NG/FH: Unser Heftschwerpunkt lautet »Wohin steuert Deutschland?«. Was ist kulturpolitisch dazu zu sagen? Man denkt da mittlerweile weniger an Kunstförderung, stärker an die kulturelle Rechtswende und die kulturellen Spaltungen des Landes.
Helge Lindh: Obwohl Kulturpolitik im engeren Sinne unter dem üblichen Druck der Haushaltslage steht, haben kulturelle Fragen eine besonders hohe Brisanz, Dringlichkeit und Aktualität. Im Grunde müsste Kulturpolitik jetzt ein riesiges Thema sein, doch aufgrund der Arbeitsteiligkeit und der Art wie Politik organisiert ist, wird die Wucht des Themas Kultur – die versöhnenden wie die trennenden Aspekte, die ganze Dynamik, die erhebliche Teile unserer gegenwärtig zugespitzten Debattenlage ausmacht – nicht hinreichend kulturpolitisch erfasst. Sicher spielen detaillierte förderpolitische Fragen eine große Rolle, aber jetzt ruft zudem die große gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, die eben auch ein Kulturkampf ist, geradezu nach mehr Kulturpolitik.
Vielleicht hängen das Große und das Kleine zusammen? Der Deutsche Kulturrat warnte jüngst, die Wahlerfolge der AfD in den Kommunen würden die Situation der Künste und Kulturinstitutionen vor Ort verschlechtern.
»Wir brauchen heute wieder mehr Auseinandersetzung über unsere Vorstellung von Kultur.«
Auch ich rechne damit, dass dieser Kulturkampf, der versucht ein bestimmtes AfD-Verständnis von deutscher Kultur durchzusetzen, sich auch in offenen und verdeckten Angriffen auf Kulturinstitutionen vor Ort, in den Kommunen, in Bezirksvertretungen, in Gemeindeversammlungen, in Stadträten zeigen wird. Durch die Wahlerfolge erhöht sich der Druck. Selbstkritisch gewendet ist das Ganze auch Ergebnis davon, dass eigentlich nur eine Partei, die AfD, in den letzten sechs, sieben Jahren – allerdings in eine zutiefst falsche Richtung – konsequent Kulturpolitik gemacht hat. Sie hat systematisch eine bestimmte, der künstlerischen Freiheit, der notwendigen Vielfalt, auch der Menschenwürde nicht entsprechende Kulturpolitik betrieben. Wir brauchen heute wieder mehr Auseinandersetzung über unsere Vorstellung von Kultur, unsere Definition des Begriffs, was er umfasst, wohin wir wollen, in diesem Sinne geht es auch um mehr Politik.
Passt dazu nicht, wie auf der Jahrestagung der Kulturpolitischen Gesellschaft jüngst diskutiert wurde, es reiche nicht mehr aus, die Freiheit der Kultur zu verteidigen, sondern die Kulturpolitik, die Künste und die Kultur müssten sich selbst wieder stärker politisieren?
Ja, das ist nicht nur ein teilweises Scheitern der künstlerisch Tätigen und Kulturschaffenden. Nicht nur Kunst und Kultur selbst müssen politischer werden, auch die Kulturpolitik muss Selbstkritik üben. Sie braucht mehr Zuspitzung, eine klarere Rahmensetzung, ein deutlicheres Ringen für ihre Themen.
Gleichzeitig ist aber dieser Befund nicht alles. Wir erleben in letzter Zeit im Bereich von Kunst und Kultur auch eine starke Politisierung, wobei sich weder das System Kunst/Kultur noch die Politik als fähig erweisen, damit zurechtzukommen. Denken wir etwa an den russischen Ukrainekrieg, oder noch viel mehr an den 7. Oktober 2023, an Nahost und Palästina. Die Reaktion auf diese starke Politisierung zeigt in der Kunst/Kultur wie auch in der Kulturpolitik Überforderung.
Sind es nicht auch problematische politische Theorien, die jetzt plötzlich 1:1 übernommen werden? Etwa die bedenkenswerte postkoloniale Frage kann man, wie früher einen dogmatisierten Marxismus, ebenfalls vulgär und unterkomplex verhandeln.
Kunst und Kultur sind eben, um dieses banale Bild zu verwenden, nicht nur ein Spiegel der Gesellschaft inklusive Hetze und Quatsch. Theoriemangel, Planlosigkeit, Entpolitisierung der Politik rächen sich. Die Auseinandersetzungen im künstlerischen Bereich werden oft verbitterter und mit noch mehr Polarisierung geführt. Zu mancher Großdebatte, das ist ein interessanter Befund, haben wir im parlamentarischen Raum mehr Konsens als im künstlerischen. Das Fehlen großer Debatten in den letzten Jahrzehnten führte zum Getriebensein durch theoretische Ansätze – ob Postkolonialismus oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit –, und mangels Vorbereitung zeigt sich dann eine große Verunsicherung und Desorientierung.
Früher bezeichneten wir die Künste als wichtigen Seismograf der Gesellschaft...
Ja, wir haben im Bereich Kunst und Kultur immer den großen Anspruch Avantgarde zu sein, auch Finger in Wunden zu legen und all das, Mahner zu sein, buchstäblich auch Orte der Demokratie. Aber diese Orte sind nicht selten deutlich undemokratischer verfasst als jeder im Sinne der Sozialpartnerschaft organisierte Metallbetrieb. Das müsste uns zu denken geben.
Lautet hier nicht der klassische Einwand, Kunst sei nicht demokratisierbar, erinnert sei an den Geniekult?
»Wir müssen am Theater nicht die Machtherrlichkeit des Intendanten anbeten.«
Ja natürlich hat die Kunst eigene, systemtheoretisch ausgedrückt, Codes, eigene Bedingungen, aber das heißt nicht, dass wir am Theater die Machtherrlichkeit des Intendanten anbeten müssen. Das ist eine Gewohnheit, die sich eingeschlichen hat, die einherging mit toxischen Arbeitsstrukturen, teilweise mit Rassismus, mit mangelnder Geschlechtergerechtigkeit und all den Effekten, die unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit laufen gelassen wurden.
Allerdings muss man der Fairness halber sagen, dass andere kollaborative Modelle jenseits der Intendanz im künstlerischen Bereich schon länger geprobt werden, also ist es nicht so, dass man überall im Prädemokratischen stehengeblieben ist. Wir haben starke Kulturinitiativen gegen Ungleichbehandlung, die teilweise sehr früh noch deutlicher als wir selbst im politischen Raum den kulturellen Kampf aufgenommen haben. Und man kann die Erfolge des Rechtsextremismus/Rechtspopulismus in Europa nicht begreifen, wenn man nicht die kulturelle Dimension sieht. Daher verstehe ich deren aktuelles Erstarken auch als Weckruf, die Bedeutung der Dimension Kultur zu begreifen.
Die Gedenkkultur und Erinnerungspolitik in Deutschland galten als vorbildhaft. Und trotzdem hat bei der Europawahl ein Fünftel der jungen Leute AfD gewählt. Muss da nicht vieles neu durchdacht werden, im Film »The Zone of Interest« wurde sich dem Grauen der Judenvernichtung ja ganz anders genähert?
Bildung ist kein Garant gegen menschenfeindliche Ideologien.
Ich gebe da mal eine sehr sozialdemokratische Antwort, die ja immer im Grauzonenbereich liegt. Es wäre wirklich zu schlecht und unterkomplex, jetzt einfach zu sagen, das war alles falsch.
Das war dringend notwendig, auch die Intensität war eine conditio sine qua non, um als Bundesrepublik auch international überhaupt eine Legitimität zu haben. Aber die aufklärerische Wirkung immunisiert nicht, Bildung ist kein Garant dafür, nicht trotzdem wieder menschenfeindlichen Ideologien anheimzufallen.
Fängt man nicht auch wegen der Einwanderung, vor allem der muslimisch geprägten, immer wieder beim Punkt Null an?
Wir haben uns nicht klar gemacht, dass wir eine sehr dynamische Gesellschaft haben, eine Migrationsgesellschaft. Das Bild von Nationalsozialismus, Antisemitismus, Gründung des Staates Israel ist durch die Zuwanderung heterogen. Es sind unterschiedliche Blickwinkel entstanden, von denen wir jetzt sehen, dass sie uns große Probleme bereiten. Es gibt nicht nur die gemeinte Lehre aus dem Nationalsozialismus, diametrale Positionen beanspruchen jeweils für sich, aus den Schrecken des Nationalsozialismus abgeleitet zu sein, inklusive Instrumentalisierungen, Täter-Opfer-Umkehr, Banalisierungen. Das ist natürlich ein Auftrag an diejenigen, die die Basisarbeit der Erinnerungskultur leisten, in den Schulen und im außerschulischen Bereich. Auch angesichts des Verschwindens von Zeitzeugen.
Werden eigentlich die Kulturschaffenden und kulturellen Milieus von der SPD genug beachtet? Jetzt heißt es oft, die SPD müsse sich verstärkt denen zuwenden, die jeden Tag früh aufstehen und hart arbeiten. Damit wird doch kein Kreativer, kein Kulturschaffender angesprochen?
Ja, auch das ist ein Moment der bitteren Erkenntnis: ohne Einzelne anzuklagen, wir sind alle verantwortlich für diese Vernachlässigung. Da gibt es kein Entweder-oder, dass wir die hart arbeitende Bevölkerung ansprechen, darf nicht als der sichere Ausschluss von Künstlerinnen und Künstler rüberkommen. Übrigens arbeiten viele Künstler oder künstlerisch Tätige verdammt hart und verdienen verdammt schlecht. Wir haben es teilweise versäumt dieser Bevölkerungsgruppe Fragen zu stellen und Antworten zu geben.
Als Sozialdemokrat sollte man auch immer seine sozialistischen Grundlagen mitreflektieren und Marx/Engels nicht außen vor lassen: Die Lebensbedingungen vieler Kulturschaffenden sind äußerst prekär, im Kunst- und Kulturbereich ist die soziale Frage eine brennende und wir sehen dort bestimmte Entwicklungen, die künftig am Arbeitsmarkt gesamtgesellschaftlich da sein werden. Doch viele im Bereich Kreativwirtschaft und Kunst sagen, die SPD sei immer noch fokussiert auf die Industriegesellschaft und die Betriebe, sie sehe nicht genug, wie die Instrumente des Sozialstaats auf unsere speziellen Arbeitsverhältnisse zugeschnitten werden könnten.
Darüber wird seit Jahrzehnten gerungen, über die bessere soziale Absicherung für Kulturschaffende, über die prekäre Situation vieler kreativer Soloselbstständiger, über Mindesthonorare freischaffender Künstler usw...
Also die Künstlersozialversicherung/Künstlersozialkasse ist ganz klar ein sozialdemokratisches Kind. Aber erst mit Corona entstand ein klares Bewusstsein, was Soloselbstständigkeit bedeutet. Ich behaupte, dass Sozialdemokraten seit Jahrzehnten diejenigen sind, die die meisten sozialen Fragen im Bereich der Künste gestellt haben. Wir haben uns etwa mit Schauspielern wie Heinrich Schafmeister und anderen für Arbeitsrechte, Arbeitsschutz, anständige Vergütung, Altersabsicherung usw. eingesetzt.
Die soziale Frage und das Bürgerrecht Kultur, Kultur für alle und nicht nur für reiche Eliten, war das nicht seit den 60er Jahren der Kern sozialdemokratischer Kulturidentität?
Ich glaube, es kommt heute viel mehr dazu. Neben Fragen der Absicherung der künstlerisch Schaffenden hat die Frage des Zugangs zu Kultureinrichtungen, aber auch die Möglichkeit künstlerisch tätig zu sein, eine zutiefst soziale Gerechtigkeitsdimension. Das Thema ist Inklusion, die Öffnung von Kunst und Kultur, von künstlerischen Einrichtungen.
Im Kunst- und Kulturbereich ist die soziale Frage brennend.
Weiterhin dürften sozialdemokratische Perspektiven wieder interessanter werden für Leute aus dem Kulturbereich, die ein gestiegenes Bedürfnis haben, erneut große gesellschaftspolitische Debatten zu führen. Legendär, natürlich auch als Mythos und Klischee, war die Begeisterung für Willy Brandt und teilweise noch für Helmut Schmidt durch Künstlerinnen und Künstler. Diese hing bekanntlich damit zusammen, dass man den Eindruck hatte, dort wird Zukunft verhandelt, dort werden die Fragen der Zeit gestellt und unsere Antworten sind interessant. Und wenn ich dann mit Künstlern spreche wie zum Beispiel mit Harald Krassnitzer, dann möchte der mit mir zu Recht nicht nur darüber reden, wie reformieren wir die Filmförderung, sondern er möchte mit mir über seine Ideen und Vorstellungen von Sozialdemokratie und Gesellschaft sprechen. Das sollten wir wieder intensivieren.
Wo steht eigentlich die kulturpolitische Debatte um Künstliche Intelligenz? Öffnet diese neue Kreativitätsfelder oder ist sie eine existenzielle Bedrohung, man weiß ja überhaupt nicht mehr, was noch von Künstlerinnen und Künstlern und was vom Computer stammt?
Es zeigt sich hier ein schillerndes Bild, jede Form von Romantisierung oder Dämonisierung wird der Entwicklung nicht gerecht. Es wird uns nicht gelingen, dass wir uns verweigern, der Prozess ist nicht aufhaltbar. Die reflexive Befassung der Kunst und Kultur mit der KI ist notwendig, man muss über Spielregeln sprechen und über Formen der sinnvollen Regulierung.
»Jede Form von Romantisierung oder Dämonisierung wird der Entwicklung von KI nicht gerecht.«
Zweitens gehen von der KI tatsächlich Gefährdungen aus, denn auch künstlerische Berufe wie die Fotografie kommen unter Druck. Da werden Arbeitsplätze verschwinden. Andererseits sind jetzt schon viele Künstler/innen aktiv dabei, mit KI zu arbeiten und sehen darin ein großes kreatives Potenzial. Es ist Bereicherung und künstlerischer Funke – zugleich existenzgefährdend.
Wo beginnt das Werk? Wo ist die KI, wo ist die künstlerische Leistung des Menschen? Wie können wir auch in Zeiten von KI, die ja von Menschen mit Daten gefüttert wird, noch absichern, dass so etwas wie Urheberschaft anerkannt wird? Hier geht es darum, Transparenz herzustellen, nicht um Verbote. Intellektuelle wie Daniel Kehlmann einerseits, Julian Nida-Rümelin andererseits kommen zu völlig unterschiedlichen Bewertungen. Die Debatte um KI zwingt uns, über uns und übers Menschsein wieder mehr nachzudenken.
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