Solidarität gehört zu den großen Menschheitsideen. Sie ist eine der Grundbedingungen des Zusammenlebens und entsprechend beschäftigen sich Menschen seit Jahrtausenden immer wieder mit ihr. Teils mit dem Begriff »Solidarität« selbst, teils mit verwandten Kategorien wie dem aristotelischen Freundschaftsbegriff, der revolutionären Brüderlichkeit oder der christlichen Barmherzigkeit. Unterschiedliche philosophische Strömungen, verschiedene Religionen und widerstreitende politische Ideen haben sich mit der Solidarität auseinandergesetzt, sie neu gedeutet und oft für sich beansprucht. Was ist aber genau unter Solidarität zu verstehen, für wen gilt sie, wo sind ihre Grenzen und unter welchen Voraussetzungen kommt sie zustande?
Heinz Bude hat in diesem Jahr einen neuen Beitrag zu dieser nach wie vor aktuellen Debatte vorgelegt. Der Kasseler Soziologe, der in den vergangenen Jahren immer wieder mit Gegenwartsdiagnosen höchst präsent war, beschreibt seinen Band selbst bescheiden als »Meditationen über die Zukunft der großen Idee der Solidarität«.
Solidarität ist nach Bude eine der Konstanten menschlicher Existenz. »Überall, wo Gesellschaft ist, gibt es auch Solidarität«, schreibt er apodiktisch. Und das aus gutem Grund. Denn ohne Solidarität ist kaum ein friedliches Miteinander denkbar. Ohne wechselseitige Anteilnahme, grundsätzliche Sympathie füreinander, der Bereitschaft, einander zu verstehen und aufeinander Rücksicht zu nehmen, ist ein »gedeihliches oder auch nur funktionierendes Miteinander der freien und gleichen Einzelnen nicht vorstellbar«, so Bude weiter.
Zugleich ist diese Solidarität bedroht, nicht zuletzt, weil sich die Orte, an denen Solidarität entsteht, im Wandel befinden. Der französische Soziologe Émile Durkheim hat die Entwicklung von mechanischer Solidarität in vormodernen Gesellschaften mit großen Gemeinsamkeiten hin zur organischen Solidarität in modernen Gesellschaften beschrieben, in denen Solidarität im Zuge der Begegnung und des Aufeinanderangewiesenseins in der Arbeitsteilung entsteht. Karl Marx und Friedrich Engels hingegen haben andere Mechanismen in den Blick genommen. Auch sie betonen das Zusammenkommen am Arbeitsort, konkret in der Fabrik, stellen aber die Herrschaftsmechanismen in diesem Kontext in den Vordergrund. Produktion steht immer unter Effizienzdruck, es geht darum, besser und schneller zu produzieren. Auch besser und schneller als die eigenen Kolleginnen und Kollegen. Solidarität kann hier also entstehen, ist aber auch immer bedroht durch Konkurrenz und Wettbewerb.
Gegenwärtig erleben wir eine neue Form der Sozialisation, die nicht mehr betrieblich ist, sondern häufig im Selbst stattfindet, so Budes Analyse. Es geht bei moderner Arbeit – zumindest vordergründig – nicht mehr um Zwang und Kontrolle, sondern um Freiheit und Selbstverwirklichung. Jenseits von Stechuhr und Festanstellung wird Arbeit als Ausdruck von Leidenschaft und Kreativität verstanden, der Einzelne ist nicht mehr Teil eines betrieblichen Kollektivs, sondern wirkt im Team mit. Trotz mitunter objektiv ähnlichen Lebenslagen entsteht so kaum eine Form von Solidarität oder Zugehörigkeit. Die Voraussetzungen für das Entstehen von Solidarität verschlechtern sich also durch den Wandel der Arbeitswelt.
Siegt der Seelenfrieden über die Herzensgüte?
In der Beschreibung einer weiteren Herausforderung für Solidarität zeigt sich eine der Stärken von Budes Buch. Der gelungene Brückenschlag zwischen sozialwissenschaftlichen Großtheorien und alltäglichen Zeitgeist-Phänomenen. Konkret sei auf die Suche nach »Achtsamkeit« verwiesen. Sich dem Stress des Turbokapitalismus zu entziehen und wahlweise auf den prasselnden Regen oder die eigene innere Stimme zu hören, das ist populär. Und es scheint sich darin eine Abkehr von der kapitalistischen Logik, die auf ständige Verwertbarkeit, Leistungssteigerung und Nützlichkeit abzielt, zu verbergen. Zugleich drückt sich darin aber eine extrem ichbezogene Strategie der Lebensführung aus. Es geht nicht um ein solidarisches Miteinander aller, sondern um innere Ruhe des Einzelnen. »Im Zweifelsfall siegt der Seelenfrieden über die Herzensgüte«, so Bude. Die individualistisch-kompetitive Grundidee des Neoliberalismus wird so aufgegriffen, solidarisches Handeln, ein Bezug zu anderen und zur Gesellschaft insgesamt, erschwert.
Zugleich blendet dieser Rückzug ins Ich eine anthropologische Grundkonstante aus: Der Einzelne kann nur in Bezug auf andere einen Begriff von sich selbst gewinnen. Nur im Anderen kann man sich selbst erkennen. Ohne Wechselseitigkeit, ohne Anteilnahme, ohne Solidarität ist das menschliche Leben schwer vorstellbar. Der Einzelne und die Gemeinschaft sind verbunden.
Solidarität war immer umkämpft. Ganz unterschiedliche politische Strömungen haben sie für sich beansprucht oder eingefordert. In diesen Tagen ist der dominante Konflikt derjenige einer exklusiven Solidarität, die nur der eigenen Gruppe gilt – manche sprechen vom eigenen Volk. Zugewanderten gilt die Solidarität – aus der Sicht der Gruppe: natürlich! – nicht, schon gar nicht dem Rest der Welt. Auf der anderen Seite steht eine inklusive Solidaritätsidee, die eben gerade für die Anderen – auch die Zugewanderten – Solidarität einfordert. Die Gräben zwischen diesen Gruppen scheinen sich eher zu vertiefen.
Die politische Linke – deren historische Bezüge zur Solidarität im Buch immer wieder thematisiert werden – scheint heute fast geschichtsvergessen mit der Solidarität umzugehen. Die politische Rechte allerdings versucht, sie umso stärker für sich zu beanspruchen, freilich im Sinne einer sehr exklusiven, abgrenzenden Idee von Solidarität.
Bude gibt keine ganz konkreten Handlungsempfehlungen für politische Akteure. Das ist nicht der Anspruch seiner »Meditation«. Zugleich finden sich beim gründlichen Lesen jede Menge Anknüpfungspunkte für diejenigen, die sich auch handlungspraktisch mit Solidarität auseinandersetzen möchten. So verweist er etwa darauf, dass ein solidarisches Wir-Gefühl vor allem als Projektion auf die Zukunft hin entsteht. Nur wenn es die Aussicht auf ein neues, künftiges »Wir« gibt, wächst der gesellschaftliche Zusammenhalt, nicht über die Beschäftigung mit der Vergangenheit. Um Solidarität zu befördern, braucht es also den Mut zu einer großen, integrierenden Vision.
Das aktuelle Buch von Heinz Bude ist durchweg gut lesbar, das breite Theoriegerüst, auf das immer wieder Bezug genommen wird, eröffnet kaleidoskopartig ständig neue Perspektiven auf diesen alten Begriff. Mitunter erscheinen die assoziativen Sprünge – zum Beispiel vom Beginn des Lebens an Land hin zu Amazon und Google im Verlauf einer Seite – als ziemlich sportlich. Aber genau um dieses Reihen von Gedanken geht es ja in einer Meditation. Klar ist: Die Idee der Solidarität ist nicht totzukriegen. Und die politische Linke tut gut daran, sie wieder mutig anzupacken.
Heinz Bude: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. Hanser, München 2019, 176 S., 19 €.
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