Die Zeit ist aus den Fugen – mit diesem Seufzer Hamlets in William Shakespeares gleichnamigem Stück wird man heute in nahezu jeder Gesellschaft zustimmendes Kopfnicken ernten. Was vor Kurzem noch gesicherte Erkenntnis und verlässlich geteilte Überzeugung zu sein schien, wird plötzlich von vielen Menschen infrage gestellt, Institutionen und Autoritäten, die fest etabliert schienen, verlieren von heute auf morgen ihre Reputation, Tag für Tag werden wir in Wort und Bild mit den abscheulichsten Verbrechen konfrontiert, Skandalnachrichten überstürzen sich und lösen Fieberschübe der Empörung aus. Wir leben in einer Zeit permanenter massenhafter Erregung, in der, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem soeben erschienenen fesselnden Essay schreibt, »miteinander verschlungene, sich wechselseitig befeuernde Impulse einen Zustand der Dauerirritation und der großen Gereiztheit erzeugen«.
Pörksen analysiert die Krisenphänomene, die geeignet sind, unsere Weltwahrnehmung und die Funktion der Öffentlichkeit dramatisch zu verändern: »Die Wahrheitskrise – oder die gefühlte Manipulation«, »Die Diskurskrise – oder die Schwächung der Gatekeeper«, »Die Autoritätskrise – oder die Schmerzen der Sichtbarkeit«, »Die Behaglichkeitskrise – oder der Kollaps der Kontexte« und »Die Reputationskrise – oder die Allgegenwart des Skandals«. Folgt man diesen Kapitelüberschriften könnte man meinen, es sei ein derart umfangreiches und bedrückendes Krisengemälde, dass der Leser nach der Lektüre des Buches erst recht verzweifelt und orientierungslos dastehen müsse. Aber Pörksens genaue Analysen sind alles andere als sensationsheischende Untergangsmalerei. Der Autor zeigt neben den destruktiven Effekten immer auch die positiven Seiten jener »fünften Gewalt« der digitalen Medien, die heute unsere traditionelle Öffentlichkeit grundlegend verwandelt. Besonders in dem umfangreichen Schlusskapitel weist Pörksen mit der Utopie der »redaktionellen Gesellschaft« einen – zwar mühsamen, aber durchaus gangbaren – Weg aus der »großen Gereiztheit«, einen Weg, den wir allerdings nur betreten können, wenn wir uns zunächst schonungslos klarmachen, was in der neuen Medienöffentlichkeit nicht mehr funktioniert und warum es nicht mehr funktioniert.
»Die indiskreten Medien der Gegenwart«, schreibt Pörksen, »schlucken die verschiedenen Einzelmedien, nehmen ihre Eigenschaften der speziellen Dokumentation in sich auf und erzeugen in der Summe eine neue Stufe situationsunabhängiger Sichtbarkeit, permanenter ortloser Präsenz und unabweisbarer Evidenz (…). Alles was vorliegt, lässt sich blitzschnell und ohne Rücksicht auf Ursprungskontexte für ein Riesenpublikum zugänglich machen.« Dies sind günstige Voraussetzungen für massenhafte Bild- und Videofälschung und neue Formen der Manipulation der öffentlichen Meinung mithilfe von Trollen, Fake-Profilen und Social Bots. Für den einzelnen Mediennutzer ist es unter diesen Umständen nicht leicht, aus der Fülle der auf ihn einstürmenden Informationen die Wahrheit herauszufiltern. Viel wahrscheinlicher und auch viel bequemer ist es, den subtilen Weisungen der digitalen Plattformen zu folgen, die ihm jeweils die Informationen liefern, die seinen eigenen Vorurteilen am nächsten kommen und ihm die Möglichkeit eröffnen, sich so in einer selbst geschaffenen »Echokammer« einzuschließen.
Die Gefahr, Falschmeldungen und Propagandalügen aufzusitzen, wächst heute unter anderem auch deswegen, weil die Gatekeeper der traditionellen Medien in der Netzwelt ihre Funktion einer Vorabkontrolle einbüßen. Nun haben zwar auch die Redaktionen in Presse, Rundfunk und Fernsehen ihre Gatekeeper-Rolle keineswegs immer im Sinne wahrheitsgetreuer Berichterstattung ausgeübt, aber in der Netzwelt haben viele Millionen Einzelne jederzeit die Möglichkeit, befreit von jeglicher Vorabkontrolle durch Gatekeeper, kommunikative Schneeballeffekte zu erzeugen, die im Extremfall zu Mobbing, Massenhysterie oder gar Lynchjustiz führen – auch weil die für den Nutzer nicht durchschaubaren Präferenzregulierungen der Plattformbetreiber bei der Verbreitung von Verleumdungen, Hassbotschaften und Falschinformationen oftmals verstärkend wirken. Der Einzelne ist heute in hohem Maße zum »Regisseur seiner Welterfahrung« geworden, schreibt Pörksen, d. h. er »vermag sich aus den unterschiedlichsten Quellen seine private Wirklichkeit zu konstruieren«, ohne sich dabei der Kontrolle durch abweichende Sichtweisen aussetzen zu müssen. Auf diese Weise wird der wirksamste Wahrheitstest, die argumentative Bewährung der eigenen Meinung an den widersprechenden Meinungen anderer, im öffentlichen Diskurs entwertet.
Besonders Politiker, Prominente und Superreiche, aber keineswegs nur sie, sind in der digitalen Medienwelt vermehrt dem Risiko der Skandalisierung ausgesetzt. Da nahezu jeder Mensch heute über die Möglichkeit verfügt, überall und zu jedem Zeitpunkt Fotos und Videos aufzunehmen und diese mit einem Klick an Hunderte und Tausende Follower weiterzuleiten, wird jedes peinliche Missgeschick, jedes Fehlverhalten, jede dumme oder bösartige Äußerung, jede verräterische Geste oder Mimik mit hoher Wahrscheinlichkeit im Netz verbreitet und in Wellen der Empörung oder der Belustigung kommentiert. Das kann in einzelnen Fällen tatsächlich im positiven Sinn aufklärend wirken, führt aber allzu oft zur Verletzung von Persönlichkeitsrechten, nicht selten sogar zur Zerstörung von Karrieren und Lebensleistungen. Zugleich führt die massenhafte Direktkonfrontation mit den Lebenswelten der Bessergestellten in der Netzwelt aber auch dazu, dass, wie der Autor schreibt, »das Bewusstsein für soziale Unterschiede, für die Privilegien Einzelner und die Formen der Diskriminierung wächst, [und] Forderungen nach Gerechtigkeit und Gleichbehandlung lauter werden, weil die Benachteiligten ihre Situation in aller Deutlichkeit und Schärfe erkennen«. Es ist u. a. dieser Effekt, der bei Vielen auch heute immer noch die Hoffnung nährt, dass die Digitalisierung der demokratischen Öffentlichkeit und der sozialen Gerechtigkeit überall auf der Welt den Weg bereiten wird.
Pörksen teilt diese etwas schlichte Sicht der Dinge, die ja auch die anfangs euphorischen Erwartungen angesichts des Arabischen Frühlings beflügelte, nicht. Er fragt sich vielmehr, unter welchen Bedingungen die nicht rückholbare Digitalisierung der Öffentlichkeit wirklich demokratisch geregelt und für die vernünftige Verständigung in der Gesellschaft fruchtbar gemacht werden kann. Im letzten Teil seines Buches diskutiert er daher die Chancen, über eine breite Bildungsoffensive die Nutzer der digitalen Medien selbst zu »redaktioneller Verantwortung« anzuhalten, d. h. die Gatekeeper-Rolle, die einst nur den traditionellen Medien zukam, zu demokratisieren: Wie kann das Zusammenspiel alter und neuer Gatekeeper aussehen, welches verbindende Wertegerüst könnte die Kontrolle und Selbstkontrolle anleiten, wie wäre das Ideal der Mündigkeit des Einzelnen mit der Notwendigkeit einer Normierung des Mediengebrauchs in Einklang zu bringen?
Seine Antwort auf diese Fragen ist der Entwurf einer Art »Utopie einer redaktionellen Gesellschaft«, die »die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus zum Bestandteil der Allgemeinbildung« macht. Ein solch neues Bildungsziel für Schulen, Hochschulen und bürgernahe Journalistenschulen habe sich an folgenden Prinzipien auszurichten: Wahrheitsorientierung, Skepsis, Verständigungs- und Diskursorientierung, Relevanz und Proportionalität, Kritik und Kontrolle, ethisch-moralische Abwägung sowie Transparenz. Die hier aufgelisteten Richtwerte sollen nach Pörksen nicht nur in Bildung und Ausbildung zur Anwendung kommen, sondern auch im bestehenden Mediensystem selbst. »In der redaktionellen Gesellschaft der Zukunft«, so der Autor, »müssen Journalistinnen und Journalisten ihr Verhältnis zum aktiv und medienmächtig gewordenen Publikum grundsätzlich überdenken, (…) sich von der arroganten Simulation von Allwissenheit, der Rolle des Predigers, des Pädagogen und Wahrheitsverkünders verabschieden, zum Zuhörer und Moderator und gleichberechtigten Diskurspartner werden.« Die gleichen Anforderungen müssten aber auch an die Betreiber der digitalen Plattformen gerichtet werden. Dem Autor schwebt hier vor, dass sich Plattformen »eigene, detailliert ausbuchstabierte Richtlinien und Ethikkodizes geben, die der öffentlichen Diskussion zugänglich sind«. Jeder könne dann nach eigenem Gutdünken entscheiden, welcher Plattform er sein Vertrauen schenken will.
Ob der hier vorgeschlagene Weg sich als Königsweg zur Medienmündigkeit im digitalen Zeitalter erweist und ob auf ihm tatsächlich der gegenwärtige Zustand der Verwirrung und der kollektiven Erregung zu überwinden ist, kann sich nur in reformerischer Praxis erweisen. Auf jeden Fall kann dieses Buch aber dazu beitragen, nach gangbaren Auswegen abseits der beiden Sackgassen eines bedingungslosen Optimismus und eines uferlosen Pessimismus bezüglich der Digitalisierung der Medienöffentlichkeit Ausschau zu halten.
Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Hanser, München 2018, 256 S., 22 €.
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