässlich des Besuchs von Scholz in Buenos Aires veröffentlichten Artikel in der Zeitschrift Perfil als »ein absolut wesentliches Element bei den Überlegungen zur Wiederbelebung der bilateralen Beziehungen« bezeichnet wurde. Laut einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Zeitschrift Nueva Sociedad in Auftrag gegebenen Umfrage haben die Argentinierinnen und Argentinier ein besseres Bild von Deutschland als von den USA, China und anderen europäischen Ländern.

»Wieviel Vergangenheit verträgt die Gegenwart« war auf der Titelseite einer Ausgabe des Spiegel aus dem Jahr 2022 zu lesen. Die Frage bezog sich auf eine andere Vergangenheit Deutschlands, die in diesen Zeiten des Wandels eine neue Bedeutung erhalten muss: In welchem Umfang ist Deutschland bereit, seine früheren Verbindungen neu zu definieren, um sich einer Zukunft zuzuwenden, die durch horizontalere Beziehungen mit anderen Regionen gekennzeichnet ist?

Sollte sich die Zeitenwende auf Dauer durchsetzen, hat die Vertiefung der Beziehungen mit zuverlässigen Partnern wie Argentinien und Lateinamerika eine Chance.

(Übersetzung aus dem Spanischen: Dieter Schonebohm)

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