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Kernelemente einer neuen sozialdemokratischen Erzählung – ein Versuch Marke Zusammenhalt

Ist die SPD-Geschichte auserzählt? Im tagespolitischen Bild sieht es manchmal so aus. Nicht nur, weil Journalismus und Publizistik stets gerne das Ende eines sozialdemokratischen Zeitalters ausrufen. Auch, weil der Diskurs innerhalb der SPD oft altbacken, reflexhaft wirkt. Was nicht mehr funktioniert, ist die alte sozialdemokratische Markenbildung. Die Erzählung, das Narrativ stimmt nicht mehr. Es wird Zeit, neu darüber nachzudenken.

Elemente davon waren mal richtig populär: die Friedenspolitik Willy Brandts gegen die Hetze der kalten Krieger, die Rolle als »Schutzmacht der kleinen Leute« bei Johannes Rau, die Öffnung der Gesellschaft für Aufstieg durch Bildung. All das waren milieuübergreifend sozialdemokratische Basiserzählungen, erkennbar im Alltag und mit klarer Abgrenzung von anderen Parteien – wozu diese selbst viel beitrugen, was heute allerdings anders ist. Und es waren Erzählungen, die nicht alleine für Einzelgruppen oder direkt Betroffene attraktiv waren, sondern für viele. Das ist der entscheidende Punkt.

Was die SPD nun jedoch schon seit Jahrzehnten plagt, ist der Widerspruch, dass bis heute ausweislich aller Meinungsdaten zwar viele ihrer Einzelforderungen sehr populär sind: ein höherer Mindestlohn, gebührenfreie Bildung und Kitas, mehr öffentliche Investitionen, Solidarität in Europa, Klarheit in Friedensfragen usw. usf., dass das andererseits aber bei Wahlen, wenn »das Ganze« betrachtet wird, wenn es auf Leitidee und Führungsfähigkeit ankommt, nicht mehr zieht. »Das Ganze«, das ist die Frage nach der Geschichte dahinter, nach dem Narrativ.

Dazu muss die Marke SPD nicht grundlegend geändert werden, auch wenn das intern manche immer wieder fordern, die nur Teilgesellschaften im Blick haben. Im Gegenteil: Wer Markenkerne verschiebt, verliert meistens doppelt. Genau das war ja die Folge, nachdem um das Jahr 2000 herum immer mehr wirtschaftsliberale, damals scheinbar zeitgeistige Ideologieelemente in die sozialdemokratische Tagespolitik hineingepresst worden waren.

Aber der Markenkern muss neu herausgearbeitet und auf die heutige Gesellschaft bezogen werden. Aktualisiert, entstaubt, erkennbar gemacht. Nicht mit dem Anspruch, die SPD neu zu erfinden. Sie ist, wie sie ist. Kompromisshaft, nach innen und nach außen, aber dadurch – wenn es gut läuft – zusammenführend, was auf das zugehörige Hauptwort Volkspartei hindeutet. Sie wäre nicht so, wie sie ist, wenn es dafür nicht vielerlei gesellschaftliche Gründe gäbe, ob man die nun gut findet oder nicht. Insofern verbietet sich jedes hohe Ross, auch wenn dies von jeher der Lieblingssitzplatz aller Kritiker war.

Im Mittelpunkt eines sensibleren, die Realität akzeptierenden Herangehens muss die Frage nach der zentralen Botschaft stehen, nach der inhaltlichen Klammer. Da darf es gerade nicht zuerst darum gehen, Einzelgruppen zu hofieren, Einzelinteressen zu betonen – das machen alle, die den Volksparteianspruch nie hatten. Und dort, bei der Klientelpolitik, sind die Räume besetzt, gerade wegen der Abspaltungsbewegungen während der sozialdemokratischen Regierungszeiten.

In einer immer vielfältigeren, sozial und kulturell auseinanderdriftenden Gesellschaft kann die Marke SPD nur um einen zentralen Gedanken herum renoviert werden – den Gedanken von Gemeinsamkeit und Zusammenhalt in dieser Gesellschaft. Gemeinsamkeit – inhaltlich verstanden – bei den demokratischen Grundwerten, die heute als Voraussetzung für die Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität wieder neu gefestigt werden müssen. Bei gleichzeitig klarer Abgrenzung von allen, die diese Grundwerte missachten. Zusammenhalt, weil nur ein starker Kern der Gesellschaft die fortschreitenden Spaltungsprozesse – ökonomisch wie kulturell und politisch – stoppen kann.

Bei Grünen und Linkspartei fehlt die Breite des Politikansatzes. Sie sind und bleiben Milieuparteien, selbst wenn es ihnen hin und wieder gelingt, über die Klientel hinaus aktuelle politische Wellen für sich zu nutzen – für eine Weile. Den Grünen fehlt die soziale Breite und Sensibilität, der Linkspartei fehlt Bereitschaft und Fähigkeit zur kulturellen wie inhaltlichen Vielfalt. Bei den Unionsparteien fehlt in wichtigen Teilen die Eindeutigkeit der Abgrenzung von Populisten und Nationalisten. Die SPD ist die einzige Partei, die in Sachen Zusammenhalt der Gesellschaft über Beschwörungen hinaus vom programmatischen Potenzial her zum Magneten werden könnte.

Dieser Magnet wird dringendst gebraucht. Denn das demokratische, liberale, weltoffene und wertegebundene Zentrum der Gesellschaft ist zwar immer noch weit stärker, als es in der medialen Spiegelung aussieht. Aber es erodiert an den Rändern. Es gibt zu wenige Kräfte, die es zusammenhalten. Und es gibt insbesondere kaum Kräfte, die mit dem Anspruch antreten könnten, diesen Zusammenhalt durch soziale Begegnung und Gemeinsamkeit über die Milieus hinweg zu erden.

Die erneuerte sozialdemokratische Erzählung muss daran anknüpfen und all diejenigen gesellschaftlichen Kräfte bündeln, die zur Demokratie stehen und noch an Zusammenhalt interessiert sind. Die dann aber auch bereit sind, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit als wichtigste Ursache all der Spaltungstendenzen zu erkennen und abzubauen. Die Vielfalt als Bereicherung und Chance betrachten – bei aller hin und wieder notwendigen Debatte darüber, dass es für wertegebundene Politik auch Grenzen der Offenheit geben muss.

Wer sieht, wie ausgiebig andere Parteien (zumal die Union) inzwischen sozialdemokratische Politikansätze kopieren, muss der These vom Ende der integrierenden Rolle der SPD vehement widersprechen. Urheber werden nicht überflüssig, wenn andere sie kopieren. Aber auf Seiten der SPD ist zu vieles verwechselbar geworden, manchmal macht sie sich angesichts ihrer starken Binnenfixiertheit sogar selbst unsichtbar.

Nachdem der Themen- und Begriffsklau geradezu grenzenlos wurde, hantiert – beispielsweise – sogar die schwarz-grüne Koalition in Hessen inzwischen mit dem Begriff »Zusammenhalt«. Das typisch sozialdemokratische Projekt wird zwar nie unter Kopierschutz gestellt werden können. Aber aus Zusammenhalt wird erst dann eine politische Marke, wenn eine kleine Zusatzfrage mit beantwortet wird: Zusammenhalt wozu? Dann wird es sofort politisch, dann scheiden sich die Geister. Und dann ist die SPD das Original, immer noch.

Die sozialdemokratische DNA

Für die sozialdemokratische Antwort auf die Frage nach dem »Wozu?« braucht es nun aber zeitgemäße Festlegungen. Im Folgenden zehn Vorschläge, wie man die sozialdemokratische DNA in veränderten Zeiten klar ausweisen könnte:

1. Unser »Wir« ist ein offenes: Jeder Versuch, Gruppen oder ganze Gesellschaften abzuschotten, sie über andere zu erheben oder nach außen gleichgültig zu werden, verstärkt Entsolidarisierung und Gegeneinander. Dabei ist Offenheit nie etwas Absolutes, sie braucht immer Abwägungen hinsichtlich Regeln und Werten. Aber sie ist ein Prinzip.

2. Entwertung verboten: Niemand darf wegen seiner kulturellen, ethnischen, sozialen oder materiellen Möglichkeiten zurückgesetzt werden. Als schönes Prinzip ist das weithin akzeptiert, aber in der gesellschaftlichen Realität gibt es permanent und oft sogar unbewusst Entwertungen – von der Politik viel zu wenig thematisiert. Wertschätzung hat stets mit Geld zu tun – wie mit sozialem Status.

3. Arbeit bleibt das Zentrum: Wie auch immer Globalisierung und Digitalisierung die Welt weiter verändern – im Zentrum des Zusammenlebens wird weiter die Arbeit stehen, als Produktivkraft, als Lebensform, als Selbstwertquelle, als Begegnungsort. Zusammenleben vom Zusammenarbeiten her zu denken, Persönlichkeit von den Tätigkeiten her – darum geht es nach wie vor.

4. Gemeinsamkeit braucht materielle Ziele: Das Prinzip Zusammenhalt ist nichts rein Karitatives, Selbstloses. Es ist auch das Prinzip, innerhalb dessen eigener Ehrgeiz und eigene Interessen gelebt werden sollen. Materielle Erfolge, sei es besserer Lohn, gerechtere Steuern oder adäquatere soziale Absicherung, sind gute und richtige Ziele. Dafür zu kämpfen stärkt Solidarität und Zusammenhalt.

5. Wandel darf keine Bedrohung sein: Das gilt sowohl im Großen als auch im Kleinen, sowohl für die politische Steuerung als auch für den persönlichen Umgang mit Veränderungen. Sozialer Fortschritt muss so definiert werden, dass auch schwierige Veränderungen erträglich bleiben – durch Solidarität und Zusammenhalt. Nur mit dem Anspruch einer Volkspartei lässt sich diese Sensibilität aufbringen.

6. Erhalt der Lebensgrundlagen ist ein grundlegender moralischer Auftrag: Wenn es um die großen Umweltthemen und das Prinzip Nachhaltigkeit geht, wird viel zu schnell interessenpolitisch gedacht. Das ist dem kapitalistischen Wirtschaftssystem eigen, aber es entspricht schon lange nicht mehr der Wahrnehmung der Menschen. Moralische Prinzipien dürfen nie politisch verkauft werden.

7. Staatlichkeit braucht Kontrollerfolg: Zum Teil ist es durch Überregulierung selbstverschuldet, zum Teil liegt es an der Komplexität der Themen – jedenfalls wird viel zu wenig sichtbar, dass der Staat (Politik, Verwaltung, Justiz) tatsächlich Werte und Ziele durchsetzt. Da gibt es in der individualisierten Netzgesellschaft neue Abwägungen, aber nur ein erkennbarer starker Staat stärkt den Zusammenhalt.

8. Die Bedeutung der nationalen Ebene bleibt klar: Gerade weil Offenheit und Vielfalt stets Internationalisierung bedeuten und die Zusammenarbeit in Europa ausgebaut werden muss, braucht es gut sichtbare Weichenstellungen innerhalb des nationalen Entscheidungsraums. Gemeinsamkeit zerfällt mit Ohnmachtsgefühlen. Offenheit nach außen braucht Selbstvertrauen nach innen.

9. Auch die digitale Welt braucht Regeln: Respekt und Vertrauen gegenüber den Institutionen der Demokratie nehmen ab. Die Art, wie wir kommunizieren und wie Meinungen gebildet werden, ist grundlegend für alles Politische. Die Gesellschaft muss den Zerfall der Öffentlichkeit stoppen und der Staat starke Regeln gegen ihre Zerstörung durch Hass und Manipulation entwickeln.

10. Führungsanspruch statt Funktionspartei: Die Rolle der Parteien wandelt sich weiter, ihre Aktivisten werden immer weniger repräsentativ, ihre Verankerung wird indirekter. Sie sind Beauftragte auf Zeit, ein wachsender Teil des Publikums sucht stets neue Projektionschancen. Wenn Zusammenhalt die politische Kernbotschaft ist, geht es bei Wahlen stets um die Führungsfähigkeit, nicht um Teilrollen.

Innere Gemeinsamkeit vorleben

In all diesen Punkten lassen sich Einzelforderungen aufnehmen oder verwerfen. Für den Erfolg der Marke Zusammenhalt aber sind diese Einzelthemen zweitrangig. Aber sie müssen die große Linie stärken, sie nicht dementieren. Der Erfolg entscheidet sich daran, ob die Marke glaubwürdig vertreten und die Erzählung zum Klingen gebracht wird. Das muss sich immer wieder neu erweisen, was im Umkehrschluss heißt: Auch Wahlniederlagen sind immer nur Momentaufnahmen. Die Erzählung ist die Erwartung an demokratische Politik, dass sie vor allem eines leistet – den demokratischen Kern der Gesellschaft anzusprechen, zu stärken, ihn in die Verantwortung zu nehmen und dabei Brücken anzubieten zwischen unterschiedlichen Sichtweisen und Interessen.

Die Zeiten, in denen die mediale Öffentlichkeit es schon irgendwann übernommen hat, diese wirklich wichtigen Fragen in den Mittelpunkt zu rücken, sind vorbei. In der Medienwelt grassieren Bedeutungsverlust und Profilsucht im Eigeninteresse (verbunden mit der bekannten Haudrauf-Mentalität). Dort sind Tages- und Personenfixiertheit längst zum Prinzip geworden, für die langen Linien muss die Politik schon selbst sorgen.

Das bedeutet dann aber auch: Die Sozialdemokratie muss selbst Gemeinsamkeit und Zusammenhalt vorleben, statt vielfach immer wieder Selbstzweifel und interne Interessenkämpfe vorzuführen. Sie muss Vielfalt und Unterschiedlichkeit intern nicht nur aushalten, sie muss sie wollen. Anstatt immer so zu tun, als lasse sich der eine Flügel durch den anderen Flügel irgendwann einmal final besiegen.

Jedes erneuerte Narrativ kann nur von innen heraus transportiert werden, damit es ansteckend wirkt und die handelnden Personen bzw. die Art des Auftretens glaubwürdig zu ihm passen. Gelingt eine solche kämpferische innere Gemeinsamkeit nicht bald, dann ist auch ein komplettes Scheitern des Projekts Volkspartei denkbar geworden, ein Absinken in eine randständige politische Rolle, die vielleicht noch Tradition, aber dann keine Zukunft mehr hat. Dann wäre diese Geschichte tatsächlich auserzählt.

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