Menü

© picture alliance/Ulrich Baumgarten

Der erneute Vorstoß des französischen Präsidenten und die verpasste deutsche Chance Macron – einsamer Kämpfer für Europa?

Anfang März 2019 schrieb der französische Präsident Emmanuel Macron einen Brief an die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, der zeitgleich in allen 28 Mitgliedstaaten veröffentlicht wurde. In diesem flammenden Aufruf zu einer »europäischen Renaissance« hat er seinen visionären Entwurf für die EU der Zukunft, den er bereits in einer vielbeachteten Rede am 26. September 2017 an der Universität Sorbonne in Paris unterbreitet hatte, vereinfacht und konkretisiert. Damit möchte Macron rechtzeitig vor der Europawahl im Mai 2019 Europas Bürger davon überzeugen, dass eine erneuerte EU die »Schutzbedürfnisse der Völker angesichts der Umwälzungen in der heutigen Welt« befriedigen kann. Die Sorbonner Idee einer europäischen Souveränität variierend, argumentiert er nun, dass die Mitgliedstaaten ihre Souveränität heute nur noch im EU-Verbund erhalten können. Mit der Aussage »Europa ist keine Macht zweiten Ranges« bringt er weiterhin seinen großen Ehrgeiz für ein starkes, weltweit bedeutendes Europa zum Ausdruck, einen Ehrgeiz, der angesichts des internationalen Umfelds mit der Rückkehr zu Autoritarismus, nationalen Egoismen und geostrategischen Machtinszenierungen dringend geboten ist.

Um all dies zu erreichen, bedarf es einer Wiedergeburt Europas; denn Stillstand bzw. die Verweigerung von Änderungen in der EU verkennt »die Ängste, die sich quer durch unsere Völker ziehen, die Zweifel, die unsere Demokratien aushöhlen«, so Macron.

Die Ideen

Diesen »Neubeginn« wie es in der offiziellen deutschen Übersetzung heißt, möchte er anhand dreier Ziele erreichen: Freiheit, Schutz und Fortschritt.

Unter dem Zwischentitel »Unsere Freiheit verteidigen« zielt Macron auf die demokratische Freiheit ab und wendet sich offen gegen die Einmischung fremder Mächte in europäische Wahlen. Damit spricht er implizit nicht nur die Machenschaften ausländischer Akteure bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2017 an, sondern möchte auch die anstehenden Europawahlen vor solchen, derzeit breit diskutierten Wahlmanipulationen schützen. Dafür schlägt er die Schaffung einer »Europäischen Agentur für den Schutz der Demokratie« vor.

Im darauffolgenden Absatz »Unseren Kontinent schützen« spricht er zunächst den Schutz der EU-Außengrenzen an. Dazu müsse der Schengen-Raum »neu überdacht werden«. Im Original (»remettre à plat l‘espace Schengen«) klingt das eine Nuance schärfer. Macron möchte nur solche Staaten im Schengen-Raum belassen, die die Regeln vollumfänglich einhalten: strenge Grenzkontrollen, einheitliche Regeln für die Anerkennung oder Ablehnung von Asylsuchenden. Hier erwähnt er allerdings nicht, dass die Verabschiedung eines solch einheitlichen Asylsystems im Kreis der Mitgliedstaaten seit Jahren nicht erreichbar ist; die Forderung nach einer »gemeinsamen Grenzpolizei und einer europäischen Asylbehörde« übergeht die Fortschritte, die jüngst beim Ausbau von FRONTEX erreicht wurden. Dessen ungeachtet möchte Macron einen »Europäischen Rat für innere Sicherheit« schaffen – sein zweiter institutioneller Neuerungsvorschlag.

Darüber hinaus fordert Macron eine weitere Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU sowie die Schaffung eines Europäischen Sicherheitsrats. Letzteres ist keineswegs eine neue Idee; auch von Angela Merkel wurde sie bereits mehrfach artikuliert.

Ebenso spricht Macron den Schutz europäischer Unternehmen vor unlauterem Wettbewerb durch Drittstaaten sowie die Verteidigung der strategischen Interessen und Werte Europas an. Hierzu zählt er neben Datenschutz und angemessener Steuerzahlungen interessanterweise auch Umweltstandards. Mit Letzteren knüpft er implizit an frühere französische Überlegungen an, Staaten, die sich nicht angemessen am globalen Klimaschutz beteiligen, bei Importen in die EU mit einer CO2-Abgabe zu belegen – ein überaus interessanter Ansatz.

Der letzte Absatz »Zum Geist des Fortschritts zurückkehren« umfasst recht disparate Vorschläge für die Klimapolitik, eine nachhaltige europäische Landwirtschaft, technische Innovationen sowie einen Pakt mit Afrika. Besonders hervorzuheben ist hier jedoch Macrons Vorschlag »für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, von Ost nach West und von Nord nach Süd« einen sozialen Schutzschild (bouclier social) einzuführen; dieser soll »ihnen gleiche Bezahlung am gleichen Arbeitsplatz und einen an jedes Land angepassten und jedes Jahr gemeinsam neu verhandelten europaweiten Mindestlohn« garantieren.

Dieser »bouclier social« ist mit »soziale Grundsicherung« übersetzt und provoziert im Deutschen möglicherweise Missverständnisse. Macron mahnt nämlich lediglich das Prinzip »gleiche Bezahlung am gleichen Arbeitsplatz« an, wie es die kürzlich reformierte sogenannte Entsenderichtlinie ohnehin vorschreibt. Den geforderten, landesspezifisch angepassten Mindestlohn gibt es bereits in 22 Staaten der Europäischen Union mit stark unterschiedlichen Lohnhöhen; nur in Finnland, Italien, Schweden, Zypern, Dänemark und Österreich fehlt er noch. Seine Vorschläge zum sozialen Schutzschild sind also weder besonders innovativ noch weitreichend.

Macron präsentiert zudem gleich fünf Ideen für neue europäische Institutionen. So möchte er eine Europäische Klimabank einrichten, die finanziell dabei helfen soll, bis 2050 eine »Reduzierung der CO2-Emissionen auf null« zu realisieren. Eine »europäische Kontrolleinrichtung« soll für wirksamen Lebensmittelschutz sorgen und eine unabhängige wissenschaftliche Evaluationsstelle soll bei Substanzen, die die Umwelt und Gesundheit gefährden, gegen Lobbyismus schützen. Eine Regulierung der Internetgiganten möchte Macron durch eine europäische Überwachungsstelle erreichen – alles Vorschläge, die konkret auf zentrale Zukunftsaufgaben bzw. auf offenkundige Missstände in der EU eingehen. Ein mit Finanzmitteln ausgestatteter Europäischer Innovationsrat soll Innovationen, den Inbegriff von Fortschritt, erleichtern und unterstützen.

Abschließend ruft der französische Präsident zum Handeln auf: Noch 2019 möchte er eine auch der Zivilgesellschaft offenstehende Europakonferenz einberufen, die alle für das politische Projekt erforderlichen Veränderungen vorschlagen soll, »ohne Tabus, einschließlich einer Überarbeitung der Verträge«. Es gilt, einen »Fahrplan« festzulegen, der nicht immer »im Gleichschritt« umgesetzt werden könne, aber »für alle offen« bleibe.

Die EU-Kommission begrüßte Macrons Beitrag zur Zukunft Europas, merkte allerdings an, dass einige seiner Vorschläge bereits Realität beziehungsweise bei den EU-Institutionen in Vorbereitung seien. An den institutionellen Vorschlägen, von denen einige als sinnvoll erscheinen, ist weniger ihre Anzahl zu kritisieren, als vielmehr, dass Macron offenlässt, ob er letztlich nicht die Stellung der Mitgliedstaaten im EU-Gefüge weiter stärken, d. h. den derzeit so ausgeprägten Intergouvernementalismus befördern und die supranationalen EU-Institutionen schwächen will.

Explizit gutzuheißen ist demgegenüber sein innovatives Vorgehen: Indem er sich direkt an alle EU-Bürger wendet, um sie vor den anstehenden Europawahlen wachzurütteln und auf deren weichenstellende Bedeutung hinzuweisen, eröffnet er mit Verve den Wahlkampf. Auch gelingt es ihm erneut, ein anschauliches, zeitgemäßes, ehrgeiziges und attraktives Bild einer erneuerten EU zu entwerfen, die die Bürger wieder anziehen und überzeugen können soll. Er kämpft für die Selbstbehauptung der EU in dramatischen Zeiten – bravo Macron!

Die Antwort der CDU

Angesichts dieses großen Engagements ist die Antwort, die die neue CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer wenig später in der Welt am Sonntag formulierte, unangemessen. Hier soll weniger auf die viel diskutierte Tatsache eingegangen werden, dass Kramp-Karrenbauer und nicht Angela Merkel diese Antwort schrieb; dies löste bekanntlich heftige Spekulationen über die Kanzler-Ambitionen von »AKK« aus. Unangemessen ist der Beitrag »Europa jetzt richtig machen«, weil er visions- und ideenlos daherkommt, kleinteilig und sehr defensiv. »Europäischer Zentralismus, europäischer Etatismus, die Vergemeinschaftung von Schulden, eine Europäisierung der Sozialsysteme und des Mindestlohns wären der falsche Weg«, schreibt Kramp-Karrenbauer und lehnt einen europäischen »Superstaat« ab. Damit macht natürlich auch sie Wahlkampf.

Aus den detaillierten Ausführungen der CDU-Vorsitzenden geht dann gleichwohl hervor, dass sie in mehreren Punkten inhaltlich gar nicht so weit von Macron entfernt ist, etwa, wenn sie ein stärkeres Europa in den Bereichen Innovation, Klima, Besteuerung großer Digitalunternehmen und Asyl fordert. Aufhorchen lässt gleichwohl ihr Bekenntnis zu dem, was Angela Merkel einst als die »Unionsmethode« bezeichnet hatte. Bei Kramp-Karrenbauer heißt es nun: »Die Arbeit der europäischen Institutionen kann keine moralische Überlegenheit gegenüber der Zusammenarbeit der nationalen Regierungen beanspruchen. Eine Neugründung Europas geht nicht ohne die Nationalstaaten: Sie stiften demokratische Legitimation und Identifikation. Es sind die Mitgliedstaaten, die ihre eigenen Interessen auf europäischer Ebene formulieren und zusammenbringen. Daraus erst entsteht das internationale Gewicht der Europäer.« Dies ist eine überaus befremdliche Verkürzung dessen, was EU-Europa ausmacht. Sollte es AKK damit ernst sein, dann würde dies einen markanten, ja gefährlichen Kurswechsel deutscher Europapolitik bedeuten, der sich zulasten von EU-Kommission und Europäischem Parlament auswirken würde.

Seit Jahren gelingt es Deutschland – trotz vielfältigem proeuropäischem Einsatz im Detail – nicht, eine eigene, überzeugende, mitreißende Vision zur Zukunft der EU zu entwerfen. Im Rahmen der deutsch-französischen Zusammenarbeit ist letztlich zwar an einem neuen gemeinsamen Leitbild für die EU gearbeitet worden, doch aus eigener Kraft scheint das Deutschland der Ära Merkel dazu nicht befähigt zu sein. Insofern hat Annegret Kramp-Karrenbauer mit ihrer spröden, nüchternen, defensiven und wenig innovativen Antwort auf Macron die große Chance verpasst, das europapolitische Engagement ihrer Partei zeitgemäß, weitsichtig und anziehend auszumalen. Da sie anstelle Angela Merkels antwortete, bleibt an Deutschland somit der Ruf eines egoistischen, behäbigen und lauen EU-Verfechters hängen. Schade! Auch trägt Berlin dazu bei, Macron als einsamen Kämpfer für Europa zu stilisieren – im Vorfeld der Europawahlen ist das keine gute Strategie.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben