Man spricht und schreibt immer von Marx und Engels, nicht von Engels und Marx, obwohl die alphabetische Ordnung dies nahelegen würde. Marx gilt als der Größere, während Engels, wie er selbstironisch schrieb, in dem von Marx und ihm gemeinsam betriebenen »Compagniegeschäft« gern die »zweite Violine« gespielt habe. Die neuere wissenschaftliche Literatur bekräftigt dieses Urteil, einerseits. Die ans Geniale grenzende philosophische Kreativität seines gelehrten und gebildeten Freundes konnte der gelernte Industriekaufmann, Publizist und Politiker Engels meist nur bewundern. Er tat dies ausgiebig und ohne Eitelkeit. Doch andererseits hat die Forschung der letzten Jahre zu einer deutlichen Aufwertung von Engels geführt. Engels war viel mehr als der Zuarbeiter, Lückenfüller und Finanzier von Marx, wie Rainer Lucas, Reinhard Priem und Hans-Dieter Westhoff in ihrem neuen Buch Arbeiten am Widerspruch (Metropolis, Marburg) zu Recht betonen. »Er hatte einen eigenen Kopf. Und daher ist es an der Zeit, ihn aus dem langen Schatten von Karl Marx zu lösen.« Das gelingt in den zahlreichen Schriften, die jetzt über Engels zu seinem 200. Geburtstag am 28. November erscheinen. Es gibt also gute Gründe, die es rechtfertigen, bisweilen von Engels und Marx, nicht nur von Marx und Engels zu sprechen.
Zwar waren der Gleichklang und die Zusammenarbeit der beiden Freunde oft so eng, dass nicht leicht zu entscheiden ist, was der eine und was der andere beitrug. Jürgen Herres hat über die tiefe Verbundenheit und damit auch die ausgeprägte wechselseitige Abhängigkeit der beiden Freunde geschrieben. Er meint, den einen hätte es ohne den anderen nicht gegeben. »Zumindest würden wir uns ihrer sonst wahrscheinlich nicht erinnern, höchstens einige Spezialisten der Geschichte des 19. Jahrhunderts.« Aber die genauen Studien, die mit der fortschreitenden Herausgabe der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) möglich geworden sind, lassen deutlich erkennen, dass oft der Einfluss von Engels in der Symbiose der beiden der gewichtigere war. Dazu drei Beispiele:
Kaum zu überschätzen ist Engels’ Einfluss auf Marxens Hinwendung zu dem, was sein Lebensthema werden sollte, nämlich zur Politischen Ökonomie und besonders zur Kapitalismusanalyse und Kapitalismuskritik. Erst durch den Gedankenaustausch der beiden in den entscheidenden Jahren 1843 bis 1845 wurde Marx, bis dahin eher philosophisch orientiert und radikale Kritik vor allem als Religions-, Rechts- und Ideologiekritik praktizierend, für die kritische Lektüre der politökonomischen Klassiker wie Smith, Ricardo und Malthus gewonnen. Erst jetzt gewann er die sein zukünftiges Werk nachhaltig prägende Überzeugung, dass die bürgerliche – immer eindeutiger: die industrielle – Ökonomie über den Charakter der modernen Gesellschaft, Kultur und Politik entscheide und aufgrund innerer Widersprüche dem Untergang geweiht sei, aus dem, revolutionär und vom Proletariat getragen, etwas Neues, nämlich Sozialismus oder Kommunismus, hervorgehen werde. Der Schwenk radikal-kritischer Intellektueller hin zur Politischen Ökonomie und damit zur Zielperspektive Sozialismus oder Kommunismus war damals zwar ein länderübergreifendes westeuropäisches Phänomen, beeinflusst durch den massiven Durchbruch des Industriekapitalismus und durch die sich ausbreitende Pauperismus-Krise der vorrevolutionären 1840er Jahre.
Marxens Wendung war also kein Einzelfall. Doch ihre spezifische Färbung erhielt diese Wendung bei Marx durch die Tatsache, dass sie durch den bereits zwischen Deutschland und England hin und her pendelnden Engels stark beeinflusst wurde: Engels brachte das sozialökonomische Wissen und das revolutionäre Engagement mit, die er auch aus der Rezeption englischer Radikalreformer bezogen und mit Primärerfahrungen im industriell fortgeschrittenen Manchester bekräftigt hatte. Damit beeinflusste er Marx.
Die neuesten Publikationen zu Friedrich Engels betonen durchweg die Vielfalt seiner Lebenserfahrungen im Spagat zwischen Unternehmertätigkeit, intellektueller Arbeit und revolutionärem Engagement, die Vielseitigkeit seiner intellektuellen Interessen und die breite Streuung, auch den raschen Wechsel seiner thematischen Schwerpunkte, der es ihm erleichterte, bis ins hohe Alter Neues aufzunehmen, auch wenn dies oftmals bedeutete, dass vieles auf halber Strecke blieb und nicht gründlich zu Ende gedacht wurde. Während Marx als studierter Philosoph theoretischen und wissenschaftlichen Studien das eindeutige Primat in seinem Denken und Leben einräumte, verwendete Engels neben seiner Berufsarbeit und neben wissenschaftlichen Publikationen viel Zeit und Energie auf eigene Beobachtungen der Arbeitswelt und der sozialen Verhältnisse.
Breiterer Erfahrungshintergrund
Das kam seinem frühen Klassiker Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) sehr zugute, der mit seinen eindringlichen Schilderungen der Not und der Ausbeutung der meist irischen Textilarbeiter und ‑arbeiterinnen im zeitgenössischen Manchester die deutsche Öffentlichkeit aufgeschreckt, die Kritik am frühen Industriekapitalismus beschwingt und auch Marx stark beeinflusst hat. Sein breiterer Erfahrungshintergrund konnte sich auch als Überlegenheit in gedanklich-inhaltlicher Hinsicht auswirken. In dem sehr schönen, von Eberhard Illner, Hans Frambach und Norbert Koubek kürzlich äußerst sorgfältig herausgegebenen und reichhaltig ausgestatteten Sammelband Friedrich Engels. Das rot-schwarze Chamäleon (Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt) wird Engels’ Vorsprung vor Marx gezeigt, was das Verständnis und die Analyse des Verhältnisses von Mensch und Maschine in industriellen Arbeitsprozessen anging. Engels’ Überlegenheit resultierte dabei aus seiner direkten Bekanntschaft mit Arbeitsverhältnissen besonders in der Industrie Manchesters, aber auch aus breiterer, genauerer Rezeption der einschlägigen Literatur.
Schließlich ist in der letzten Zeit nachdrücklich erforscht und betont worden, wie heterogen, in sich widersprüchlich, fragmentiert und auch gedanklich unfertig das geschriebene, aber zum großen Teil noch unveröffentlichte Werk von Marx zum Zeitpunkt seines Todes 1883 war und wie sehr es erst im Prozess seiner posthumen Veröffentlichung geschichtswirksam gestaltet und damit zur Referenzgröße verschiedener »Marxismen« der folgenden Jahrzehnte wurde. Diese Konstruktionsarbeit wurde zuerst und vor allem durch Friedrich Engels geleistet, der Marxens chaotischen Nachlass ordnete, seine Schriften edierte und oft in seinem Sinn interpretierte. Dabei wurde er nicht nur als Herausgeber und Propagator, sondern auch als eigenwilliger Autor tätig. Bekanntlich hat erst Engels die Bände 2 und 3 von Das Kapital zusammengestellt und publiziert. Er veröffentlichte popularisierende Schriften. Er wurde zu einem Meister der »Politik des Vorworts« (Wilfried Nippel), indem er die Schriften, die Marx mit ihm zusammen oder allein verfasst und hinterlassen hatte, oft mehrfach – in den verschiedenen Auflagen und Übersetzungen – einleitete und damit ihre Rezeption stark beeinflusste. Wie in dem gerade von Detlef Lehnert und Christina Morina herausgegebenen neuen Sammelband Friedrich Engels und die Sozialdemokratie. Werk und Wirkungen eines Europäers (Metropol, Berlin) kenntnisreich dargestellt, wurde Engels dabei zum wichtigen Stichwortgeber für die Sozialdemokraten im deutschen Kaiserreich, aber auch in anderen europäischen Ländern, beispielsweise in der Habsburger Monarchie. Zunehmend argumentierte er mit einem weit offenen, transnational-europäischen Horizont. Zwar hielt Engels trotz vieler Enttäuschungen an der Erwartung einer revolutionären Umgestaltung der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsordnung und am Fernziel einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft fest.
Kein erstarrter Dogmenhüter
Doch unterstützte er zugleich das parlamentarische Engagement der SPD und kleine Problemlösungen in der Gegenwart. Er plädierte beispielsweise für genossenschaftliche Experimente in der verbreiteten Wohnungsnot der Zeit. Und er setzte sich, als alter 1848er, für innerparteiliche Meinungsfreiheit ein. Den Parteivorsitzenden August Bebel konfrontierte er 1891 mit der Frage, »ob Ihr nicht besser tätet, etwas weniger empfindlich und im Handeln etwas weniger – preußisch zu sein. Ihr – die Partei – braucht die sozialistische Wissenschaft, und diese kann nicht leben ohne Freiheit der Bewegung«. Detlef Lehnert und Christina Morina kommentieren: »Auch der alte Engels war also kein in Marx-Orthodoxie erstarrter Dogmenhüter, sondern blieb trotz aller Gedankenstrenge und erwiesener Freude an (heutige Vorstellungen von ›Political Correctness‹ häufig verletzender) deftiger Polemik gegen abweichende Standpunkte in den eigenen Reihen einer Grundhaltung verbunden, die jenem Motto entspricht, unter das Willy Brandt seinen frühen ›Weg 1930–1950‹ gestellt hatte: ›Links und frei‹.«
Die Literatur, die zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels erscheint, vermeidet es zum Glück, diesen Mitbegründer des Marxismus zu glorifizieren und als Säulenheiligen zu feiern, wie es in früheren Jahrzehnten oftmals geschehen ist. Vielmehr fehlt es nicht an der fälligen Kritik: Ökonomen arbeiten die Einseitigkeit und polemische Verzerrung heraus, mit denen Engels die englische Politische Ökonomie rezipierte und an Marx weitergab. Engels glaubte, eine »Hierarchie von fort- und rückschrittlichen Nationen in einem übergreifenden Schema weltgeschichtlichen Fortschritts« erkennen zu können und qualifizierte »kleine Völker« im Osten Europas als geschichtslos und unfähig zur Nationsbildung ab. Historiker registrieren das ebenso mit Befremden wie Engels’ »positive Affinität zum Militärischen« in seinen militärwissenschaftlichen Studien. Aus heutiger Perspektive wird überdies sehr deutlich, wie schwer es dem durch Erfahrungen und Einsichten des vormärzlichen Europa geprägten Engels fiel, spätere Entwicklungen wirklich zu verstehen, sei es die Überwindung des Pauperismus durch erfolgreiches kapitalistisches Wachstum in der zweiten Jahrhunderthälfte, sei es das Ausbleiben der von ihm und Marx erwarteten proletarischen Klassenbildung mit revolutionären Konsequenzen in den USA, sei es die Überlebensfähigkeit mittelständischer Existenzen in Landwirtschaft und Gewerbe, deren Untergang er zusammen mit Marx prognostiziert hatte. Das Scheitern zentraler Prognosen von Marx und Engels zeichnete sich schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts ab.
Vor allem mit Blick auf die Krisen des Kapitalismus und die für ihn typischen Ungerechtigkeiten hat Engels, in enger Verbindung mit Marx, hellsichtig Probleme erkannt und mutig bekämpft, die auch heute noch bestehen. Dennoch verzichten die meisten, die heute über Engels schreiben, klugerweise darauf, seine damaligen Einsichten zu aktualisieren und als Beiträge zur Lösung heutiger Probleme zu empfehlen. Denn aus der zeitlichen Distanz von zwei Jahrhunderten erkennt man, wie sehr Engels eine Person des 19. Jahrhunderts war: geprägt durch die Auseinandersetzung mit einer frühen Phase des rücksichtslos durchbrechenden Industriekapitalismus, durch die Hoffnungen, Kämpfe und Enttäuschungen der 48er Revolution, durch die in jenen Jahrzehnten vorhandenen Perspektiven und Begrenzungen des Denkens und Handelns. Er war ein kritischer Bürger des 19. Jahrhunderts, der – allerdings auf sehr persönliche, ungemein selbstständige und beneidenswert unkonventionelle Weise – wirtschafts- und bildungsbürgerliche Elemente in seinem Leben verknüpfte. Er war ein Kind seiner Zeit. Doch er war es auf einzigartige und eminent produktive Weise, mit großen Stärken und Leistungen, die erst aus der langen zeitlichen Distanz erkennbar werden. Die notwendige Historisierung einer großen Persönlichkeit zerstört keineswegs die Faszination, die weiterhin von ihr ausgeht – im Gegenteil.
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