Menü

Grundzüge sozialdemokratischer Religionspolitik Mehr als Projektionsfläche

Am Ende des Kaiserreiches 1918/1919 sah sich der Verfassungsausschuss der Nationalversammlung mit einer bis dato nicht gekannten weltanschaulichen Vielfalt und mit Deutungskämpfen konfrontiert: Die christlichen Konfessionen und das Judentum differenzierten sich immer weiter aus, immer mehr Menschen praktizierten ihre Religion zumindest nicht mehr in ihrer tradierten Form, derbe Religionskritik war en vogue, die vor allem der institutionalisierten Religion zusetzte.

In dieser Situation gelang es maßgeblich der Sozialdemokratie, das Verhältnis von Staat und Religion nicht nur gütlich zu regeln, sondern auch ein damals weltweit einzigartiges Modell auf den Weg zu bringen. Es kam zur klaren Abkehr von der Staatskirche, aber eben nicht zur Hinwendung zu einem laizistischen System, in dem Staat und Kirche strikt getrennt und die Religion ins Private verbannt wäre.

Heraus kam nämlich ein beachtlicher Kompromiss, der Folgendes umfasste: die Nichtdiskriminierung aufgrund des religiösen Bekenntnisses, ein hohes Niveau sowohl der persönlichen Freiheit zu als auch der Freiheit von Religion, die Entflechtung von Staat und Kirche ohne Religion aus der Öffentlichkeit zu vertreiben, die Vereinigungsfreiheit, inklusive der Freiheit für Religionsgesellschaften »ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes« zu verwalten und schließlich die staatliche Förderung und umfassende Gleichstellung aller Religionsgesellschaften bei staatlicher Neutralität in Weltanschauungsfragen.

Die Weimarer Artikel 136 bis 141 sind bis heute die rechtliche Grundlage für die Religionspolitik in Deutschland. Das Grundgesetz von 1949 knüpft direkt an Weimar an. Hier finden wir die »Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses« als Grundrecht in Artikel 4. Wir leben in einem säkularen Staat, der mit einer bunten, jedenfalls nicht säkularen Gesellschaft offen und positiv, ja fördernd umgeht. Das heißt, er würdigt Bedeutung und Eigenwert der Religion. Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde – wieder ein Sozialdemokrat – führte mit seiner bekannten Aussage, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, vor Augen, was dieser Eigenwert meinen kann.

Und genau deshalb fördert der Staat des Grundgesetzes das Bekenntnis zu einer Religion oder Weltanschauung und kooperiert mit deren Organisationen, auch wenn nicht immer alles, was unter dem Namen Religion geschieht, tatsächlich einen positiven Eigenwert für sich beanspruchen kann.

Unser Religionsverfassungsrecht ist ein Kompromiss, zu dem sich die Sozialdemokratie auch heute noch gerne bekennen kann. Die Religionspolitik in Deutschland, so viel wird man sagen können, ist seit 100 Jahren eine sozialdemokratisch mitgeprägte Religionspolitik. Sozialdemokraten mögen traditionell eher religionskritisch sein. Tatsächlich sind sie gleichzeitig auch in religionspolitischer Hinsicht Volkspartei mit harten Religionskritikern wie Johann Most bis zu religiösen Sozialisten wie Christoph Blumhardt.

Angeblich wird unser Land immer säkularer und gleichzeitig ist ständig und überall von Religion die Rede. So häufig, dass die Realitäten verschwimmen. Fragt man die Menschen in Deutschland, wie viele Muslime wohl unter uns leben, schätzen die meisten die Zahl auf knapp 20 Prozent. Tatsächlich sind es sechs oder sieben Prozent, und was »muslimisch« dann genau heißt, bedeutet in Wirklichkeit eine große Vielfalt. Hätte man vor wenigen Jahren vielleicht denken können, Religionspolitik sei etwas für die Übriggebliebenen, merken wir heute, dass die Bedeutung von Religion für unser Zusammenleben kaum nachgelassen hat. Ganz gleich, ob es dabei tatsächlich immer um Religion geht oder Religion nur das ist, worüber eben so viel gesprochen wird.

Gutes Zusammenleben in religiöser Vielfalt

Religionspolitik muss heute beides leisten: sagen, wo Religion nur eine große Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Fragen ist, und sich den vielen Fragen für ein gutes Zusammenleben stellen, die tatsächlich mit Religion verbunden sind, insbesondere dort, wo Grundrechte miteinander in Konflikt geraten und es Aushandlungsbedarf gibt. Als offene Fragen seien nur die Folgenden aufgeworfen, etwa:

  • Wo zum Beispiel sollen Kopftücher getragen werden können und wo nicht?
  • Kann man nicht verlangen, dass alle Kinder schwimmen lernen, um ihrer eigenen Sicherheit willen?
  • Wie geht es mit unseren Feiertagen weiter, wenn uns ihr Gehalt mehr und mehr verloren geht?

Religionspolitik heute muss sich beherzt den vielen Fragen stellen, die sich angesichts der weltanschaulichen Vielfalt stellen. Vor allem aber rücken die Fragen in den Vordergrund, die sich aus dem Erfordernis ergeben, aus dieser ganzen Vielfalt den nötigen gesellschaftlichen Zusammenhalt zu formen. Der Koalitionsvertrag der Ampel enthält sehr konkrete Vorhaben, die wir in dieser Legislaturperiode angehen. Sie alle atmen den Geist einer sozialdemokratischen Religionspolitik, denn diese will klären, wie wir in religiöser Vielfalt gut zusammenleben können. Unser Religionsverfassungsrecht muss vor diesem Hintergrund teils durchgesetzt, teils angepasst und sicher auch weiterentwickelt werden. Dann nämlich werden wir einen wesentlichen Beitrag für ein zukunftsfähiges Modell guten Zusammenlebens in Vielfalt insgesamt in unserem Land geleistet haben.

Dazu gehört es, alte Verflechtungen, die der freundlichen Trennung von Staat und Religion weder entsprechen noch dieser dienen, zu lösen. Nach unseren Vorstellungen sollen daher die Staatsleistungen, wie im Grundgesetz schon lange vorgesehen, abgelöst werden. In einem Grundsätzegesetz wird ein fairer Rahmen für die Ablösung der Staatsleistungen geschaffen. Dies geschieht im engen Dialog mit den Kirchen und den Bundesländern, die die Kosten alleinig zu tragen haben. Die Kirchen streben die Ablösung selbst an, um hier die notwendige Entflechtung der Finanzen zu erreichen.

Was den Rechtsstatus der Körperschaften öffentlichen Rechts anbelangt, handelt es sich um ein Angebot an Religionsgemeinschaften, das es nicht zum Nulltarif geben kann. Wir müssen auf Anpassungsleistungen und immer auch auf Eigenverantwortung als Ausgangspunkt bestehen, denn dies haben andere Religionsgemeinschaften auch geleistet. Zugleich können die Voraussetzungen für Kooperationen verändert und also der wachsenden Pluralität angepasst werden. Uns Sozialdemokraten zeichnet immer die besondere Sorge um die Schwächeren aus. Religionspolitisch bedeutet dies, dass wir insbesondere da hinschauen, wo die Kleineren anzutreffen sind, wo etwas wächst, noch zart ist und der Unterstützung bedarf. Wir können also nicht warten, bis alle reif sind, Körperschaften des öffentlichen Rechts zu werden.

Über Altbekanntes hinauszudenken hilft auch hier: Beiratsmodelle, in denen sich verschiedene Gruppierungen zusammenfinden und vorangehen, oder direkte Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten zeigen neue Wege zu gleichberechtigter Teilhabe auf. Wir binden Gemeinden aktiv in diese Prozesse ein und steigern deren Repräsentanz. So können auch weitere Ausbildungsprogramme für Imaminnen und Imame an deutschen Universitäten in Zusammenarbeit mit den Ländern ausgebaut werden.

Letztlich schauen wir auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gerechtigkeit bedeutet unter anderem, dem Einzelnen in seinen Bedürfnissen gerecht zu werden, also den Religionsgemeinschaften in ihren Bedürfnissen. Soziale Gerechtigkeit weist aber darüber hinaus auf die Anderen, auf den gerechten Ausgleich, auf das Miteinander. Wir brauchen eine Religionspolitik – und nicht nur eine solche –, die uns hilft, auf den Zusammenhalt, auf das gute Zusammenleben hinzuarbeiten.

Daher schauen wir auf das Miteinander der Religionsgemeinschaften und fördern Orte der Begegnung. Wir stärken Initiativen, die ein vielfältiges jüdisches Leben in Deutschland fördern, und bekämpfen wo wir nur können alle Formen des Antisemitismus. Und wer für Religionsfreiheit ist, muss auch sagen, dass die Gläubigen dazugehören, egal welchem Glauben sie angehören. Spalterische Debatten müssen wir zurückweisen, weil unser Grundgesetz diese Debatten nicht eröffnet, sondern uns den gesellschaftlichen Frieden ermöglicht, in der Vielfalt gut zusammen zu leben. Also: Ja, der Islam gehört selbstverständlich zu Deutschland, einfach weil Muslime seit vielen Jahren hier leben.

Am gesellschaftlichen Konsens zu Fragen von Religionen und Weltanschauungen muss immer wieder gearbeitet werden. Den nötigen Dialog dazu dürfen wir nicht nur mit denen führen, die das – nicht zuletzt wegen eigener Betroffenheit – unterstützen, sondern gerade auch mit denen, die eher die Freiheit von Religion für sich in Anspruch nehmen wollen. Die Freiheit des Glaubens ist keine Angelegenheit der Gläubigen, sie ist für alle da und muss auch wechselseitig zugestanden werden. Wir brauchen diese Diskussion in Zeiten wachsender kultureller und religiöser Vielfalt und eine neue Verständigung über das alltägliche Miteinander, darüber, wo Chancen liegen, wo alltäglich Halt und Orientierung gegeben werden, bis hin zu Gefühlen von Fremdheit, die auch mit Religion einhergehen können.

Am Schluss geht es nicht ohne Willy Brandt, dem das Wichtigste die Freiheit war, als erster sozialdemokratischer Grundwert der Trias von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Dazu gehört die Religionsfreiheit. Für sozialdemokratische Religionspolitik steht Religions- und Weltanschauungsfreiheit stets an erster Stelle. Im Wissen darum ist Religion immer, was Menschen daraus machen. Sie ist natürlich kein Freibrief, vor allem nicht für Menschen, die sie nur benutzen. Religion hat Konfliktpotenzial, ist aber auch eine Ressource. Überall dort, wo Religionen und Weltanschauungen am guten Miteinander aller Menschen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland arbeiten, wollen wir sie unterstützen und stärken.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben