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Neo Rauch, die bildende Kunst und der neue Ost-West-Konflikt »Man kann einer Diskussion gar nicht mehr aus dem Weg gehen«

Der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich lebt als freier Autor in Leipzig. Dort wohnt auch der Maler Neo Rauch. Einen »Zeit«-Artikel von Ullrich über rechte Positionen in der zeitgenössischen Kunst quittierte Rauch mit einem kontrovers diskutierten Bild. In seinem neuen Buch »Feindbild werden« zeichnet Ullrich den Konflikt und seine Besonderheiten nach.

Shirin Sojitrawalla: Der Grund für Ihr Buch ist ein Gemälde des Malers Neo Rauch mit dem Titel »Der Anbräuner«. Was ist das für ein Bild?

Wolfgang Ullrich: Dieses Gemälde zeigt einen Mann, der seinen Kot mit einem Pinsel auffängt und damit eine Leinwand beschmiert. Auf ihr sieht man eine Figur, die offenbar einen Hitlergruß zeigt. Sonst sind nur die Initialen meines Namens zu sehen.

Sojitrawalla: Wo steht dieser Mann?

Ullrich: Er steht gebückt in einem Dachboden oder Korridor. Es gibt nur ein kleines Fenster im Hintergrund, dort blickt von außen eine Hitlerfratze rein, also Nazi-Symbolik vor dem Fenster und auf der Leinwand.

Sojitrawalla: Es ist quasi ein gemalter Leserbrief von Neo Rauch, seine Reaktion auf Ihren Artikel »Auf dunkler Scholle«, in dem Sie eine Rechtsverschiebung in der Kunstwelt feststellen, unter anderem am Beispiel Neo Rauchs. Der Mann auf dem Bild trägt aber nicht ihre Gesichtszüge, ist es also eine Stellvertreter-Figur?

Ullrich: Rauch ist bekannt dafür, sehr vielschichtige Bilder zu malen, die sich auch nach längerer Betrachtung nicht eindeutig erschließen. Ich dachte erst, es sei der Künstler, der sich selbst bei dem malt, was man ihm vermeintlich unterstellt: dem Anfertigen rechter Kunst.

Sojitrawalla: Neo Rauch als der Mann mit dem braunen Pinsel?

Ullrich: Ich kam auf diese Deutung, weil es eine Tradition von Künstler-Selbstdarstellungen auf Dachböden oder in engen Räumen gibt. Der Titel allerdings passt gar nicht dazu. »Der Anbräuner« stammt von Ernst Jünger, einer der Leib- und Magenautoren von Neo Rauch, und ist im Grunde ein Synonym für den Denunzianten. Ernst Jünger prägte diese spezielle Vokabel für Leute, die nach dem Zweiten Weltkrieg andere als Nazis anzeigten, aber auch für die Nachgeborenen, die ihre Eltern oder Großeltern anklagten. Neo Rauch wendet den Begriff gegen seine Kritiker und stellt sie damit in die Tradition von Denunzianten. Er wirft Leuten wie mir eine Cancel Culture vor, weshalb ich davon ausgehe, dass er sich hier doch nicht selbst gemalt hat, sondern seinen Kritiker.

Sojitrawalla: Der Kritiker als der Anbräuner?

Ullrich: Ja, er verteilt den Schmutz, produziert den Schmutz. Das ist auch ikonografisch interessant. Auf Rauchs Bild generiert der Kritiker den Schmutz, den er auf andere wirft, aus sich selbst. Damit, so die Botschaft, ist die Kritik aber auch bloße Willkür und haltlos.

Sojitrawalla: Für ihren ersten Eindruck spricht, dass die Figur Neo Rauch ähnlich sieht.

Ullrich: Es gibt Leute, die haben behauptet, er habe exakt mich getroffen (lacht). Es ist aber eher so eine typische Rauch-Figur, ein etwas finster blickender Mann, auch von der Kleidung nicht zuzuordnen. Das sind, wie Sie richtig sagen, Stellvertreter-Figuren. Es geht nicht so sehr um mich alleine, es geht um die Rolle der Kunstkritik insgesamt. Ich war auch keineswegs der Erste, der auf die Erkenntnis gekommen ist, dass sich bei Rauch rechte Motive finden. Zudem stehen die Initialen W. U. wohl auch noch für einen anderen: Walter Ulbricht, der natürlich auch sehr stark assoziiert ist mit der Unterdrückung von Meinungsfreiheit und mit dem, was die Neue Rechte »Meinungskorridor« nennt. Von daher ist die Figur womöglich wirklich allgemeiner gedacht und kein Porträt von mir.

Sojitrawalla: Der Konflikt mit Neo Rauch hat eine spezifische Ost-West-Dimension: hier der böse Westkritiker, dort der verfolgte Ostkünstler. Wäre es andersrum überhaupt denkbar?

Ullrich: Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Ich glaube aber auch, dass ein ostdeutsch sozialisierter Kritiker nicht so eine harsche Reaktion erfahren hätte. Ich glaube tatsächlich, dass es diese spezifische Konstellation ist, die dazu geführt hat. Der Konflikt hat eine lange Vorgeschichte, das hat gleich mit der Wende begonnen, als viele ostdeutsche Künstler nicht ganz zu Unrecht die Sorge hatten, dass sie jetzt an Aufmerksamkeit einbüßen würden.

Sojitrawalla: Bei Neo Rauch war das Gegenteil der Fall.

Ullrich: Ja. Er hat, gerade weil er aus dem Osten kam und das für viele damals ein neues und aufregendes Terrain war, riesige Erfolge gefeiert. Doch sein tiefes Misstrauen gegenüber dem Westen und sein Verständnis von Kunst sind geblieben. Ich habe für mein Buch alle Interviews nachgelesen, um noch mal besser zu verstehen, wann sich da bei ihm solche Aversionen aufgebaut haben. Das beginnt schon sehr deutlich und sehr konsequent ab Mitte der Nullerjahre. Das Misstrauen gegenüber dem Westen, der seiner Kunst eigentlich nur schaden möchte.

Sojitrawalla: Das Ausmaß der Ost-West-Differenzen tritt jetzt, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, erst richtig zu Tage. In ihrem gemeinsam mit Wolfgang Engler verfassten Buch Wer wir sind schreibt Jana Hensel: »Die innerdeutschen Ressentiments sind eines der größten Tabus unserer Gesellschaft. Keiner der beiden Seiten gibt offen zu, wie groß die Vorurteile sind«. Stimmen Sie ihr zu?

Ullrich: Bevor Neo Rauch sein Bild gemalt hat, hätte ich ihr wahrscheinlich Pessimismus vorgehalten. Heute aber würde ich ihr leider absolut zustimmen. Ein bisschen war das auch die Motivation für mein Buch: auszuloten, was passiert, wenn man aus westdeutsch sozialisierter Sicht seine Wahrnehmung schildert. Als jemand, der seit einigen Jahren im Osten lebt und hier auch viele Kontakte zu Menschen hat, die aus dem Osten stammen.

Sojitrawalla: Die Differenzen waren Ihnen also nicht neu?

Ullrich: Nein. Auch vor dieser Kontroverse habe ich gemerkt, wie oft man auf große Differenzen stößt, die aber keineswegs immer in so ein Zerwürfnis münden. Das ist jetzt hier die Ausnahme. Man kann sich auch sehr gut immer wieder ins Benehmen setzen. Es kommt dann zwar nicht zu einer Einigung, aber doch dazu, dass man die unterschiedlichen Standpunkte austauscht und den anderen dann besser versteht.

Sojitrawalla: In Ihrem Buch berichten Sie von dem Vorwurf, wir würden in einer »DDR 2.0«, also in einer zweiten DDR leben.

Ullrich: Dieser Vorwurf wird seit ein paar Jahren standardmäßig erhoben. Ich rekonstruiere, wie es dazu kommt und ob es automatisch ein rechter Plot ist oder ob man das auch behaupten kann, ohne AfD zu wählen. Ich habe da viele Erfahrungen gemacht, weswegen es mir nötig schien, dass mal breiter aufzufächern. Das ist ein Punkt, wo die Kluft zwischen ostdeutscher und westdeutscher Sozialisierung riesig ist.

Sojitrawalla: Manche sagen, es habe sich im Osten Deutschlands eine Opfererzählung verselbstständigt. Ist das auch Ihre Wahrnehmung?

Ullrich: Ich denke, die Opfererzählung war lange Zeit verbreitet. Nach dem Motto »Der Osten ist vom Westen kolonialisiert worden, im Grunde ist den Ostdeutschen ihr Land abhandengekommen, sie sind in derselben Situation wie Migrantinnen und Migranten«. Das waren dominierende Erzählungen. Interessant an dem neuen Topos »DDR 2.0« ist für mich, dass sich das hier umdreht. Mir begegnet das dauernd in Gesprächen, dieses leicht überlegene »Ja, wir wissen eben, wie das war in einer Diktatur, wir erkennen das gleich, wenn es wieder soweit ist« oder: »Ihr seid naiv, Ihr Wessis«.

Sojitrawalla: Es geht dabei um Deutungshoheit und eine Umkehrung der Machtverhältnisse?

Ullrich: Es ist eine Form von Selbstbehauptung und Selbstermächtigung. Man sieht sich lieber als derjenige, der den anderen etwas voraus hat. Lange war man das Opfer, und jetzt kann man sich die negativen Erfahrungen zunutze machen.

Sojitrawalla: Sie schreiben in Ihrem Buch, wir hätten zu wenig über die mentalen Unterschiede zwischen Ost und West gesprochen und diskutiert. Lässt sich das nachholen oder wiedergutmachen?

Ullrich: Ja, ich denke schon. Vielleicht liegt auch jetzt erst genug vor, um wirklich eine Diskussion in Gang zu bringen. Wie das Bild von Neo Rauch oder Texte von Uwe Tellkamp und Monika Maron. Man hat wirklich das Gefühl, jetzt kann man so einer Diskussion gar nicht mehr aus dem Weg gehen, selbst wenn es noch so tabuisiert sein mag. Man kann es nicht mehr verschweigen und nicht mehr bagatellisieren.

Sojitrawalla: Apropos Uwe Tellkamp, er ist eine Art Bruder im Geiste von Neo Rauch...

Ullrich: Da passt kein Blatt Papier dazwischen.

Sojitrawalla: Von Tellkamp aber haben sich nach seinen rechtslastigen Äußerungen viele distanziert, selbst sein eigener Verlag ruderte zurück. Bei Neo Rauch distanziert sich niemand. Liegt das am besonderen Nimbus bildender Künstler?

Ullrich: Ja, es liegt tatsächlich an der Rolle des bildenden Künstlers, dem man stärker als einem Schriftsteller zugesteht, die Grenze zwischen Realität und Fiktion spielerisch zu überschreiten. Da ist man eher bereit zu sagen: Das ist doch nur eine Pose, eine Inszenierung, ein Als-Ob. Bei einem Schriftsteller indes, einem Mann des Wortes, verbucht man Interviewaussagen eins zu eins als seine Meinung.

Sojitrawalla: Ist das der einzige Unterschied?

Ullrich: Nein, es ist auch ein anders strukturierter Markt. Ein bildender Künstler in der Liga von Neo Rauch hat eine ganz andere Art von Lobby. Es gibt viele Leute, die viel Geld in diesen Künstler investiert haben. Und die wollen natürlich nicht, dass er einen Karriereknick erleidet und damit ihr Geld verschwindet. Ein bildender Künstler hat es sehr viel leichter als ein Schriftsteller, unbeschadet aus solchen Konflikten zu kommen.

Sojitrawalla: Der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, schreibt in seinem Buch Empowerment Ost. Wie wir zusammen wachsen, dass gute Ostkünstler lange Zeit nur solche gewesen seien, die den Osten verlassen haben, also Gerhard Richter, Georg Baselitz, A. R. Penck. Deckt sich das mit Ihrer Erfahrung?

Ullrich: Das sehe ich nicht so. Es gab schon zu Zeiten der deutschen Teilung Interesse an einigen Künstlern der DDR, beispielsweise an Wolfgang Mattheuer oder Bernhard Heisig. Die sind schon in den 80er Jahren im Westen hochgeschätzt gewesen und bekamen Einzelausstellungen. Berühmt ist auch die Geste von Helmut Schmidt, sein Porträt für die Kanzlergalerie von Heisig malen zu lassen. Das war ein starkes Symbol für die Wertschätzung dieser Leipziger Malerschule.

Sojitrawalla: Auch nach 1990 hat sich die Aufmerksamkeit schnell in den Osten gerichtet.

Ullrich: Ja, man war neugierig. Gerade der Kunstmarkt will ja immer neue Ware, Neuentdeckungen machen, die man dann gut anpreisen kann. Gerade ostdeutsche Kunst ließ sich im Ausland sehr gut als Kunst darstellen, die in spezifisch sehr deutschen Traditionen steht. Der ganz große Erfolg von Neo Rauch begann in den USA. Trotzdem war 1990 für viele ostdeutsche Künstler ein Einschnitt in ihrer Karriere. Für viele andere war es aber auch eine große Chance.

Sojitrawalla: Wie ist die Situation heute? Sind etwa die Werke ostdeutscher Künstler in den westdeutschen Sammlungen unterrepräsentiert?

Ullrich: Sie sind sicher oft unterrepräsentiert, sie sind aber oft auch im Osten unterrepräsentiert, wenn auch nicht unbedingt in den Sammlungen. Doch die Talsohle ist schon durchschritten. Es sind sicher Fehler passiert, aber auf Museumsebene ist das Problem mittlerweile erkannt und man steuert dagegen.

Sojitrawalla: Liegt oder lag diese mangelnde Repräsentation daran, dass so wenige Museen von Ostdeutschen geleitet werden?

Ullrich: Natürlich. Niemand entkommt seiner Sozialisierung, jeder hat seinen Kanon und seine Steckenpferde. Tatsächlich war es unglücklich, dass Leute aus dem Westen sehr schnell sehr viel Verantwortung für große Sammlungen und Ankaufspolitik hatten, auch wenn sie die lokale Szene nicht gut kannten. Aber nach allem, was ich jetzt wahrnehme, haben sie inzwischen ihre Lektion gelernt.

Sojitrawalla: Woran liegt es, dass es so wenige ostdeutsche Museumsdirektoren gibt?

Ullrich: Das ist kein Spezifikum der Museen, das betrifft Universitäten und viele andere Institutionen genauso.

Man wollte oder konnte nach der Wende mit den alten Mannschaften nicht so ohne Weiteres arbeiten. Gerade Führungspositionen waren oft regimetreu besetzt. Die Führungskräfte aus dem Westen wiederum haben ihre Leute nachgeholt.

Sojitrawalla: Ich bin darüber gestolpert, dass Sie schreiben, es habe in Ostdeutschland keine Postmoderne gegeben.

Ullrich: Nachgeholt vielleicht schon noch, aber postmoderne Strömungen, die viel mit der Konsumgesellschaft und der Möglichkeit der Wahl zu tun haben, wurden in allen westlichen Ländern ab den 70er, aber vor allem ab den 80er Jahren sehr virulent. Das hatte mit Pluralismus, Vielfalt, Abwechslung zu tun. Das fehlt als Praxis im Osten. Eine Folge davon ist für mich im Umgang mit Kunst sichtbar. Im Westen hat man früh gelernt, Kunst nicht als Sonderfall, sondern als eine Ausdrucksform neben anderen zu sehen. Im Osten jedoch lebten kunstreligiöse Traditionen fort. Die Kunst als großer Singular ließ sich damit auch als Gegenstück zur Macht des Staates, ja als ideelles Machtzentrum empfinden.

Sojitrawalla: Ist das heute noch so?

Ullrich: Ich stelle immer wieder in Gesprächen mit aus Ostdeutschland stammenden Künstlern eine andere Identifikation mit dem eigenen Tun fest und einen anderen Glauben an die Kraft und die Sonderrolle der Kunst.

Sojitrawalla: Das Postmoderne bezieht sich also eher auf das Kunstverständnis als auf die Kunst selbst?

Ullrich: Genau. Man sieht das den einzelnen Werken nicht unbedingt an. Wobei ich schon sagen würde, dass man im Osten häufiger in den traditionellen Genres bleibt und damit ja auch noch mal ein Bekenntnis zu dieser Tradition ablegt. Da sind wir dann wieder beim spezifischen Konflikt westdeutscher Kritiker gegen ostdeutschen Künstler. Hier treffen andere Erwartungen und Vorstellungen von Kunst aufeinander. Und womöglich unterstellt der ostdeutsche Künstler à la Rauch dem westdeutschen Kritiker von vornherein, die Kunst nicht ernst genug zu nehmen.

Sojitrawalla: Sie haben gezögert, dieses Buch zu schreiben. Warum?

Ullrich: Die Frage war, kann ich dieses Buch schreiben, ohne bloß den Konflikt wieder aufzuwärmen. Ich habe schon das Bedürfnis, dem Bild noch mal eine andere Bedeutung als nur die eines Schmähbildes zu geben. Ich möchte es als mentalitätsgeschichtliches Dokument ernst nehmen.

Sojitrawalla: Der Schriftsteller Ingo Schulze wäre bereit, sich mit Uwe Tellkamp auf ein Podium zu setzen, um sich mit seinen Positionen auseinanderzusetzen. Wie ist das bei Ihnen, würden Sie sich mit Neo Rauch zusammensetzen?

Ullrich: Jederzeit. Es gab auch schon Versuche, uns gemeinsam auf ein Podium oder in eine Redaktion zu bringen oder auch zu einem privaten Abendessen. All das wurde von ihm abgelehnt.

Sojitrawalla: Schade.

Ullrich: Ja, auf jeden Fall schade. Vielleicht aber auch Ausdruck seines Selbstverständnisses als Künstler.

Wolfgang Ullrich: Feindbild werden. Ein Bericht. Der neue Ost-West-Konflikt. Wagenbach, Berlin 2020, 144 S., 10 €.

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