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Gespräche mit ehemaligen Arbeiter/innen der Elektropolis Berlin »…man dachte immer zuerst kollektiv«

Hilde öffnet mir die Altbautür. Sie ist hocherfreut, dass sich jemand für sie und ihre Geschichte interessiert, für ihr Leben in der DDR und danach, für ihre Meinung im Jetzt und dann auch noch jemand so junges, westsozialisiert. Die Recherchen zum ehemaligen Arbeiter/innenortsteil im Berliner Osten, in dem das Ehepaar wohnt, seitdem sie sich kennen, haben mich schockiert. Ziemlich rechts soll er sein, viele Menschen mit Alkoholproblemen, die sich wütend in Eckkneipen darüber aufregen, dass sich niemand mehr für sie interessiert, schon gar nicht die sogenannten Volksparteien.

Ich trete ein und im Türrahmen zur Küche lehnt ein Junge, der mich schüchtern anlächelt. Das sei Adil (arabisch für »Gerechtigkeit«), er sei aus Syrien und lebe nun gemeinsam mit dem Ehepaar. Sie bereiten gerade Moccha zu und das Gespräch dürfe wirklich nur eine Stunde dauern, sie wollen später noch gemeinsam zu einer Veranstaltung aufbrechen. Hilde besteht darauf, dass ich sie und Karl, ihren Ehemann getrennt befrage. Er falle ihr sonst doch nur wieder ins Wort. Sie erzählt, dass sie ihre Arbeit mochte, dort ihre Freundinnen hatte und dass Zusammenhalt zu DDR-Zeiten großgeschrieben wurde. Gerade zur damaligen Nachbarsfamilie sei der Kontakt eng gewesen, man habe sich mit Lebensmitteln ausgeholfen und zusammen Silvester gefeiert, man war auch mal gemeinsam an der Ostsee. Heute sei das nicht mehr so in der Hausgemeinschaft, aber die neue Nachbarin ist nun auch eine junge Studentin, die aber immer höflich grüßt. Das sei einfach eine andere Generation, und das sei auch gut so. Hilde schätzt ihren Wohnort heute wie früher, besonders freut sie sich über die neue Nutzung der ehemaligen Industriegebäude durch junge Student/innen und Künstler/innen. Endlich sei wieder etwas los auf den Straßen und auch kulturell würde einiges angeboten. Meist für die jungen Leute, aber Karl und sie seien auch schon auf einigen Ausstellungen und Veranstaltungen gewesen.

Schlimm sei es nach der Wende geworden, als Viele ihre Arbeit durch die vom Westen durchgeführten Betriebsschließungen verloren, als Viele sich mit Alkohol trösteten, weil die eigene Perspektive verblasste. Aber da könne mir Karl mehr erzählen. Dessen Augen leuchten, wenn er von seiner Arbeit als Ingenieur und den mit seinem Kollektiv gemeinsam durchdachten Ideen erzählt. Er war außerdem Kulturobmann im Betrieb und durfte so während der Arbeitszeit in Theatergeneralproben gehen und zusehen. Er organisierte die gemeinsamen Betriebsausflüge. Die gebe es heute sicherlich auch noch, aber zu DDR-Zeiten sei das alles entspannter gewesen, es habe diesen Konkurrenzdruck eben nicht gegeben, man dachte immer zuerst kollektiv. Das fällt auch auf, wenn Karl – und das ist ihm sichtlich unangenehm – über die eigene Arbeitslosigkeit spricht. Er sei nur einer von Vielen gewesen, die ihre Arbeit verloren hatten. Er habe dabei noch Glück gehabt, konnte noch für ein Computerunternehmen arbeiten, dann kam der Übergang in die Rente. Für seine Kinder sei die Zeit schwieriger gewesen, die hatten ja nun keine Perspektive mehr. Das sei aber jetzt auch anders. Steffen, der Sohn, engagiere sich enorm für die jungen Leute hier im Bezirk, und die Enkelkinder fragen manchmal, wie es gewesen sei im Osten. Man könne heute schließlich über alles reden und müsse es auch, versichert mir Karl und klingt dabei erstaunlich hoffnungsvoll.

Es fallen auch ein paar der bekannten klischeehaften Aussagen: Es sei nicht alles schlecht gewesen im Osten, man, der Westen, hätte dem Osten nicht alle Strukturen der BRD unhinterfragt überstülpen dürfen. Aber Jammern wollen sie nicht, es gehe ihnen ja gut, sie seien noch gut über die Wende gekommen, aber da entsprächen sie wohl auch nicht dem Durchschnitt.

Weniger Hoffnung zeigt sich bei eben jenem von Karl bezeichneten Durchschnitt, bei den vielen Arbeiter/innen, die unmittelbar nach der Wende ihre Arbeit und damit nicht nur die finanzielle Sicherheit, sondern auch ein enormes identitäts- und gemeinschaftsstiftendes Element verloren. Es galt, sich erneut unterzuordnen unter ein neues politisches, wirtschaftliches und soziales System. Karls Kumpel Rudi etwa verlor seine Arbeit, er sitzt jetzt häufiger in Sabines Kneipe, in der auch schon einmal mehr Betrieb war. Die Leute kommen nicht mehr und trinken hier ihr Feierabendbier, der Feierabend sei schon zu lange her. Man bekomme auch keine Unterstützung mehr, die fließe nun ausschließlich in die Versorgung der Geflüchteten. Man fühle sich nicht benachteiligt, aber auch nicht mehr gebraucht, verdrängt durch andere. Zuwendungen würden nicht denjenigen zukommen, die sie tatsächlich bräuchten, Rentner/innen aus der ehemaligen DDR etwa, sondern anderen. Die Abgrenzung von anderen, die Rudi und Sabine ausdrücken, dient der Konstruktion und Aufrechterhaltung der eigenen Identität und sie äußert sich in der Ablehnung des Fremden. Dies könnte auf dem Gefühl beruhen, mittlerweile fremd im eigenen Land, quasi »symbolische Ausländer/innen« (Daniel Kubiak) zu sein oder auf einer Trotzreaktion angesichts einer verfehlten eigenen Integration, wie Petra Köpping mit dem Titel ihres aktuellen Buches Integriert doch erst mal uns! andeutet. Dies gilt es also, auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch nachzuholen.

Die Ost-Identität befindet sich heute irgendwo zwischen Wandel und Manifestation. Sie ist geprägt durch nur partiell gelungene Integration, verursacht durch die erneut passive Rolle in den wendebedingten Entscheidungsprozessen (auch das alte DDR-System erlaubte nur wenig selbstbestimmte Handlungsmacht oder gar Bewegungsfreiraum), durch Nostalgie gegenüber der »guten alten Zeit« und durch Ablehnung gegenüber dem gegenwärtigen Wandel der Bevölkerung. Andererseits begründet die Erfahrung zweier Systeme, die als gewonnene Kompetenz empfunden wird, eine positivere Sicht auf die Möglichkeiten der wechselseitigen Annäherungen von »Ossis« und »Wessis«, eine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Identitätsangeboten.

Hinzu kommt allerdings, dass sich den Generationen, die eine solche doppelte Systemerfahrung nur noch in Ausläufern erlebt haben oder bereits im System nach der Wiedervereinigung geboren sind, die Frage stellt, was es eigentlich für sie selbst bedeutet, im Osten Deutschlands geboren und aufgewachsen zu sein. Bewegen sie sich zwischen den Identitäten oder sind sie gar Vertreter/innen eines gänzlich neuen Identitätskonstrukts?

Steffen, der mit Jugendlichen arbeitet, die in Ostberlin aufwachsen, spricht vom »geförderten Paradies« und davon, dass eben alles neu gewesen sei nach der Wende, nicht unbedingt schlecht, aber eben neu. Das mit dem Paradies nehme ich ihm nicht ganz ab, wenn ich an das Gespräch in der Kleingartensiedlung denke. Was hingegen sofort einleuchtet, ist sein Gedanke, dass auf einen Schlag alles neu war und man erst einmal nur das Positive sehen wollte, die neuen Freiheiten; man konnte reisen, man konnte sich eine abgefahrene Jeans mit West-Label kaufen, man konnte endlich die andere Seite der Mauer sehen. »Alles glänzt, so schön neu« (Peter Fox).

Neu ist das geeinte Deutschland heute nicht mehr. Es wird im nächsten Jahr 30. Viele junge Menschen sind heimlich und grundlos besorgt, wenn der eigene erste Geburtstag naht, bei dem plötzlich eine drei vorne steht. Rudi sei, als er seine Arbeit verlor, »33, 34, 35 gewesen, zu alt wat neues anzufangen und zu jung, um in die Rente zu gehen«. Dennoch komme Rudi, wie auch Klaus und die anderen der Stammtischrunde, nach der Wende nicht mehr so richtig durch. Sie versacken in der Arbeitslosigkeit und in Sabines Kneipe.

»Es wird immer etwas bleiben«, sagt Margarethe, während sie in einem alten Fotoalbum blättert und ihrem westsozialisierten jungen Gegenüber in langsamen, ruhigen Ton erklärt, wie das so war, damals. Die Integration ist noch nicht abgeschlossen. Dass es noch immer Arbeit an der Einheit bedarf, zeigen nicht zuletzt die jüngsten (Landtags-)Wahlergebnisse in Sachsen und Brandenburg. Die hohen Stimmenanteile der AfD im Osten Deutschlands können Anzeichen dafür sein, dass sich diese Wähler/innen ungehört, benachteiligt oder missverstanden fühlen und sich in den Parolen über das »Wir« und das »Volk« wiedererkennen. Dies aber ausschließlich als »Phänomen des Ostens« zu behandeln, dürfte wenig zielführend sein, um das Gefühl eines wirklich geeinten Deutschlands zu wecken.

In den Gesprächen wird vor allem eines klar: Es braucht ein neues »Wir«, das das »Die« nicht mehr braucht. Nicht schlecht gewesen im Osten war der Gedanke an eine kollektive Identität, die alle ein- und niemanden ausschließt. Es gilt die Sichtbarkeit derjenigen zu verbessern, die aufgrund der eigenen (Ost-)Identität nach wie vor kaum wahrgenommen werden.

Zum Abschied stehen Hilde, Karl, Adil und ich im Wohnzimmer mit den hohen Decken und dem geblümten Samtsofa, da platzt es doch heraus aus Hilde, die nun alles andere als eine stereotype ostdeutsche Wutbürgerin war, das altbekannte Personalpronomen: Wie könne man »die« denn nur wählen? Was für eine furchtbare Alternative sollen »die« denn sein?

Hilde hat ja so recht.

(Die hier verwendeten Gespräche wurden im Rahmen eines stadtsoziologischen Forschungsprojektes von Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin geführt. Die Namen wurden aus Datenschutzgründen geändert.)

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