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Marianna Gartners Spagat zwischen klassischer Figurenmalerei und sozialkritischem Diskurs Matrosen in Öl und Einhörner in Formaldehyd

Bevor Sie loslesen, googlen Sie zuerst: Marianna Gartner, geboren 1963 in Winnipeg (Kanada). Schauen Sie sich einige Momente lang in Gartners Bildwelt um – und kehren Sie zurück zum Kommentar, zum Verrat des Bildes durch das Wort. Erschrecken Sie nicht, wenn sie aus den elastischen, mannigfaltigen Figuren und Szenen der Gemälde zurückkehren in die reglementierten, typografischen Konturen der gedruckten Sprache.

Marianna Gartners Kunst war Gegenstand zahlreicher Einzelausstellungen in Vancouver, New York, London, Budapest, Wien und der Galerie Haas & Fuchs, Berlin. Während die Malerin meist Ölgemälde schafft, existieren auch Arbeiten auf Papier sowie die Ausmalung der Kuppel in einem öffentlichen Gebäude in Toronto. Sie steht im Kontext der Renaissance der Figurenmalerei in Europa und Kanada, die seit 2000 ihre Vorbilder etwa bei Francis Bacon (1909–1992) oder Arno Rink (1940–2017) findet. Marianna Gartner entwickelte eine raffinierte Bildsprache, die in der Darstellung auch eine Reflexion unterschiedlichster Bildgebungsverfahren zu vollziehen vermag.

Zu Beginn die Pietà

Ein Beispiel fürs Nachdenken über Bildgebungsverfahren ist ihr Gemälde »Tattooed Jesus Pietà« (2005). Diese kanadische Pietà ist angelehnt an eines der bekanntesten Werke aus der Schule von Avignon. Das französische Vorbild, das 1455 ursprünglich für eine Kapelle geschaffen worden ist, zeigt vor einem Goldgrund die Gottesmutter mit dem lebensgroßem Jesus auf dem Schoß. In dem spätmittelalterlichen Bildnis dominiert ein Kontrast zwischen den üppig gewandeten Figuren des Jüngers Johannes, Maria Magdalena, der trauernden Jungfrau selbst sowie einer Stifterfigur und dem mit einem Lendenschurz betuchten Leib des vom Kreuz abgenommenen Herrn. Unmissverständlicher hätte der bis ins 20. Jahrhundert unbekannte Meister der »Pietà von Villeneuve-lès-Avignon« (heute im Louvre) nicht sein können: Enguerrand Quarton (1410–1466) stellt in der engen Dorfkirche die bare Hingabe des Leibes ins Zentrum der Betrachtung, seine diesseitige, allzu leicht zerstörbare Blöße – nicht erbärmlich oder erbarmungswürdig ist der tote Leib des Gekreuzigten, sondern in jener Situation vor allem leichenblass und aller Hüllen ledig.

Die Tätowierungen am Leib Christi sind nicht großflächige Gesamtkompositionen, wie es aus der vom Shintoismus inspirierte, religiös grundierten Irezumi-Tätowierung bekannt ist, stattdessen schüttet sie ein buntes Gewirr vermeintlich unzusammenhängender Figuren über die Haut des Herrn aus. Der Tätowierstil ist offenbar der traditionellen Tätowierung Europas und Amerikas entnommen, die sich besonders im 19. Jahrhundert als einen schwankenden Kanon an oft pathetischen, ausdrucksstarken Einzelbildern etabliert: allerlei Teufelchen, einem Schmetterling, Rosen mit Dornen, chinesische Drachen und eine barbusige Meerjungfrau.

Betrachtet man diese Tätowierungen genauer, fällt eine Nähe zum Passionsgeschehen auf. Auf dem Brustbein erkennt man ein flammendes Herz mit Totenschädel im Stil der Herz-Jesu-Frömmigkeit. Auf dem Bauch, auffällig um den Nabel geschwungen, eine Schlange, als sei hier noch an Eva zu erinnern (James Joyce schrieb über die Mutter der Menschheit bekanntlich »belly without blemish«, weil sie als erste aus der Rippe Erschaffene ohne Spur der Nabelschnur war). Die Tätowierungen weisen den Körper als ikonischen Ort aus, als eine Kathedrale des Selbst, auf dem alle signifikanten Eindrücke hinterlassen sind, die den Körper zeichneten in seiner Zeit, ihn erst zum Körper eines Gezeichneten machten.

Aber Marianna Gartner ist damit noch nicht fertig. Sie hat die Szene figürlich entrümpelt. Die Landschaft im Hintergrund ist bewegter als die mittelalterliche Folie. Gartner hat dieser Theologie der Auferstehung ein kleines Beiwerk zugegeben: Die kniende Figur, die andächtig das Haupt des Herrn mit den Fingerspitzen stützt. Diese dritte Figur ist auch nackt und (noch) nicht tätowiert, ein unbeschriebener Körper. Nicht üppig gewandet wie die Gottesmutter, sondern nur mit dem jesuanischen Lendentuch geschürzt. Sie ist die nackte Figur der Nachfolge. Denn jetzt im schwarzen Moment unmittelbar nach der Kreuzabnahme, begreift diese Figur die signifikante Gravität dieser Nachfolge: Mein Körper wird nicht rein werden durch die Nachfolge – im Gegenteil: Er wird gezeichnet sein, immerfort bis in die letzte Nacht. Kein Schleier und kein Faltenwurf werden die bloße Ungewissheit der Nachfolge auf der Spur der zahlreichen Einschreibungen und Einzeichnungen ins Fleisch verhüllen können, die in der Welt die konkrete, aktive, unwiederholbare Einbringung des Leibes ausmacht.

Intermediale Interventionen

Im Wiener Belvedere stellte Marianna Gartner 2011 Arbeiten vor, die sich mit den dortigen Sammlungsbeständen auseinandersetzen, wie etwa Michael Pachers »Geißelung Christi« (1497/98). Agnes Husslein-Arco notierte hierzu: »Gartners Anspielungen auf die Gemälde des Belvedere rangieren von direkten Bezugnahmen auf Figuren aus den Referenzbildern bis hin zu subtilen Verweisen in Haltung oder Gesichtsausdruck«. Dieses Verfahren findet sich auch im Doppelporträt »Zwei Brüder«. Es ist als Pendant zu einem Gemälde von Richard Gerstl, »Die Schwestern Karoline und Pauline Fey« entworfen. Dass aus zwei weiblichen Figuren im Referenzwerk männliche werden, ist ein häufiger Zug in den Kompositionen Gartners. Hiervon übernimmt jedoch Gartner bloß die Haltung der Figuren. Gleichzeitig fehlt den beiden Jungen eine Sitzgelegenheit, sie sind in einen Raum eingebracht, der scheinbar keine Tiefe hat. Margit Brehm bemerkt hierzu: »Wie in einem Papiertheater erscheinen die Figuren, Accessoires und die Kulisse – jedes Element eine Flächenform für sich – hinter- und nebeneinander. Und ebenso wenig [k]ommt es zu einem Miteinander, also einer handlungslogischen Verbindung.«

Viele von Gartners Figuren sind im Stil der monochromen Fotografie gehalten. Gartner platziert diese Fotografien oft in farbigen Szenen. Das Ensemble bilden Geishas, gespenstisch wirkende Knaben und Mädchen in Gewändern des 19. Jahrhunderts, Holzfäller, Fabeltiere, Fische oder Hirsche. Solche historischen Fotografien ersteht Marianna Gartner nach eigenen Angaben auf Flohmärkten oder in Antiquitätengeschäften. Sie stehen oder sitzen auf farblich ausgearbeiteten Landschaften oder Interieurs. Auch hier thematisiert die Künstlerin den historischen Wandel der Rollen in unterschiedlichen Arbeitswelten oder Konzepten der Familie. Beigeordnet sind surreal anmutende Figuren wie Einhörner.

Die Geisha aus »Faux Geisha with Pet Baby« (2006) wird vor einem japonisierenden Hintergrund mit Bambuswäldern gezeigt, steht allerdings auf einem Fußboden, der an barocke Brokattextilien erinnert. Die Zusammenstellung der sich im Tanzschritt befindlichen Geisha mit einem Säugling auf dem Schoß bewirkt eine Reflexion auf die Verdinglichung der menschlichen Person: Der Säugling, dem Sorge und Liebe zukommen sollten, liegt wie ein Schoßtier auf den Knien der Kurtisane. Beide Figuren sind verbunden durch eine Leine, die sowohl der Säugling als auch die Geisha in der Hand hält, sodass der Status »Pet« – also Haustier, Schoßtier etc. – problematisiert wird. Während die monochrome Ausführung der Figuren ihre Historizität hervorhebt, wirft die paradoxe, provokante, ja surreale Gesamtkomposition das Bild in eine Reflexion über Genderrollen sowie Sorge- und Liebesbeziehungen, die aus einer zeitgenössischen Perspektive des 21. Jahrhunderts gedacht ist. Machtverhältnisse thematisiert auch das Gemälde »Martin Tadman with Pet Squirrel« (2007). Dargestellt ist der auf einem purpurnen Brokatkisschen lässig lagernde Anwalt Martin Tadman. An einer Leine vor dem in einem dreiteiligen Anzug ausgestreckten Herrn kuscht ein rotes Eichhörnchen und knabbert an einer Nuss. Der monochrome Advokat hält in der Hand die Leine zu seinem Schoßtier. Das Gemälde provoziert eine Reflexion über Maskulinität, die Kostümierung der Professionalität und über die Macht, ein kleines Säugetier an der Leine zu halten.

Häufig wirken Gartners Figuren hilflos und stolz zugleich, wie etwa in »Unicorn in Jar« (2013). Das hochrechteckige Gemälde zeigt ein zylindrisches Einmachglas, das mit Wasser gefüllt ist. Auf dem roten Deckel des Glases, der seitlich wie bei einem Fries mit goldfarbenen Ornamenten geschmückt ist, sitzt ein Gesteck aus Korallen und Muscheln. Eingefangen in dem Glas ist ein auf den Hinterbeinen stehendes Einhorn. Das Einhorn hat den Nimbus eines ideologisch belasteten Kitschelements aus der Romantik, das in der mittelalterlichen Hagiografie oder den Tapisserien seinen Ursprung hat. Gartner führt es als Konserve vor, als sei es eine Reliquie der Imagination, ein Objekt eines mythografischen Inventars.

Matrosen in Öl

Ein Matrose liegt am Strand. Sein Rücken wird gewärmt vom Sand, sein Unterleib durchflutet vom Rhythmus des Wellengangs. Doch zwischen seinen Beinen ist ein Ungeheuer, das ihn – den entspannten Matrosen – befriedigt. Ein Krake führt an dem Matrosen Fellatio aus. Im Ungestüm der Lust packt der Matrose zwei Greifarme des Kraken fest mit seinen Händen. Auch dem Gemälde »Sailor with Octopi« (2014) liegt ein Referenzbild zugrunde: Der japanische Holzschnitt »Traum der Frau des Fischers«; das 1814 entstandene Bild, das eine japanische Frau auf dem Rücken liegend zeigt, während ein Krake Cunnilingus an ihr betreibt. Dieses Meisterwerk der japanischen Shunga, der erotischen Kunst, gemalt von Hokusai, unterzieht Gartner 200 Jahre später einigen Transformationen. Der Matrose wirkt in der Szene wegen des japanischen Ambientes in den Wellenformationen wie ein Fremdkörper.

Immer wieder tauchen Matrosen als unfreiwillig-freiwillig befriedigte Gestalten auf, ebenso im Bild »Sailor and Swan«. Bekanntlich rekurriert die antike Geschichte auf die Überwältigung Ledas durch den in einen Schwan verwandelten Zeus. Feministische Lesarten dieser Geschichte verweisen auf den Vergewaltigungscharakter dieser »Verführung«. Gartner tauscht auch hier die Rollen. Es wird nicht Leda, sondern ein wohlbekannter Matrose vom Schwan überwältigt. Die Haltung des maskierten Matrosen übernimmt die Kanadierin aus dem berühmten Gemälde Michelangelos (um 1530), das heute nur noch in Kopien überliefert ist. Er lässt seinen linken Arm zur Seite hängen, der Schwan schnäbelt sich entlang seines Körpers, doch die Beine der Figur sind nicht geöffnet, sondern um das Tier gewunden. Der rechte Arm liegt auf dem linken Knie. Ineinandergeschlungen und dennoch nicht offen. Anders als bei Michelangelo ist das Haupt des Matrosen nicht dem Kopf des Schwans zugeneigt, sondern fällt nach hinten ab. Es sind solche Kompositionen, die die Arbeiten Gartners zu gesuchten Kunstwerken der Gegenwart machen. Ihre Kunst schafft eine Balance zwischen historischer und materiallogischer Reflexion, zwischen sozial- und identitätskritischen Diskursen auf der einen Seite und der klassischen, meisterinnenhaften Figurenmalerei auf der anderen.

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