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Susan Neiman: Aufarbeitung in den USA und in Deutschland Mahnungen aus Mississippi

Vom Sockel gestoßen wurden sie – sowohl symbolisch als auch buchstäblich: Als der Afroamerikaner George Floyd Ende Mai nach seiner Festnahme mit dem Polizeiknie im Nacken und um Luft ringend starb, richtete sich die Aufmerksamkeit der Demonstranten wie auch der Politik im Zuge dieses jüngsten Falls brutaler Polizeigewalt in den USA auf die vielen Denkmäler im Land – und damit auf die glorifizierten Abbilder der Männer, deren Haltung zur Sklaverei die systematische Gewalt gegenüber schwarzen US-Bürgerinnen und -Bürgern begründet hat. Sie stehen (beziehungsweise standen) für Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Unfreiheit, für eine Vergangenheit, die die Gegenwart für viele zu einem lebensgefährlichen Unterfangen macht, und George Floyd wiederum zu einer der tragischen Ikonen der US-Geschichte hat werden lassen. Vor diesem Hintergrund kann das neue Buch von Susan Neiman Von den Deutschen lernen über die Erfolge und Misserfolge der Vergangenheitsaufarbeitung in Deutschland und den USA aktueller kaum sein.

Mithilfe zahlreicher Interviews und Porträts nähert sich Neiman ihrem Sujet und changiert dabei explizit »zwischen Analyse und Anekdote«. Ihre quasi-ethnografische Studie über die Präsenz der Vergangenheit im US-Bundesstaat Mississippi sticht dabei besonders hervor. Sie ist eine eindringliche Mahnung daran, wie klebrig das Erbe der Sklaverei und der Rassentrennung der Gegenwart nach wie vor anhaftet. »Mississippi ist (...) ein Ort, an dem der Widerstand gegen die Aufklärung mehr als lebendig und mit Händen zu greifen ist.« Der US-Bundesstaat war bezeichnenderweise der letzte, in dem erst im Zuge der anhaltenden Proteste um Floyds Tod beschlossen wurde, ein gewichtiges Symbol für die mangelnde Aufarbeitung der Geschichte abzuschaffen: nämlich die Landesfahne, in die die Flagge der Konföderierten integriert gewesen war. Susan Neiman dokumentiert eindrucksvoll den Widerstand gegen Wandel, mehr noch, den weiter wild wuchernden Rassismus in dem Bundesstaat, in dem der schwarze Jugendliche Emmett Till 1955 gelyncht wurde – weil er der weißen Ehefrau eines Ladenbesitzers hinterhergepfiffen haben soll. Der bestialische Mord an dem 14-Jährigen gilt als einer der Zündfunken der Bürgerrechtsbewegung. Und doch hat sich seitdem nur wenig bewegt. Das Zähe und Bewegungslose dieses moralischen Morasts ist beim Lesen von Neimans Studie deutlich spürbar.

Mississippi ist allerdings bei Weitem kein Einzelfall, das macht Neiman unmissverständlich klar. Die mangelnde Aufarbeitung der Geschichte hinterlässt laut der Autorin unausweichliche Spuren innerhalb der gesamten Nation. Dass eine Infektion mit Covid-19 für schwarze Amerikaner viel gefährlicher ist als für weiße ist nur eine von vielen Belegen hierfür. Auch wenn die Autorin betont, dass die Vergangenheitsaufarbeitung keine »narrensichere Schutzimpfung gegen Rassismus und Reaktion« sei, so plädiert sie dennoch ganz entschieden für einen schonungslosen und aufklärerischen Umgang mit der Vergangenheit. Genau das, so Neiman, könnten die Vereinigten Staaten und der Rest der Welt von den Deutschen lernen.

Mit dieser provokanten These wolle sie keine Verbrechen vergleichen – wohl aber die Intensität und Ernsthaftigkeit, wie mit diesen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene umgegangen wurde und wird. In Deutschland sei es in den 90er Jahren zum Konsens geworden, eine kollektive Verantwortung zu übernehmen, nicht zu vergessen. Vorher jedoch sei die Aufarbeitung vor allem in der unmittelbaren westdeutschen Nachkriegszeit von individuellen und institutionellen Verdrängungs- und Vertuschungsmechanismen geprägt gewesen – anders als in der DDR. Das Wissen hierüber könne für andere Nationen sehr hilfreich sein: »Zu erfahren, dass es Jahrzehnte harter Arbeit bedurfte, bevor diejenigen, die, wie man wohl behaupten darf, die schlimmsten Verbrechen in der Geschichte begangen hatten, diese anerkannten und darangingen, Sühne zu leisten, verschafft denjenigen enorme Erleichterung, die sich für eine ähnliche Anerkennung in den Vereinigten Staaten einsetzen.«

Neiman, die mit Unterbrechungen seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und in vielen Komitees als Beraterin mitgewirkt hat, hebt vor allem den Aufarbeitungsprozess in Berlin hervor. Diese Faszination ist im Buch derart stark präsent, dass sie zuweilen zu verdecken droht, dass viele Deutsche – in der Hauptstadt, aber auch in den anderen Landesteilen – weiterhin zu wenig verstehen und nur selten Verantwortung übernehmen wollen. Auch wenn Neiman die Bemühungen rechtspopulistischer und -extremistischer Kräfte, die Geschichte zu relativieren beziehungsweise zu leugnen, durchaus im Blick hat, hält die Autorin an ihrer grundsätzlichen Erfolgsmeldung über die Aufarbeitung des Holocausts in Deutschland fest.

Ihre Thesen entfaltet die Philosophin vor allem anhand ihrer Biografie sowie ausgehend vom eigenen emotionalen Erleben. Daher verwundert es, dass eine systematische Analyse politischer Emotionalität zu kurz kommt – wie auch generell das Episodische das Analytische streckenweise zu stark überlagert. Indirekt streift Neiman das Pathos, das die Aufarbeitung neben dem Bemühen um Aufklärung begleiten muss, beispielsweise wenn sie fordert, dass wir die »Furcht vor allem, was an Kitsch grenzen könnte« zulasten der Ironie ablegen sollten. Außerdem spricht sie selbst die Relevanz der Scham an. Dieses kollektive Gefühl markiere einen der entscheidenden Unterschiede zwischen der Erinnerungskultur der Deutschen und derjenigen der US-amerikanischen Gesellschaft. Allerdings bleibt letztlich die entscheidende Frage offen, wie genau aus der Neigung vieler Menschen in der westdeutschen Nachkriegszeit, ihr eigenes Leiden über das aller anderen zu stellen, ein gesamtgesellschaftlich wirksames und transformatives Scham- und, daraus resultierend, ein Verantwortungsgefühl erwachsen konnte.

Neimans Analyse zeigt hingegen mehr als deutlich, dass es immer ein Prozess ist, Verantwortung zu übernehmen. Daneben beleuchtet die Autorin gerade auch das Ambivalente, das Große und das Kleine dieser Verantwortungsübernahme. Dass Statuen fielen, wird das Leben vieler schwarzer US-Bürgerinnen und -Bürger nicht unmittelbar, sofort und radikal verbessert haben. Susan Neiman aber belegt, dass dieser symbolische Schritt auf dem Weg zu einem wirklichen Wandel notwendig und richtig ist. Und sie macht auch für das deutsche Vorbild deutlich, dass dieser Kurs immer wieder aufs Neue bestätigt werden muss. Denn: »Die Vergangenheit sickert weiter in die Gegenwart und infiziert sie. Aufarbeitung ist niemals abgeschlossen.«

Susan Neiman: Von den Deutschen lernen. Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können. Hanser Berlin, 2020, 576 S., 28 €.

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