Am Morgen des 20. Januar 1942 versammelten sich 15 hohe deutsche Herren von SS, Sicherheitspolizei und Sicherheitsdienst, aus Reichskanzlei, Justiz, Innenministerium, Auswärtigem Amt, zivilen Besatzungsbehörden, Rüstungsbürokratie und NSDAP in der Wannsee-Villa der Nordhav-Stiftung. Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und von Reichsmarschall Hermann Göring mit der sogenannten »Endlösung der Judenfrage« beauftragt, hatte zu dem Treffen geladen. Einziges Thema war die Koordinierung und Systematisierung des Massenmordes an etwa elf Millionen europäischen Juden, die durch Verschleppung und Zwangsarbeit, Hunger, Erschießung und Vergasung zu Tode gebracht werden sollten. Da zu diesem Zeitpunkt bereits Hundertausende Juden in Osteuropa umgekommen oder ermordet worden waren, allerdings in mehr oder minder planlosen Einzelaktionen, sollte nun für Systematik und Effektivität im Prozedere des Massenmordes gesorgt werden.
Aufgrund seiner akribischen Archiv- und Quellenstudien kann Peter Longerich in seiner neuen Studie zeigen, dass der historische Ort der Wannseekonferenz im Schnittpunkt zweier Strategien lag, die statt miteinander zu kollidieren konsequent in Übereinstimmung gebracht werden sollten. Heydrich hatte sich mit großem Nachdruck bemüht, die Gesamtverantwortung für die »Judenfrage« in die Hand zu bekommen. Zur Zeit der Wannseekonferenz war Heydrichs Planungsperspektive, die Juden nach einem raschen Sieg über die Sowjetunion in den Osten zu deportieren und dort ihrer allmählichen Vernichtung zuzuführen, im Grunde schon obsolet geworden. Himmlers Pläne, stets in direkter Abstimmung mit Adolf Hitler, waren mittlerweile andere und setzten sich nach der Ermordung Heydrichs am 4. Juni 1942 rasch durch. Von nun an sollte die »Endlösung« in den Dienst der Kriegsführung gestellt und der im Osten Europas eroberte »Lebensraum« einer radikalen völkischen Neuordnung unterzogen werden – auf diese Weise wurde die »Judenpolitik« endgültig zu einem Teil des rassistischen Vernichtungsfeldzugs. Zuvor hatte Hitler noch geglaubt, sie als Drohkulisse gegen Josef Stalins Plan einer Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen und als Warnung vor einem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten nutzen zu können. Da die beiden Ziele angesichts der militärischen Entwicklung unerreichbar waren, setzte sich Himmler mit der Idee der radikalen Vernichtung der Juden noch während des Krieges durch.
Kurz nach der Wannseekonferenz, ab Mai/Juni 1942, setzte eine beispiellose Eskalation der Vernichtungspolitik ein, längst war Heydrich von Himmler auf den neuen Kurs eingestimmt worden. Jetzt begannen die berüchtigten Transporte nach Minsk, Sobibor, Theresienstadt, Chelmno und Auschwitz. Aus ganz Europa wurden seit Sommer 1942 in der »Aktion Reinhard« Millionen jüdischer Menschen aus Rumänien, Kroatien, Bulgarien, Finnland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und weiteren europäischen Ländern zusammengetrieben und deportiert, in Arbeitslager gebracht, erschossen oder systematisch ins Gas geschickt.
30 Kopien des Protokolls der Wannseekonferenz wurden damals erstellt, nur eine einzige ist später aufgefunden worden – Peter Longerich dokumentiert das Schriftstück erstmals als Faksimile. Adolf Eichmann war der Verfasser, Heydrich hat es offenbar gründlich überarbeitet und ausgefeilt. Die Liste der Anwesenden, allesamt Vertreter der NS-Zentralinstanzen, macht klar, dass es damals keine Grauzonen des Nichtwissens oder Unbeteiligtseins gab, sondern dass zivile Besatzungsbehörden und diverse staatliche und polizeiliche Stellen mit SS, Sicherheitsdienst, Wehrmacht und NSDAP aufs engste zusammenarbeiteten. Sie alle verband der administrative Entscheidungs- und Handlungsdruck, den die »Judenpolitik« mittlerweile verursacht hatte, nachdem die Vernichtungsaktivitäten besonders im Osten in einem Wirrwarr von Kompetenzen und Aktivitäten festgefahren waren.
Longerich analysiert akribisch das persönliche und professionelle Profil der Konferenzteilnehmer. Sie waren allesamt bestrebt, sich ein genaues Bild von der »Judenfrage« zu machen und erörterten das jüdische Bevölkerungsaufkommen in Europa, Regeln und Finanzierung der Deportation, Devisenprobleme, Transportwege und -möglichkeiten, aber auch die Anwendung und Kodifizierung der Rassengesetze, etwa das Problem der »Volljuden«, der »Mischlinge«, der »Mischehen« und der »Begriffsbestimmungen der Juden«. Auch weil sie »Seuchenträger« seien, müssten sie so schnell wie möglich aus allen deutsch besetzten Gebieten »entfernt« werden. Im Protokoll ist immer wieder von »Lösungsarbeiten«, von »Auswanderung« oder »Evakuierung« die Rede: »Im Zuge der praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa von Westen nach Osten durchgekämmt.«
Die Wannseekonferenz war, wie die Studie Longerichs belegt, das entscheidende Datum im internen nationalsozialistischen Konkurrenzkampf, wie die »Judenfrage« der radikalstmöglichen Lösung, eben der »Endlösung«, zugeführt werden konnte. Der Holocaust beruhte nicht auf der Einzelentscheidung Hitlers, sondern er war das Ergebnis einer langfristigen, immer wieder veränderten Diskriminierungs- und Vernichtungspolitik, an deren Entscheidungsprozess alle nur denkbaren Institutionen und Verantwortlichen des NS-Machtapparates beteiligt waren. Im Protokoll der Wannseekonferenz werden sie mit Namen, Rang und Funktion aufgeführt und kenntlich gemacht. Etliche von ihnen wollten später von all dem nichts wissen und erklärten sich für unbeteiligt oder unzuständig, jedenfalls für schuldlos. Peter Longerich legt mit imponierender Sachkenntnis und zwingender Argumentation das Gegenteil dar. Die Beteiligten hätten das Dokument der Konferenz gern für immer verschwinden lassen, jetzt ist es für jedermann lesbar in der Welt.
Peter Longerich: Wannseekonferenz. Der Weg zur »Endlösung«. Pantheon, München 2016, 224 S., 14,99 €.
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