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Marx, der Weltmarkt und das Kapitalozän

Die Wirtschaftswissenschaften firmieren in Deutschland immer noch unter den Bezeichnungen »Volkswirtschaftslehre« oder »Nationalökonomie«. Schon in dieser Namensgebung kommt der nationalstaatliche Bezug einer Disziplin zum Ausdruck, die ein, wie auch immer definiertes »Volk« als Angelpunkt betrachtet. Das Primat der (nationalstaatlichen) Politik ist Ausgangspunkt der Analyse und ihr Prinzip der »methodologische Nationalismus«. Volkswirte sind gefangen in den Koordinaten des Nationalen. Dabei hatten die französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts die Ökonomie noch der Lehre von der für alle Menschen gültigen Moral zugeordnet (vgl. das »figürlich dargestellte System der Kenntnisse des Menschen« im ersten Band der von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert herausgegebenen Encyclopédie aus dem Jahr 1751). Adam Smith, der als Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften gilt, schrieb vor seinem epochemachenden Werk über den Ursprung des Wohlstands der Nationen 1759 eine Theorie der ethischen Gefühle. Die Wissenschaft von der Wirtschaft war für diese Generation von Theoretikern politisch, sie hatte eine Vorstellung von der Einbettung der Wirtschaft in Gesellschaft, Politik und Moral. Denn in der realen Ökonomie ging es um die Erzeugung und die Verteilung des produzierten Wohlstands und daher immer um die Geschicke des Gemeinwesens. Darum war es auch interessant zu streiten, eine wertfrei-uninteressierte Wirtschaftswissenschaft, wie sie heute gefordert und gefördert wird, ergab da keinen Sinn.

Denn obendrein war das Gemeinwesen eine Klassengesellschaft, wie es politische Ökonomen, etwa Henri de Saint-Simon oder David Ricardo, bereits vor Karl Marx erkannt hatten. Der Reichtum neuer Fabrikherren und Kaufleute einerseits und die Armut eines unter miserablen Bedingungen lebenden Proletariats andererseits stachen im frühen 19. Jahrhundert in die Augen. Die Romane von Émile Zola, Honoré de Balzac, Charles Dickens und anderen zeugen davon. Friedrich Engels untersuchte Die Lage der arbeitenden Klasse in England und schuf so eine der ersten großen soziologischen Studien über die subalterne Arbeiterklasse. Marx jedoch formulierte eine umfassende und ausgearbeitete »Kritik der politischen Ökonomie« in einer Gesellschaft, deren alles beherrschende Subjekt nicht die Arbeiterklasse, sondern Das Kapital war, das schließlich auch Thema des berühmten, drei Bände umfassenden Werkes wurde und ihm den Titel gab. Die Kritik war, wie er anlässlich der Übergabe des Manuskripts des ersten Bandes 1867 an seinen Freund Johann Philipp Becker schrieb, als »das furchtbarste missile« im Klassenkampf gedacht, das den »Bürgern noch an den Kopf geschleudert worden ist«.

Der Gegenstand der Kritik der politischen Ökonomie ist also das unpersönliche Kapital, ein gesellschaftliches Verhältnis, das der kritischen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und Gesellschaftsformation, seinem Hauptwerk auch den Titel gab. Aber wo in der Welt existiert dieses unpersönliche Etwas, dieses Ensemble von Gesellschaft, Ökonomie und Politik unter der Herrschaft des Bewegungsgesetzes des Kapitals? In England, das Marx wegen seiner fortgeschrittenen Entwicklung und der ihm verfügbaren Analysen und Daten als Folie der Kritik nutzt. Der Ort des Kapitals könnte auch in Deutschland, in den USA oder in den damaligen Kolonien liegen. An der Begrifflichkeit würde sich bei der Analyse der – wie Marx schreibt – »Bewegungsgesetze des Kapitals« nichts Wesentliches ändern. Denn immer würde es sich um einzelne Fälle handeln, deren Bedingtheit und historische Dynamik sich nur in dem von Friedrich Engels so bezeichneten »dialektischen Gesamtzusammenhang« der kapitalistischen Produktionsweise erschließt.

Marx begründet seine Kritik der politischen Ökonomie am Beispiel Englands daher erstens damit, dass England den anderen kapitalistischen Ländern ein Beispiel ihrer eigenen, zeitversetzten Entwicklung biete. So schreibt er an den deutschen Leser gerichtet, um ihm die Bedeutung der Analyse des britischen Kapitalismus für seine politischen Aktivitäten in Deutschland zu erläutern: »De te fabula narratur« (»Über dich wird die Geschichte erzählt!«). Denn Deutschland befindet sich wie England in dem Gesamtzusammenhang des kapitalistischen Weltmarkts. Marx folgt hier, so ist er kritisiert worden, modernisierungstheoretischen Vorstellungen, die im 20. Jahrhundert unter Sozialwissenschaftlern verbreitet waren und es auch heute noch sind. Alle Welt befinde sich im Prozess der Modernisierung, allerdings ungleichmäßig und ungleichzeitig, und was die fortgeschrittensten Nationen vormachen, können die Nachzügler erfolgreich nachahmen. Die Koordinaten von Raum und Zeit sind nicht für alle Kapitale aus allen kapitalistischen Ländern dieselben, aber die »Bewegungsgesetze« des Kapitals auf dem alle umfassenden Weltmarkt sehr wohl.

Die zweite Antwort scheint das Gegenteil der ersten zu sein. Das Kapital folgt der »propagandistischen Tendenz, den Weltmarkt herzustellen« (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie), also das Kapitalverhältnis zu globalisieren. Denn die kapitalistische Produktionsweise sei außerordentlich dynamisch und innovativ, auch geografisch ausgreifend auf alle Länder und Kontinente. Das schreiben Marx und Engels in emphatischen Worten bereits im Kommunistischen Manifest aus dem Jahre 1848. Darauf berufen sich heute noch neoliberale Ökonomen, die ansonsten mit Marx nichts am Hut haben, um mit Marx auf kritische Ökonomen einzuprügeln. Sie erwähnen dabei aber nicht die von Marx und Engels genannte Kehrseite, die zerstörerische Kraft der Expansion über alle Grenzen der Natur, Tradition, gesellschaftlichen und politischen Regulation und der Moral hinweg. Der Weltmarkt erfasst unter kapitalistischen Verhältnissen alle Länder, dominiert den Globus in Zeiten der Globalisierung und bemächtigt sich des Planeten Erde einschließlich seiner Natur. Das kapitalistische Weltsystem wird daher zu einem ökologischen Weltsystem, wie John Bellamy Foster, Jason Moore oder Birgit Mahnkopf und der Autor dieses Beitrages hervorheben. Der Weltmarkt hat nicht nur die Schokoladenseite des steigenden Wohlstands durch freien Handel offenbart. Das soziale Elend wird ebenso globalisiert wie die sozialen Konflikte, die großen (Finanz- und Wirtschafts-)Krisen und die ökologischen Desaster.

Aber entsteht nicht im Zuge der Herstellung des Weltmarkts so etwas wie eine Weltgesellschaft? Marx ist da skeptisch. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Wertproduktion sind doch von Land zu Land verschieden: Unterschiedliche Arbeitszeiten und -bedingungen, unterschiedliche Systeme der industriellen Beziehungen, Produktivitätsunterschiede, Unterschiede der Konsumgewohnheiten etc. machen es fragwürdig, von einem homogenen globalen Verwertungsraum zu sprechen. Dennoch kommt trotz aller Unterschiede ein Weltmarktpreis für die auf dem Weltmarkt gehandelten Waren heraus. Der »single price« gehört zu den ehernen Regeln der Welthandelsorganisation, gleichgültig wie unterschiedlich die Produktionsbedingungen der betreffenden Ware sein mögen. Der Thunfisch in der Dose hat überall den gleichen Preis, unabhängig davon wie er vor den Küsten Mexikos, der USA oder anderswo gefangen wurde. Marx spricht in diesem Zusammenhang von der »modifizierten Wirkungsweise des Wertgesetzes auf dem Weltmarkt«. So kommt es, dass Kapitalisten aus verschiedenen Ländern Waren tauschen und dabei Profite machen können, die zu ganz unterschiedlichen Bedingungen produziert worden sind.

Wenn etwas Neues entsteht, muss das Alte weichen. Das ist kein geplanter, ausgeglichener, und nicht immer ein friedlicher Prozess. Die Bewegungsgesetze der Produktionsweise setzen sich historisch wegen der Fülle »entgegenwirkender Ursachen« als Tendenzen durch, die aufgrund der Krisenhaftigkeit aller Prozesse einen zyklischen Verlauf haben. In gar nicht schöner Regelmäßigkeit geraten die kapitalistischen Gesellschaften daher in schwere »Weltmarktsungewitter«. Manche haben große Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Formen der Kapitalakkumulation. Der Zyklus von Krise und Prosperität gehört also zum kapitalistischen Weltmarkt. Die Formveränderungen der kapitalistischen Produktionsweise haben dann Anlass gegeben, Phasen oder Epochen der kapitalistischen Entwicklung zu unterscheiden: Früh- und Spätkapitalismus oder Kapitalismus der freien Konkurrenz, Monopolkapitalismus und staatsmonopolistischer Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus, Plünderungs- und Katastrophenkapitalismus. Doch Namen sind Schall und Rauch, der Wesenskern bleibt kapitalistisch.

Dass der moderne Kapitalismus nicht nur weltökonomisches, sondern auch weltökologisches System wird, ist in dem »Doppelcharakter« der Arbeit, der von ihr erzeugten Waren, letztlich aller ökonomischen Prozesse begründet. Marx bezeichnet den Doppelcharakter als »Springpunkt« seiner Kritik der politischen Ökonomie, misst ihm also zentrale Bedeutung bei. Was dies bedeutet, tritt heute klarer zutage, als zu Marx’ Zeiten. Denn die »propagandistische Tendenz« des Kapitals hat tatsächlich den gesamten Planeten erfasst und treibt über dessen durch die Schwerkraft gezogenen Grenzen sogar hinaus. Das hat bislang keine Generation in der mehrere Hunderttausend Jahre umfassenden Geschichte der Menschheit geschafft. Diese spektakuläre Leistung ist dem Menschen im Kapitalismus vorbehalten.

Das Primat des Nationalen ist schon längst in Zeiten der ökonomischen Globalisierung passé, angesichts der zunehmenden Welthandelsströme, der Direktinvestitionen und eines globalisierten und zugleich weitgehend deregulierten Finanzsystems, das aus aller gesellschaftlichen oder nationalstaatlich-politischen Kontrolle »entbettet« ist. Die Versuche, den nationalen Primat wiederherzustellen, wie sie US-Präsident Donald Trump unternimmt, wirken daher nicht nur bizarr, sie sind es auch. Und sie können nur gewaltförmig durchgesetzt werden.

Trotz aller Globalisierungstendenzen sind der Nationalstaat und seine Politik nicht bedeutungslos geworden. Die Macht als politisches Regulativ ist immer noch in erster Linie beim Nationalstaat angesiedelt. Die gescheiterten Versuche, ein System der »global governance« zu errichten, zeigen es. Statt der Nationalstaatlichkeit und der »global governance«, kommen neoimperialistische Interventionen durch mächtige Nationalstaaten und Bündnisse ins Spiel, die ad hoc gebildet werden oder regionale Akteure umfassen, wie beispielsweise die EU.

So kommt es, dass die Politik eine extrem ungleichgewichtige nationale Basis hat, die Ökonomie hingegen – insbesondere als Finanzsystem – globalisiert ist, der Planet Erde aber infolge des Doppelcharakters aller ökonomischen Prozesse ein weltökologisches System geworden ist. Dem wird mit neuer Begrifflichkeit Rechnung zu tragen versucht. Nach dem methodologischen Nationalismus und der Globalisierung kommt nun das Anthropozän, das vom Menschen zu verantwortende neue Erdzeitalter, auf die sozialwissenschaftliche Agenda. Die Warmzeit des Holozäns, die vor etwa 11.000 Jahren begann und allen großen Zivilisationen Heimat war, ist in das Anthropozän übergegangen. Eine Metapher ist gefunden, mit der die Mängel der kritischen Analyse der ökonomischen, ökologischen, sozialen und politischen Krisen der kapitalistischen Gesellschaftsformation überdeckt werden können. In der Metapher amalgamieren sämtliche Krisentendenzen zur »multiplen Krise«, die das Anthropozän kennzeichnet.

Doch jetzt erst wird es spannend. Welche Menschen bringen so grandiose Veränderungen des Klimasystems, der Sedimente der Erdkruste, der Vielfalt der Arten, die die Biosphäre des Planeten bevölkern, zustande, dass von einem neuen Erdzeitalter, das das Holozän ablöst, gesprochen werden kann? Was für Heroen sind während des Holozäns herangewachsen, dass sie das Bibelwort »Macht Euch die Erde untertan« nach Tausenden von Jahren endlich in die Wirklichkeit umzusetzen in der Lage sind? Da ist etwas mit den Menschen als gesellschaftlichen Wesen geschehen, denn der Wandel der genetischen Ausstattung des Menschengeschlechts würde viel längere Zeiträume in Anspruch nehmen. Es waren die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaftsformation, die auf verschiedenen Wegen Nationalstaaten errichteten, den Weltmarkt schufen und eine Rationalität entwickelten, die Künste, Wissenschaften und Technik beflügelten, um in der Renaissance zu einem Formationsflug in die Moderne ansetzen zu können.

Der Entwicklungsschub in die Moderne war stark genug, um die Menschheit mehrere Jahrhunderte auf Trab zu halten. Die von Marx erwähnte propagandistische Tendenz, den Weltmarkt herzustellen, hat sich definitiv durchgesetzt. Dabei war der in England in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingeleitete Übergang zur Nutzung fossiler Energieträger ein entscheidender historischer Einschnitt. Denn zusammen mit den entsprechenden Maschinen wurde eine Beschleunigung in der Zeit und eine Ausdehnung im Raum möglich, wie niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Die weltwirtschaftlichen Beziehungen explodierten nachgerade beim Übergang vom Segelschiff zum Dampfboot und Containerschiff, zum Flugzeug, Automobil und Hochgeschwindigkeitszug. Die Entwicklung der Nachrichtentechnik vom Morseapparat bis zum Internet, in Verbindung mit neuen finanziellen Instrumenten vom Wechsel und Scheck bis zur digitalen Spekulation war hochexplosiver Treibstoff für die Finanzmärkte. Auch die Kriegstechnik ermöglichte immer größere Zerstörungen bis zur Möglichkeit, mit dem inzwischen angehäuften Atomwaffenarsenal den Planeten mit Mann und Maus zu vernichten.

Das ist ein Einschnitt in der Evolution der Spezies Homo sapiens, der von Geologen als »die große Beschleunigung« bezeichnet und deren Beginn mit dem Jahr des Atombombenabwurfs auf Hiroshima 1945 datiert wird. Damit ist offenkundig, dass nicht nur ein neues Menschenzeitalter angebrochen ist, sondern auch ein neues Erdzeitalter, das Anthropozän. Doch nicht Anthropos, der Mensch hat dies zu verantworten, sondern der kapitalistisch sozialisierte und in die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus hineingeborene Mensch, der auch nur in den Formen denken und handeln kann, die als gesellschaftliche Formen und zwar systematisch in verkehrter Gestalt vorgegeben sind. Marx hat dies als »Fetischismus« analysiert und kritisiert. Wie mächtig dieser Fetischismus ist, zeigt sich auch daran, dass in den Sozialwissenschaften eine kritische Entschlüsselung des Anthropozäns bislang ausgeblieben ist. Es scheint in der Natur von Technik und »imperialer Lebensweise« (Ulrich Brand/Markus Wissen) angelegt zu sein. Die spezifisch kapitalistische Formbestimmtheit bleibt unterbelichtet.

Die marxsche Theorie von den Gesetzmäßigkeiten der Kapitalakkumulation in Zeit und Raum und die explizite Berücksichtigung des Doppelcharakters allen ökonomischen Tuns als Transformation von Gebrauchswerten, von Stoffen, Material und Energien also und als Transformation von Werten ist eine äußerst wirkungsvolle Hilfe bei der Analyse der ökonomischen Tendenzen der Globalisierung auf Waren- und Finanzmärkten und der ökologischen Krisen, des drohenden Klimakollapses, des dramatischen Verlustes an Artenvielfalt oder der Versauerung der Ozeane. Das hat uns der Kapitalismus eingebrockt. Das Erdzeitalter des Anthropozän sollte daher genauer und nicht fetischhaft das Kapitalozän genannt werden.

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