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Ist ein Aufbruch nach zwei Dekaden der Herrschaft König Mohammeds VI. möglich? Marokko – Wandel in der Kontinuität

In der arabischen Welt, die von Bürgerkrieg, Aufruhr oder politischer Instabilität (Algerien, Libanon, Irak, Sudan, Syrien, Jemen) geprägt ist, erscheint Marokko als ein Land des Friedens, der gesellschaftlichen Reformen und Entwicklung. Diese Wahrnehmung hängt mit dem Wirken des »Reformkönigs« Mohammed VI. zusammen, der seit Mitte 1999 im Amt ist, also seit gut zwei Jahrzehnten – mit unbestrittenen Erfolgen. Doch unter der glatten Oberfläche sind Risse im politischen System erkennbar. Fragmentierte und in sich zerstrittene politische Parteien gaukeln die funktionierende Routine einer Demokratie vor. Zugleich ertönt der Ruf nach sozialen Reformen und wirtschaftlichem Aufschwung. Muss der König wieder einmal mit einer Initiative »von oben« eingreifen? In seiner Thronrede zum Jubiläum am 30. Juli 2019 ging er auf die Probleme ein: Das alte »Modell Marokko« sei erschöpft und müsse sich neu erfinden. Der König rief zum Aufbruch in ein »Marokko 2.0« auf. Die Herrschaft Mohammeds VI. über mehr als 20 Jahre hat für Marokko Modernisierungserfolge in Wirtschaft und Gesellschaft gebracht – die Zeitschrift Jeune Afrique spricht von einer Metamorphose des Landes, »aus Untertanen unter Hassan II. seien Bürgerinnen und Bürger unter Mohammed VI. geworden«. Doch trotz des Erfolges zeigen sich zunehmend wirtschafts- und sozialpolitische Defizite. Infolge der politischen Proteste 2011 während des Arabischen Frühlings wurde vom König eine »modernisierende« Verfassungsreform eingeleitet, die eine »konsultative« Demokratie mit zwei Kammern hervorbrachte – mit einem Parteienpluralismus im Spektrum von klassisch national-konservativ bis links sowie einer großen islamisch-orientierten Volkspartei, der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Parti de la justice et du développement, PJD) mit einem radikalen Flügel.

Der König initiierte eine Wachstumswirtschaft, die in früheren Jahren Wachstumsraten zwischen 6 und 7 % pro Jahr hervorbrachte, 2018 aber nur noch bei 2,9 % lag. Dieses Wirtschaftswachstum blieb bislang jedoch ohne hinreichende Beschäftigungseffekte: Bei einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von rund 10 % ist sie besonders bei jungen Leuten bis 35 Jahren (67 %) mit Diplom und in den Städten extrem hoch. Der prekäre Arbeitsmarkt ist mit einem Anteil von 40 % der Beschäftigten, die weniger als den Mindestlohn verdienen, sehr groß. Mohammed VI. förderte andererseits die Hochtechnologie (etwa im Bahnverkehr den französischen TGV), den Ausbau von Flughäfen und Bahnhöfen sowie alternative Energien. Gleichzeitig ist der König auch im Fokus der aktuellen Debatte über Nachhaltigkeit, Umweltbewusstsein und Klimasensibilität seit die 22. UN-Klimakonferenz im November 2016 in Marrakesch stattfand.

Der König drängt zudem auf die Rückkehr Marokkos in die Staatengemeinschaft der Afrikanischen Union und nähert sich der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS an; er fördert eine Transatlantikorientierung und Handelsbeziehungen zu China. Parallel dazu entwickelt sich Marokko zu einem Urlaubs- bzw. Freizeit- und Rückzugsraum konservativer Gesellschaften der arabischen Halbinsel. Zudem ist es ein Musterland der Zusammenarbeit mit der EU in den Bereichen Agrar-, Sicherheits- und Migrationspolitik.

Hochmodern und zugleich vormodern

Marokko ist eine Monarchie mit einer religiösen Dimension. Der marokkanische Autor Omar Saghi spricht von »zwei Körpern im König«. Er ist Staatschef mit exekutiven Befugnissen und gleichzeitig geistliches Oberhaupt als Scherif (Nachfolger des Propheten Mohammed). Als Makhzen (Zentralgewalt) nimmt er eine verknüpfende, integrative Stellung ein und ist zudem Chef eines Wirtschaftsimperiums. Er ist sowohl im Bereich der weltlich-technischen Institutionen angesiedelt als auch im Bereich von Kultur und Religion. In seinen verschiedenen Aufgaben und Rollen verwischen und überlappen sich dabei die Kategorien.

Die erste große gesellschaftspolitische Reform von Mohammed VI. war die 2003 in Kraft gesetzte Familienrechtsreform, die Moudawana, in der zum ersten Mal die genuinen Rechte der Frau, die Rechte und die Interessen des Kindes (also das Kindeswohl) in einem modernen Rechtsverständnis festgehalten wurden. Als zweite Modernisierungsleistung wird die Verfassung von 2011 genannt, die der König unter dem Eindruck des Arabischen Frühlings am 17. Juni 2011 vorschlug und die am 1. Juli 2011 in einem Referendum von der Bevölkerung mit 98,5 % Zustimmung bei einer Beteiligung von 73,5 % angenommen wurde. Dadurch erhielt Marokko Institutionen eines modernen Verfassungs- und Rechtsstaates, blieb aber dennoch nach islamischem Rechtsverständnis lediglich eine »konsultative Demokratie«. Das hängt mit der weiterhin außerordentlich starken formalen Stellung des Königs zusammen, der Regierungschefs und Minister ernennt und entlässt, gleichzeitig aber auch als Amir al-Mu'minin (Kommandant der Gläubigen) die religiös-islamische Deutungshoheit für die marokkanische Bevölkerung innehat.

Der marokkanische Islam sunnitischer Richtung und malikitischer Ausprägung ist im Allgemeinen tolerant gegenüber anderen Religionen. Mohammed VI. möchte einen modernen Islam dem verhärteten, konservativen entgegenstellen und nennt die marokkanische Praxis ein Ergebnis von Reformen, die darauf abzielen, »die Gesellschaft gegen die Risiken der ideologischen Instrumentalisierung der Religion immun zu machen«, indem er Bezug auf die Sure al-Maida (»Der Tisch ist gedeckt«) nimmt, in der der Prophet sagt: »Wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch als eine einzige Einheit geschaffen«. Die Menschheit ist aber plural, vielfältig geschaffen worden. Das bedeutet aber auch, dass die verschiedenen Religionen wie Judentum, Christentum und Islam von Gott gewollt sind und diese Vielfalt als Aufgabe der Koexistenz und der wechselseitigen Toleranz vor die Menschheit gestellt ist, an der sich alle Religionen abzuarbeiten hätten. Die Zunahme ideologischer, interreligiöser und ethnischer Konflikte verpflichte alle Religionen, sich in einer gemeinsamen, solidarischen und wirksamen Aktion dem entgegenzustellen. Mohammed VI. verweist auf die Restaurierung von jüdischen Friedhöfen und Synagogen und den Erhalt christlicher Kirchen in Marokko. Nach offizieller Lesart verfolgt das Königreich Marokko auf allen Ebenen einen ganzheitlichen humanistischen Plan, der die Universalität der Menschenrechte und die Würde aller Menschen, auch die der Migranten einschließt.

Mit diesem religionspolitischen Konzept ist der König bisher gut gefahren. Marokko wird vom Global Terrorism Index zusammen mit Staaten wie Bhutan, Mauritius, Katar und Island als sehr sicher eingestuft. Trotzdem blieb das Land nicht vom Terror verschont. Am 16. Mai 2003 wurden ein Hotel, das jüdische Gemeindezentrum und das belgische Konsulat in Casablanca zeitgleich attackiert. Es gab 41 Tote und 100 Verletzte; am 28. April 2011 wurde ein Café in Marrakesch per ferngezündeter Bombe zerstört und 16 Menschen getötet. Danach verstärkten die Behörden die Kontrolle des radikalen Islammilieus durch administrative und polizeiliche Maßnahmen vor allem durch die massiv ausgebaute Generaldirektion für nationale Sicherheit. Dieser Schritt leuchtet ein in einem Land, das den internationalen Tourismus zu einem wirtschaftlichen Wachstumssektor erklärt hat und Attacken auf Hotels und Märkte nicht dulden kann. Entsprechend heftig war die Reaktion der marokkanischen Öffentlichkeit, als zwei skandinavische Rucksacktouristinnen im Dezember 2018 am Fuße des Berges Toubkal bei Imlil im Hohen Atlas in ihrem Zelt brutal umgebracht wurden. Eine marokkanische Terrorzelle, die von der Ideologie des IS inspiriert war, ohne jedoch organisatorische Bindungen nach Syrien gehabt zu haben, hat die Verbrechen begangen. Der Prozess in Salé gegen insgesamt 24 Beschuldigte fand nach mehreren Prozesstagen am 17. Juli 2019 mit der Verkündung von vier Todesurteilen für die Hauptangeklagten und langen Haftstrafen für ihre 20 Komplizen oder Mitangeklagten seinen Abschluss. Der marokkanische Staat habe die Verantwortung für die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger auf seinem Territorium zu gewährleisten, konstatierte der Richter. Der Prozess bekam dadurch eine neue politische Dimension.

Die Stabilität des Regimes stützt sich auf eine starke Kontrolle der »Amtsmoscheen«, deren Imame und Ulemas (Rechtsgelehrten) der Aufsicht des Innenministeriums unterliegen, sowie auf eine massive Förderung der Zaouias (religiöse Zentren und Schulen) mit ihren vielfältigen Bruderschaften, Marabouts (islamische Heilige) und Sufis durch das Ministerium für religiöse Angelegenheiten. Neben dieser sichtbaren Seite des marokkanischen Islam gibt es eine andere, weniger sichtbare Dimension. Die religiöse Vereinigung »Mouvement de l'Unicité et de la Réforme« (MUR) ist eine religiös-kulturelle Bildungsorganisation, die 1996 von dem Theologen Ahmad al-Raysuni und dem Lehrer Abdelilah Benkirane (Premierminister von 2011–17) gegründet wurde. MUR wurde das ideologische Rückgrat der islamistischen Partei PJD, der heutigen Regierungspartei. Die zweite religiös-politische Gruppe ist Al-Adl Wal-Ihsan, die 1973 von Cheikh Abdesslam Yassine, einem Inspekteur im Erziehungsministerium, ins Leben gerufen wurde. Die Gruppe wird auf 20.000 bis 30.000 Mitglieder geschätzt, ist zwar nicht erlaubt, wird aber geduldet und fordert die Abschaffung des Königtums und die Einführung eines Kalifats, allerdings gewaltfrei.

Das heutige Parteienspektrum in Marokko (bestehend aus 33 zugelassenen Parteien) spiegelt einerseits die Pluralität der Gesellschaft wider, führt aber im täglichen Geschäft der Koalition mit vielen kleinen Parteien zu einer Politiklosigkeit oder Veränderungsunfähigkeit. Die augenblickliche Koalition »Othmani II.« aus PJD, Nationaler Sammlung der Unabhängigen (RNI), der Volksbewegung (MP), der Partei des Fortschritts und des Sozialismus (PPS) und der Sozialistischen Union der Volkskräfte (USFP) war durch den Wunsch des Königs zustandegekommen: »Ich will frische, dynamische, unverbrauchte Köpfe in der Regierung sehen«. Regierungschef Saadeddine Othmani konnte sich trotz aller Unkenrufe halten. Entsprechend ihrer Stärke im Parlament besetzt die PJD außer dem Posten des Regierungschefs auch wichtige innenpolitische Ressorts (Inneres, religiöse Angelegenheiten, Bildung); Finanzen und Wirtschaft werden durch die wirtschaftsliberale RNI gesteuert. Othmani ist innerhalb der PJD ein Vertreter des gemäßigten Flügels, bekommt vom fundamentalistischen Flügel Sperrfeuer und ist gezwungen, gesichtswahrende Kompromisse mit allen zu schließen. Darin wird eine mittelfristige Politik des konservativen Flügels der PJD gesehen, sich für die nächsten Wahlen als alleinige tragfähige Option vor der Wählerschaft in Erinnerung zu bringen.

War die Entlassung Benkiranes als Regierungschef 2017 Vorbote eines politischen Erdbebens, das der König 2018 und 2019 wiederholt angedeutet hat? Wenn ja, welche Optionen hätte der König für einen politischen Neustart? Hat er die Möglichkeit, eine Allparteienkoalition ohne Beteiligung der Partei Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) in die Wege zu leiten? Oder spaltet sich die PJD und der Othmani-Flügel geht neue Allianzen mit anderen Gemäßigten ein? Mit einer schlichten Kabinettsumbildung ist es nicht getan. Bei den schlechten sozialen und wirtschaftlichen Werten des »Patienten Marokko« kann man nicht bis zu den Parlamentswahlen 2021 warten. Der König müsste gewissermaßen einen New Deal aus der Taufe heben und alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte darauf einschwören. Als Amir al-Mu'minin, Kommandant aller Gläubigen, hätte er die moralische Autorität dazu. Fürs Erste scheint er sich mit der Ernennung von Chakib Benmoussa, Marokkos Botschafter in Paris, zum Vorsitzenden der »Sonderkommission für das Entwicklungsmodell Marokko 2.0« am 19. November 2019 aber für eine konservative Option entschieden zu haben.

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