Menü

© picture alliance / greatif | Florian Gaul

Geldpolitik ohne EZB? Märchenstunde

Joachim Nagel zeigt in seinem Beitrag »Unabhängige Geldpolitik in Krisenzeiten« ein reduziertes Verständnis der aktuellen Geldpolitik in der Eurozone. Er präsentiert ein Narrativ, das im Kern das geldpolitische Selbstverständnis der Deutschen Bundesbank bis 1998, also vor ihrer Integration in das Europäische System der Zentralbanken unter der geldpolitischen Führung der EZB beschreibt. Ausgeblendet wird bei der Aufzeichnung geldpolitischer Aufgaben nicht nur die Rolle der EZB für die Stabilisierung des Euro, sondern auch die innovative geldpolitische Strategie, die die EZB nach der Finanzmarktkrise 2010 und in der sogenannten Eurokrise eingeschlagen hatte, nach außen signalisiert durch die Ankündigung von Mario Draghi am 26. Juli 2012, die EZB werde alles tun, was nötig sei (»Whatever it takes«), um den Euro als Gemeinschaftswährung zu stabilisieren.
Zurück zu Keynes und Wicksell
Der mit dieser Rede angekündigte Kauf von Wertpapieren durch die Zentralbanken, als »Outright Monetary Transactions« bezeichnet, geht in seinem theoretischen Kern auf Überlegungen von John M. Keynes zurück, die dieser in seiner Treatise on Money (dt. Vom Gelde) bereits 1931 formuliert hatte. Er hatte darauf aufmerksam gemacht, dass die Zentralbanken so lange Wertpapiere kaufen können, bis der langfristige Zinssatz auf einen Grenzpunkt, der die Sättigung des Publikums signalisiert, herabgedrückt wird. Insofern kann die Zentralbank die Zinsen von Staatsanleihen, mit denen gehandelt wird, steuern. Rund 30 Jahre vor Keynes hatte der schwedische Ökonom Knut Wicksell darauf hingewiesen, dass für den Fall, dass der »natürliche« Zins, der den gleichgewichtigen Zusammenhang von Ersparnissen und Investitionen vermittelt, sehr niedrig ist, der von der Zentralbank gesetzte Geldzins beinahe auf Null gesetzt werden kann, um weitere Investitionsanreize zu bieten. Das sind die ökonomietheoretischen Annahmen, die hinter der aktuellen Geldpolitik der EZB stehen.
Der Kauf von Staatsanleihen durch die EZB begann allerdings schon im Mai 2010, als in der Folge der Finanzmarktkrise im Rahmen des »Security Market Programme« (SMP) Staatsanleihen gekauft wurden, was bereits damals auf den Widerstand deutscher Ökonomen gestoßen war und 2012 zum Rücktritt des EZB-Chefvolkswirts Jürgen Stark geführt hatte. 2014 wurden diese Käufe dann erheblich ausgeweitet. Damit begann die Ära einer Geldpolitik der EZB, in deren Folge auch als »unkonventionelle Geldpolitik« bezeichnet, die insbesondere in Deutschland heftig kritisiert wurde - zuletzt durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020, das allerdings ohne Folgen für diese Geldpolitik blieb: Sie wurde von der EZB unbeirrt fortgesetzt. Das Gericht resignierte vor der Macht des Faktischen.
Primärmarkt und Sekundärmarkt
Das Verfahren des Begebens von Staatsanleihen geschieht so, dass die Finanzagentur des Bundes einer Bietergruppe von 32 Geschäftsbanken die Staatsanleihen, mit denen das Finanzministerium Kredite aufnehmen will, anbietet. Diese Geschäftsbanken erwerben die Staatsanleihen und bezahlen diese mit Reserven an Zentralbankgeld, das sie auf ihren Konten bei ihrer jeweiligen nationalen Zentralbank im System der Europäischen Zentralbanken halten. Mit diesen Staatsanleihen handeln sie dann auf dem Sekundärmarkt. Im Handel mit Staatsanleihen können deren Kurse, wenn die Bonität des Landes, das diese Anleihen begeben hat, sich verschlechtert, sinken. Sinkende Kurse führen zu steigenden Renditen der Staatsanleihen, wenn das betreffende Land neue Staatsanleihen begibt, um fällig gewordene Staatsanleihen zu tilgen. Dann wiederum steigen die Zinsen der Staatsanleihen des betreffenden Landes und die Zinsabstände (»Spreads«) zwischen den Zinsen der Staatsanleihen verschiedener Euroländer steigen, wie das zwischen 2010 und 2012 im Euroraum der Fall war. Kauft eine Zentralbank auf dem Sekundärmarkt Staatsanleihen, dann können deren Kurse nicht oder nicht mehr sinken und die Zinsen bleiben niedrig, so dass weiter Staatsanleihen begeben werden können. 
So hat die EZB aktuell ein »Transmission Protection Instrument« (TPI) beschlossen, mit dem durch gezielte Käufe nationaler Staatsanleihen deren Kurse gestützt werden können und dadurch eine annähernd einheitliche Kursentwicklung der Zinsen für Staatsanleihen der Euroländer gesichert werden kann. Diese Verfahren beim Begeben von Staatsanleihen haben es möglich gemacht, dass die deutsche Bundesregierung seit Beginn der Pandemie 2020 bis heute ohne nennenswerte Probleme mehrere hundert Milliarden Euro öffentliche Kredite über Staatsanleihen auf dem Primärmarkt mobilisieren konnte. 
Wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags 2020 gezeigt hat, handelt es sich dabei um Reserven an Zentralbankgeld, das die Geschäftsbanken auf ihren Konten bei der Bundesbank halten und für den Kauf der Staatsanleihen verwenden. Kauft die Zentralbank Anleihen von den Geschäftsbanken, so schreibt sie den Kaufpreis dem Konto dieser Geschäftsbank gut. Die Käufe von Staatsanleihen und anderen Wertpapieren zeigen sich auch in der Bilanz der EZB, die aktuell 8,8 Billionen Euro beträgt und sich seit dem Jahr 2000 verelffacht hat.
Technisch sind diese Käufe der Zentralbanken unbegrenzt, weil Zentralbanken Zentralbankgeld aus dem Nichts schöpfen. Diese Erkenntnis stößt auf Hürden im Alltagsbewusstsein des Publikums, weil sich bis heute die Vorstellung, dass Geld irgendwie »gedeckt« sein müsse, in den Köpfen der Wirtschaftsakteure wie der Politik hartnäckig gehalten hat. Auf dieser ideologischen Konstruktion basiert auch die populäre Vorstellung, dass Inflation eine Folge eines Zuviel an Geld, also einer überbordenden Geldmenge sei. 
Entgegen dieser tauschtheoretischen Sicht auf Geld schöpfen Zentralbanken wie auch Geschäftsbanken Geld aus dem Nichts, sie sind keine Intermediäre, die vorhandenes Geld oder Ersparnisse in den Umlauf bringen. Diese Geldschöpfung ist nichts Neues, sie bestand bereits in Zeiten, in denen noch ein Eintausch in Gold zugesagt, allerdings nie eingelöst wurde. Faktisch ist die Rückkehr zu diesem sogenannten Goldstandard bereits in den 1920er Jahren gescheitert, Keynes hatte ihn damals noch als »barbarisches Relikt« verspottet.
Die Bundesbank selbst hat diesen Prozess der Geldschöpfung von Zentralbank- und Giral- oder Buchgeld im zweistufigen Bankensystem präzise nachgezeichnet. Diese Verfahren der Käufe und Verkäufe von Staatsanleihen verstoßen, obwohl sie politisch nach wie vor umstritten sind, nicht gegen europäisches Recht,; Art. 123 AEUV untersagt lediglich den direkten Kauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank, nicht aber die Käufe auf dem Sekundärmarkt. In der einschlägigen juristischen Literatur zu dieser Frage wird die Rechtmäßigkeit der Käufe von Staatsanleihen durch die zuständige Zentralbank bestätigt. 
Die EZB als Lender of last Resort
Faktisch findet aber, wenn auch auf Umwegen, eine indirekte Finanzierung der Eurostaaten durch ihre nationalen Zentralbanken im europäischen System der Zentralbanken statt. Damit ist die Möglichkeit eröffnet worden, dass sich die Staaten bei der Praxis des Begebens von Staatsanleihen vom sogenannten Diktat der Finanzmärkte frei machen können. Damit stellt sich allerdings die Frage nach der demokratischen Legitimation der europäischen Zentralbanken, insbesondere der EZB. 
Die EZB handelt mit dem Instrument des Kaufs von Staatsanleihen als indirekter »Lender of last Resort«, Kreditgeber der letzten Instanz für die Staaten des Eurosystems und entscheidet damit über die politische Handlungsfähigkeit der Staaten in der Europäischen Währungsunion. Geldpolitisch ist das ein Fortschritt, weil in letzter Instanz eben nicht nur die Staaten, sondern auch die handelnden Akteure auf den Finanzmärkten von den Entscheidungen der großen Zentralbanken abhängig werden, wie sich das in der Finanzmarktkrise 2007-09 gezeigt hat und es aktuell Joscha Wullweber und Aaron Sahr analysieren. Aber auch aus demokratietheoretischer Sicht kann das ein enormer Fortschritt sein, wenn die Entscheidungen der EZB wirtschaftspolitisch kompetent verfolgt und, falls notwendig, auch kritisiert werden.
Das gilt auch für die aktuellen Leitzinserhöhungen der EZB als Reaktionen auf die Geldpolitik der US Federal Reserve. Direkt können die Zentralbanken mit dem Instrument der Zinserhöhungen nicht gegen die Gründe der aktuellen Inflation vorgehen - Angebotsverknappungen und Lücken in den Wertschöpfungsketten lassen sich nicht mit Zinserhöhungen aus der Welt schaffen. Dass so intensiv für eine restriktive Geldpolitik geworben wird, ist noch eine Folge des alten konventionellen Denkens in der Geldpolitik. Dass die EZB aktuell den Hauptrefinanzierungszinssatz in zwei Schritten auf 2,0 Prozent angehoben hat, hat trotzdem einen rationalen Kern: Damit werden weitere Kursverluste des Euro gegenüber dem US-Dollar eingegrenzt. Das ist deshalb rational, weil die wichtigen fossilen Energien nach wie vor in US-Dollar gehandelt werden. Die Absicherung des Euro-Kurses durch höhere Leitzinsen verringert den Einfluss der importierten Inflation und dämpft darüber die Inflation im Euroraum.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben