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Vor 150 Jahren begann der deutsch-französische Krieg Mehr als ein Kabinettskrieg

Die durch die Revolutionsereignisse von 1848/49 erschütterte europäische Staatenordnung des Wiener Kongresses konnte um 1850 noch einmal befestigt werden, ohne dass die durch die Revolutionen aufgeworfenen Fragen der staatsbürgerlichen, der sozialen und nicht zuletzt der nationalen Emanzipation gelöst gewesen wären. Die Außenpolitik der etablierten Mächte war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wenig ideologisch aufgeladen und kannte keine festen Blockbildungen, doch existierten europaweit bestimmte typische Sympathien der politischen Hauptrichtungen, so der Liberalen, Demokraten und Sozialisten für das nationale Selbstbestimmungsrecht. Das versuchte insbesondere der französische Kaiser Napoleon III. für die auf kontinentale Hegemonie zielende Außenpolitik seines Empires zu nutzen.

Mehr als der preußische Ministerpräsident (seit 1862) Otto von Bismarck, ursprünglich ein Politiker der äußersten royalistischen Rechten, inzwischen ein unideologischer konservativer Machtpolitiker, der auch die modernen Zeitströmungen in sein Kalkül einbezog, galt Napoleon III. als internationaler Störenfried und Unruhestifter. Militärische Konflikte, an denen Preußen nicht beteiligt war – der Krim-Krieg 1853–56, der französisch-piemontesische Krieg 1859 gegen Österreich, ebenso der französisch ermutigte Aufstand in Russisch-Polen 1863 –, führten dazu, dass Russland der vorwiegend großpreußisch motivierten, doch mit den deutschlandpolitischen Zielen der einheimischen Nationalliberalen mehr und mehr konvergierenden Außenpolitik Bismarcks keinen Widerstand entgegensetzte. Vielmehr sagte es insgeheim ein Eingreifen zugunsten Preußens zu, falls Österreich in einem deutsch-französischen Krieg intervenieren sollte, während die Staatsmänner Großbritanniens, der einzigen damaligen Weltmacht, Preußens Aufstieg meist nicht als existenziell bedrohlich für Londons weltweite Stellung ansahen.

Der Anlass für den Konflikt, der den Krieg auslöste, war ein rein dynastischer: Der konstitutionelle Herrscher, den die Spanier nach dem liberalen Umsturz von 1868 als König ins Land holen wollten, gehörte einer katholischen Nebenlinie der Hohenzollern an. Frankreich befürchtete eine Einkreisung wie im 16./17. Jahrhundert durch die Habsburger. Nach einem längeren Hin und Her erklärten der Thronprätendent Prinz Leopold und dessen Vater Karl Anton formell ihren Verzicht auf die angebotene Krone, veranlasst auch durch König Wilhelm I. von Preußen als Oberhaupt des ganzen Hauses Hohenzollern.

Damit wollten sich die Hardliner in Paris unter dem Druck einer aufgebrachten, großenteils oppositionellen öffentlichen Meinung aber nicht zufriedengeben. So schickte der Außenminister Herzog de Gramont seinen Botschafter Graf Benedetti zum Kurort des preußischen Königs nach Bad Ems, wo er zunächst höflich und entgegenkommend aufgenommen, bei seinem dritten Versuch, mit dem König zu sprechen, von Wilhelm jedoch zurückgewiesen wurde. Der bereits erzielte diplomatische Erfolg ging der französischen Seite nicht weit genug: Preußens monarchische Spitze sollte nicht nur für alle Zeiten den Thronverzicht der Sigmaringer bestätigen, sondern auch die Rolle ihrer Regierung bei der Einfädelung der Kandidatur zu erkennen geben und sich öffentlich entschuldigen.

Bismarck sah nun seinerseits die Chance, Frankreich vor der internationalen und namentlich der deutschen Öffentlichkeit bloßzustellen. Sollte das Nachbarland daraufhin zu den Waffen greifen, würde er einen populären Nationalkrieg führen, an dem sich die süddeutschen Staaten aufgrund 1866 abgeschlossener Schutz- und Trutzbündnisse beteiligen müssten. Zudem loderte nun überall in Deutschland die Begeisterung für einen Waffengang gegen den »Erbfeind« auf, gewissermaßen in Fortsetzung der antinapoleonischen Unabhängigkeitskriege von 1813/14 und 1815.

Die berühmt-berüchtigte Emser Depesche, in der Bismarck die Mitteilung aus Bad Ems über die dem französischen Botschafter bereitete Abfuhr verkürzte und zuspitzte, ließ Frankreich als alleinigen Aggressor mit nichtigem Kriegsanlass dastehen (was in den europäischen Hauptstädten Wirkung zeigte), war jedoch nicht entscheidend für die Entfesselung des Krieges. Als die Depesche am 14. Juli 1870 um 18:30 Uhr in Paris bekannt wurde, war die Mobilmachung der Truppen dort schon eingeleitet. Am Folgetag bewilligte das französische Parlament mit überwältigender Mehrheit die Kriegskredite, am 19. Juli erfolgte die Kriegserklärung Frankreichs.

Die Mobilmachung und der Aufmarsch der deutschen Heere gelangen, nicht zuletzt wegen des bereits gut ausgebauten Eisenbahnnetzes und präziser Planung, weitaus besser als die der französischen Armee, die – entgegen den Absichten der militärischen und politischen Führung – beinahe von Anfang an in die Defensive geriet und eine Niederlage nach der anderen einstecken musste. Entscheidend war die bewegliche Führung der Deutschen, koordiniert vom preußischen Generalstabschef Helmuth von Moltke. Bereits Anfang September 1870 musste bei Sedan eine der beiden französischen Hauptarmeen, die eingekesselt worden war, kapitulieren; Napoleon III. begab sich mit den Soldaten in Gefangenschaft.

Dieser große Sieg der preußisch-deutschen Truppen beendete aber noch keineswegs den Krieg, denn in Paris wurde die Republik proklamiert, und eine Regierung der nationalen Verteidigung mit dem Innen- und Kriegsminister Léon Gambetta als treibende Kraft setzte den Kampf fort. Alle waffenfähigen Männer waren aufgerufen, sich der Mobilgarde anzuschließen. Das Eingreifen irregulärer Einheiten (Franctireurs) in den besetzten Gebieten und die vielfach scharfen Reaktionen der Invasoren steigerten die Erbitterung auf beiden Seiten, ebenso ab dem Jahreswechsel 1870/71 der Beschuss von Paris von dem seit September 1870 geschlossenen deutschen Belagerungsring aus. Verbreitete Versorgungsnot, die in großem Umfang Plünderungen nach sich zog, und mangelnde medizinische Betreuung, ebenso der Einsatz neuer Waffen, so der preußischen stählernen Hinterlader-Kanonen mit teilweise schlachtentscheidender Wirkung, vermittelten einen Eindruck vom Grauen der künftigen Weltkriege. Am Ende hatte die deutsche Seite etwa 45.000 Gefallene und 90.000 Verwundete zu beklagen, die französische ca. 139.000 Gefallene und 143.000 Verwundete; 474.000 Franzosen waren in Gefangenschaft geraten.

Schon kurz nach Kriegsbeginn wurde in Deutschland der Ruf immer lauter: »Heraus mit Elsaß-Lothringen!« (Heinrich von Treitschke), jenen damals überwiegend deutschsprachigen, aber nach allgemeiner Annahme eher französisch empfindenden Gebieten. Forciert wurde die Kampagne von drei Seiten: dem Militär aus geostrategischen Gründen, der Industrie wegen des Zugangs zum lothringischen Erz und der Öffentlichkeit, auch und gerade der liberalen, aus »nationalen« Motiven. Dieselben Kreise sorgten dann dafür, dass der »Sedantag« zum inoffiziellen Nationalfeiertag des Deutschen Kaiserreichs wurde. Beide Gruppierungen der noch gespaltenen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die »Lassalleaner« und die »Eisenacher«, lehnten hingegen die Fortsetzung des Krieges nach dem Sturz des Bonapartismus ab und verurteilten die geplante Annexion Elsaß-Lothringens, sekundiert nur von wenigen bürgerlichen Demokraten. Nationale Nihilisten waren sie nicht, auch nicht die beiden Abgeordneten der 1869 in Eisenach gegründeten SDAP, August Bebel und Wilhelm Liebknecht. Sie hatten sich im Norddeutschen Reichstag – anders als der lassalleanische ADAV, der für die erste Phase von einem legitimen Verteidigungskrieg Deutschlands ausgegangen war, – mit ihrer Enthaltung bei der Abstimmung über die Kriegskredite von Anfang an geweigert, den Krieg zu unterstützen, womit sie zeitweise auch in der eigenen Partei in der Minderheit waren. Die Sozialisten traten für die Einigung Deutschlands von unten in einer demokratischen Republik und im brüderlichen Bund mit den anderen Völkern ein.

Und sie, deren führende Vertreter die Reichsgründung in großen Teilen als »Hochverräter« im Gefängnis erlebten, bekannten sich demonstrativ zur Erhebung der Pariser Kommune. Diese wurde durch den Versuch des provisorischen Staatspräsidenten Adolphe Thiers ausgelöst, welcher nach dem Fall der französischen Hauptstadt am 26. Februar 1871 den Vorfrieden von Versailles abgeschlossen hatte, die linksorientierte Nationalgarde entwaffnen zu lassen. Anknüpfend an die lange revolutionäre Tradition der Stadt, konstituierte sich im März 1871 für sechs Wochen eine radikaldemokratische Stadtregierung, die sich aus gewählten Vertretern unterschiedlicher sozialistischer und linksrepublikanischer Parteiungen, großenteils Arbeitern, zusammensetzte. Revolutionärer Patriotismus und eine kommunalistische Demokratievorstellung verbanden sich mit Antikapitalismus. Bestärkt durch diverse Zerstörungen in der Pariser Innenstadt und mehrere Dutzend Geiselerschießungen lösten die Ereignisse ein tiefes Erschrecken des gesamten bürgerlichen bzw. aristokratischen Spektrums Europas vor einer drohenden proletarischen Revolution aus, und die äußerst blutige Niederschlagung der Pariser Erhebung – Aufstandsversuche in anderen Städten Frankreichs wurden meist schnell unterdrückt – fand breite Zustimmung; das internationale Prestige Preußens als gegenrevolutionäre Ordnungsmacht wuchs vorübergehend.

Um die friedensgeneigten Kräfte in Frankreich zu begünstigen, hatten die deutschen Besatzungsstreitkräfte die Wahl für eine Nationalversammlung am 8. Februar 1871 nicht behindert. In der Tat errangen verschiedene monarchisch-konservative Richtungen, denen die innere »Bereinigung« wichtiger war als die Behauptung im Krieg, eine deutliche Mehrheit. Es dauerte bis gegen Ende der 1870er Jahre, bis sich die Republik durchsetzte. Deren Belastung durch die Kriegsniederlage von 1871 – einschließlich des Aufkommens eines massiven Antisemitismus und Ultra-Nationalismus – weist durchaus Parallelen zur Weimarer Republik in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auf.

Im Windschatten des Krieges von 1870/71 liquidierte der junge italienische Nationalstaat den Vatikanstaat in und um Rom, der bis dahin von französischen Truppen beschützt worden war; das Vatikanische Konzil wurde abgebrochen. Die bedeutendste, fast zwangsläufige Folge des Krieges war die staatliche Einigung »Kleindeutschlands«, nach damaliger Terminologie: der deutschen Staaten nördlich der Schweiz und Österreichs. Sie stürzte das internationale System nicht völlig um, beinhaltete aber eine erhebliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Der Ausschluss Österreichs aus Deutschland war 1866 durch den zweiten und bedeutendsten, dabei kürzesten der bismarckschen Kriege erfolgt. Der 1867 daraufhin gegründete Norddeutsche Bund nahm die Reichseinigung von 1871 auf kleinerem Territorium vorweg, auch in der Gestaltung der Staatsverfassung. Die Königreiche Württemberg und vor allem Bayern sowie – aus unterschiedlichen Motiven (legitimistischen, partikularistischen, großdeutschen, antimilitaristischen, demokratischen) – auch die Mehrzahl der Wähler dort sträubten sich gegen einen engeren, preußisch geführten Zusammenschluss des schon seit über drei Jahrzehnten sukzessive im Deutschen Zollverein zusammengefassten Gebiets. Erst die von der provokativen Haltung Frankreichs und Bismarcks Emser Depesche ausgelöste nationale Euphorie schuf eine Dynamik, der sich die Regierungen der süddeutschen Staaten nicht entziehen konnte.

Die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871 inszenierte das neue Deutsche Reich als Fürstenbund. Faktisch war alles Wesentliche vorher vertraglich geregelt worden; abgesehen von einer Reihe an Reservatrechten, die Württemberg und namentlich Bayern zugestanden wurden. Es waren zudem auch beträchtliche Zahlungen an den Wittelsbacher Ludwig II. erforderlich – handelte es sich doch um einen Beitritt der Territorien südlich des Mains zum Norddeutschen Bund. Preußen war, nach den direkten Annexionen von 1866, nach 1871 immer noch quantitativ übermächtig, wenn auch nicht mehr in dem erdrückenden Ausmaß der Jahre zuvor.

Bei der Beurteilung des Einigungsvorgangs ist zu berücksichtigen, dass dem Schlussakt von 1870/71 ein jahrzehntelanger wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Nationenbildungsprozess vorausgegangen war; die bürgerliche Nationalbewegung war liberal, teilweise auch demokratisch orientiert. Die damit verbundenen Impulse gingen in die Reichsgründung mit ein; am Ende historischer Prozesse steht ja stets ein aus dem Ringen unterschiedlicher bzw. gegensätzlicher, wenn auch meist nicht gleichgewichtiger Kräfte resultierendes Ergebnis.

Die in ihren wesentlichen Grundzügen von Bismarck selbst noch für den Norddeutschen Bund entworfene, dann mit den Einzelstaaten und der Volksvertretung vereinbarte Verfassung war so konstruiert, dass sie einen gewohnheitsrechtlichen Übergang zur parlamentarischen Regierungsweise blockieren sollte, wie er für etliche europäische Länder charakteristisch war. Insofern faktisch blockierend wirkten insbesondere die Personalunion des Königs von Preußen mit dem Oberhaupt des Deutschen Kaiserreichs, das Dreiklassenwahlrecht für den preußischen Landtag und die größtenteils außerkonstitutionelle Stellung des Militärs.

Seit den 1890er Jahren kam die Verfassungswirklichkeit Deutschlands aber doch in Bewegung. Die Reichsverwaltung emanzipierte sich tendenziell von der preußischen Verwaltung, aus dem Reichskanzleramt mit Staatssekretären (statt Ministern) entwickelte sich etwas Ähnliches wie eine Reichsregierung und der Bundesrat der einzelstaatlichen Exekutiven büßte gegenüber dem Reichstag (gewählt nach einem für damalige Verhältnisse ungewöhnlich fortschrittlichen allgemeinen und gleichen Wahlrecht für Männer ab 25) an Gewicht ein. Es ist anzunehmen, dass der Veränderungsdruck auch ohne die von der Kriegsniederlage im Herbst 1918 ausgelösten Erschütterungen stärker geworden wäre und, wenn auch nicht konflikt- und kampflos, zu substanziellem Wandel des politischen Systems geführt hätte.

Der Krieg von 1870/71 bewirkte nicht nur die nachholende Gründung eines deutschen Nationalstaats, sondern befeuerte, auch durch die von Frankreich zu zahlenden erheblichen Reparationen (ca. 5 Milliarden Goldfranken), die letzte hochkonjunkturelle und spekulative Phase des in den 1840er Jahren gestarteten industriellen Durchbruchs in Deutschland, bevor dieser ab 1873 in die »Gründerkrise« und dann in eine längere Phase verlangsamten Wachstums überging. Im Deutschen Kaiserreich entwickelte sich in der Folgezeit der – nach den USA – modernste und dynamischste Kapitalismus der Welt. Schon in den 1860er Jahren, als noch Großbritannien scheinbar unerreichbar an der Spitze stand, hatte Deutschland Frankreich in der Kohleförderung und in der Dampfmaschinenproduktion eingeholt, während der 1870er Jahre gelang das auch in der Eisenproduktion und bezüglich der agrarischen Produktivität.

Die auch unter Fachhistorikern verbreitete Ansicht, dass es die großagrarisch-aristokratischen Überhänge, der andauernde Einfluss des – insbesondere ostelbischen – Großgrundbesitzes innerhalb des hegemonialen junkerlich-großkapitalistischen Machtblocks waren, die für die vermeintlich spezifische Aggressivität des wilhelminischen Reiches – im Rahmen eines allseits prägenden imperialistischen Weltsystems – verantwortlich war, ist anfechtbar. Für die meisten kriegstreibenden Faktoren im Innern Deutschlands wie in seiner Außenpolitik seit den 1890er Jahren lassen sich anderswo Parallelerscheinungen ausmachen. Unzweifelhaft ist aber, dass die Demütigung Frankreichs 1871 mit der Annexion Elsaß-Lothringens ohne Befragung der Einwohner die kaum noch aufhebbare Feindschaft Frankreichs gegenüber Deutschland zu einer gefährlichen Konstante der fragilen europäischen Staatenordnung machte.

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