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Bausteine für eine moderne, vorbeugende, europäische Friedens- und Sicherheitspolitik Mehr als pure Zahlenarithmetik

Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten hat die transatlantischen Beziehungen kräftig durcheinandergewirbelt. Alte Gewissheiten werden infrage gestellt. Europa, so scheint es, kann sich nicht mehr bedingungslos auf seinen Partner jenseits des Atlantiks verlassen. Treuebekundungen zum transatlantischen Bündnis kommen dem neuen US-Präsidenten nur schwer über die Lippen und wenn, dann nur in Verbindung mit finanziellen Forderungen an die Alliierten. Zwar ist der Wunsch der USA nach einer gerechteren Lastenteilung innerhalb des Bündnisses nicht wirklich neu, aber seit Trumps Einzug ins Weiße Haus wird er mit mehr Nachdruck und Vehemenz denn je vorgetragen. Anlass genug, um über unsere eigenen außen- und sicherheitspolitischen Ziele und Instrumente nachzudenken und entsprechende Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.

Keine Zahl elektrisiert die sicherheitspolitische Debatte der vergangenen Monate so sehr wie die Forderung, alle NATO-Staaten sollten 2 % ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben. In Deutschland tat sich (Noch-)Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als besonders gewissenhafte Schülerin hervor. Unmittelbar nach der Amtsübernahme Trumps versicherte sie, dass sich Deutschland an die vermeintliche Vorgabe der NATO gebunden fühle und man selbstverständlich bereit sei, dieses Ziel umzusetzen. Auch im aktuellen CDU/CSU-Wahlprogramm wird an dieser Zielmarke festgehalten.

Für diese Debatte ist es hilfreich, sich zunächst einmal zu vergegenwärtigen, was die NATO 2014 auf ihrem Gipfel in Cardiff beschlossen hat. Denn entgegen der landläufigen Meinung wurde damals mitnichten ein fixes »Zwei-Prozent-Ziel« vereinbart. Vielmehr lautete der Beschluss, dass »die Bündnispartner, deren Anteil vom BIP für Verteidigungsausgaben gegenwärtig unter diesem Richtwert liegt, (….) darauf abzielen, sich innerhalb von zehn Jahren auf den Richtwert von zwei Prozent zuzubewegen, um ihre NATO-Fähigkeitsziele zu erreichen und Fähigkeitslücken der NATO zu schließen«.

Damit ist erstens klargestellt, dass es sich bei dem Zwei-Prozent-Ziel um eine Orientierungsmarke und nicht um eine feste Größe handelt, zumal der Deutsche Bundestag dazu keinerlei Beschluss gefasst hat. Und zweitens geht es darum, Fähigkeitsziele zu erreichen und Fähigkeitslücken zu schließen, indem man sich auf den genannten Richtwert zubewegt. Deutschland hat durch seine Erhöhung des Verteidigungshaushalts in den letzten Jahren bereits Schritte in diese Richtung unternommen und ist auch bereit, diesen Kurs fortzusetzen.

Sozialdemokratische Außen- und Sicherheitspolitik ist Friedenspolitik und lässt sich nicht auf eine ausschließliche Verteidigungspolitik reduzieren. Daher kann der Beitrag der NATO-Mitglieder zur gemeinsamen Sicherheit auch nicht nur an den Ausgaben für die eigenen Streitkräfte gemessen werden, zumal auch die USA nicht ihren gesamten Verteidigungsetat der NATO zur Verfügung stellen und insbesondere der Unterhalt eines Atomwaffenarsenals extrem kostenintensiv ist.

Ein starres Festhalten an der »Zwei-Prozent-Arithmetik« würde demnach den Blick auf die eigentlichen Herausforderungen verstellen, denen sich deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik in den kommenden Jahren und Jahrzehnten stellen müssten.

Viel zu kurz kommt in der aktuellen Debatte der Blick, welche Folgen eine Erhöhung des deutschen Verteidigungshaushalts auf 2 % des BIP für unser Umfeld bedeuten würde. Denn nach heutiger Berechnung müssten die Verteidigungsausgaben auf 70 Milliarden Euro anwachsen, was nahezu einer Verdopplung des heutigen Einzelplans 14 entspräche. Kein anderer europäischer Staat – nicht einmal Russland – steckt bislang so viel Geld in die eigene Verteidigung.

Es ist davon auszugehen, dass eine solch massive Erhöhung der Militärausgaben daher nicht nur jenseits der NATO-Außengrenzen auf Besorgnis, sondern auch bei unseren unmittelbaren europäischen Nachbarn zu Irritationen führen würde.

Außenminister Sigmar Gabriel hat deshalb seit Beginn der Debatte zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Verengung des Blickwinkels auf die Verteidigungsausgaben in eine Sackgasse führt. Stattdessen müssten auch Ausgaben für Einsätze im Rahmen von Missionen der Vereinten Nationen, für die Flüchtlingshilfe sowie die Entwicklungszusammenarbeit mit berücksichtigt werden.

Damit nähern wir uns einer weiteren Notwendigkeit: der Ausweitung des Sicherheitsbegriffs. Dies würde einer alten sozialdemokratischen Forderung entsprechen und bedeuten, Krisenprävention, humanitäre Hilfe und andere Beiträge zur Stabilisierung der internationalen Lage miteinzubeziehen.

Europas (Un-)Sicherheitslage 2017

Unbestreitbar hat sich die Sicherheitslage durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und Russlands offensichtliche Unterstützung separatistischer Kräfte in der Ostukraine seit 2014 zugespitzt. Russland hat in den vergangenen Jahren seine Militärausgaben und damit auch seine militärischen Fähigkeiten in den an Mitteleuropa grenzenden Militärbezirken deutlich erhöht. Dass sich insbesondere kleinere Länder wie die baltischen Staaten dadurch verunsichert fühlen, ist nachvollziehbar.

Die NATO hat darauf relativ besonnen reagiert und durch die Verlegung von vier Bataillonen nach Polen und ins Baltikum ein deutliches Signal der Solidarität mit den vier mittelosteuropäischen Staaten ausgesendet.

Dennoch ist die Gefahr, dass sich NATO und Russland in eine Aufrüstungsspirale hineinbewegen, nicht aus der Luft gegriffen. Die seit Jahrzehnten gewachsene Abrüstungs- und Rüstungskontrollarchitektur steht unter einem massiven Druck. Durch ein weiteres Drehen an der Aufrüstungsspirale würde sowohl die globale als auch die gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung weiteren Schaden nehmen.

Maßnahmen der gegenseitigen Vertrauensbildung und beiderseitige Abrüstungsschritte wären stattdessen der geeignete Weg, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Auch vor diesem Hintergrund hat der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2016 eine Initiative für einen umfassenden Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa ins Leben gerufen, mit dem Ziel, wieder mehr Vertrauen und Berechenbarkeit zu erreichen, das militärische Risiko zu verringern und einem drohenden Rüstungswettlauf entgegenzuwirken.

Ein weiterer Ausweg, um aus der Falle der »Zwei-Prozent-Fokussierung« herauszukommen, ist eine stärkere Hinwendung zu der in Artikel 42, Absatz 6 des Vertrags von Lissabon geschaffenen Möglichkeit für eine verstärkte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik. Mit dem Ausbau der »Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit« (Permanent Structured Cooperation, PESCO) könnte deutlich mehr Effizienz der gegenwärtigen Militärausgaben erzielt und Fähigkeitslücken könnten geschlossen werden, ohne dabei eine exorbitante Steigerung der Verteidigungsausgaben vornehmen zu müssen. Noch heute ist es so, dass Europa 45 % der Verteidigungsausgaben der USA tätigt, aber im Vergleich nur 15 % der Effizienz aufweist.

Auf der Sitzung des Europäischen Rates vom 22. Juni 2017 beschloss die EU daher auch eine Stärkung der PESCO. Damit setzt sie die in der »Globalen Strategie« von 2016 bereits vorgezeichnete Linie, dass Europa mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen soll, konsequent fort.

Noch einen Schritt weiter geht die EU-Kommission, die Anfang Juni 2017 in ihrem unter der Leitung der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, vorgestellten Vierten Reflexionspapier zur Zukunft der europäischen Verteidigung sehr konkrete Vorschläge gemacht hat. Darin wird unter anderem empfohlen, dass sich gewillte Staaten zu institutionalisierten Formen von gemeinsamer Sicherheits- und Verteidigungspolitik zusammenschließen, um die EU in die Lage zu versetzen, auf Bedrohungen in den Bereichen der Cyberkriminalität, des Terrorismus sowie des Grenzschutzes operativ zu reagieren.

Zur Finanzierung von modernen EU-Operationen soll ein gemeinsamer Verteidigungsfonds gebildet werden. Die Sicherheit der EU-Staaten ist auch für die NATO-Mitglieder nicht länger die alleinige Aufgabe der NATO, es entsteht eine »gegenseitig bestärkende geteilte Verantwortung«, so der Vorschlag. Durch die zunehmende Integration und gemeinsame Planung bei der Rüstung entstünden hohe Einsparpotenziale. Auch wenn manche Vorschläge noch wie Zukunftsmusik klingen mögen, so weisen sie doch in die richtige Richtung.

Zweifellos hat sich auch in der Bundeswehr ein immenser Modernisierungsstau aufgebaut, den vor allem das seit zwölf Jahren von der Union geführte Verteidigungsministerium zu verantworten hat. Der Bundeswehr fehlen Schiffe, Hubschrauber, Aufklärer und vieles mehr – sowohl für Friedenseinsätze im Rahmen der Vereinten Nationen als auch zur gemeinsamen Verteidigung in EU und NATO. Eine bessere finanzielle Ausstattung, um diese Defizite zu beheben, ist daher durchaus notwendig und sinnvoll und mit Unterstützung der SPD inzwischen auch eingeleitet worden. Doch es bedarf weiterhin einer modernen Leitidee für eine vorbeugende europäische Friedens- und Sicherheitspolitik.

Im Bundeshaushalt gibt es im Wesentlichen drei Etats für »Internationales«: für Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik. Davon gingen zuletzt gut 70 %, etwa 37 Milliarden Euro, an die Bundeswehr. Bei einem weiteren Anstieg in Richtung »Zwei-Prozent-Ziel« würde der Anteil der Außenpolitik von jetzt 10 auf 6 % sinken, der der Entwicklungshilfe von 16 auf 10 %. Die Gewichte zwischen den Etats würden sich also massiv verschieben. Das Signal wäre verheerend. Der Vorwurf einer schleichenden Militarisierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik würde Realität werden.

Deshalb haben die SPD-geführten Ressorts bei der Verabschiedung des Haushaltsentwurfs 2018 im Kabinett am 28. Juni 2017 auch eine Protokollerklärung verfasst, in der sie festhalten, dass »parallel zum maßvollen Anstieg der Verteidigungsausgaben die internationalen Anstrengungen für Krisenprävention, Humanitäre Hilfe und für Entwicklungszusammenarbeit mindestens in gleichem Umfang gesteigert werden müssen«. Natürlich sind zivile und militärische Beiträge nicht beliebig austauschbar. Deutschland hat heute eine andere internationale Rolle als noch vor zehn Jahren. Weder das Weißbuch noch die im Juni 2017 vom Kabinett verabschiedeten neuen »Leitlinien für Krisenengagement und Friedensförderung« können die Frage nach den mittelfristigen militärischen wie zivilen Fähigkeitszielen abschließend beantworten. Als Dokumente der Bundesregierung können sie dem Haushaltsrecht des Deutschen Bundestages sowieso nicht vorgreifen. Aber gerade jetzt im Wahlkampf besteht die Chance, die Prioritäten unserer wachsenden Verantwortung konkret zu diskutieren. Konkrete Solidarität durch die Entsendung von vier Bataillonen in die baltischen Staaten ist nicht weniger wichtig als Gewalt zu verhindern und Konflikte zu lösen. Zu einer modernen, vorbeugenden, europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik gehören sowohl Bündnisverteidigung als auch Krisenprävention mit sichtbarem deutschem Engagement.

Dazu ist es erforderlich, uns insbesondere dort präventiv zu engagieren, wo wahrscheinlich die nächste große Flüchtlingskrise entsteht: in der Sahel-Region. Das alles wird nur dann Erfolg haben, wenn wir effizienter werden. Konkret heißt dies: ein besser ausgestatteter diplomatischer Dienst, eine Entwicklungshilfe, die ihre mit den nationalen und europäischen Partnern abgestimmten Instrumente besser an die besonderen Herausforderungen von Krisen anpassen kann sowie eine Polizei und Justiz, die in der Lage ist, das fehlende Personal für entsprechende Einsätze im Ausland abzustellen. Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei die Beachtung des Kohärenzgebots, d. h. die erforderliche Übereinstimmung politischer Maßnahmen im Hinblick auf die zu erreichenden Ziele.

Statt eine verkürzte »Zwei-Prozent-Debatte« zu führen, ist ein strategischer Ausbau der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik im Rahmen einer übergeordneten europäischen Friedens- und Sicherheitspolitik insgesamt notwendig. Um Frieden und Gerechtigkeit weltweit Geltung zu verschaffen, brauchen wir belastbare, globale Ordnungsstrukturen. Dazu gehören auch starke und handlungsfähige Vereinte Nationen, insbesondere in Zeiten, in denen die USA durch vorgenommene Mittelkürzungen die Einsatzfähigkeit von VN-Friedensmissionen gefährden.

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