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»Späte Gedichte« von Pier Paolo Pasolini – Bekenntnisse eines Ketzers Mein Realismus ist ein Liebesakt

Er war im politisch aufgewühlten Westeuropa des späten 20. Jahrhunderts die große Lichtgestalt der ästhetischen und politischen Dissidenz. Der Filmemacher, Lyriker, Sprachtheoretiker, Romancier und Polemiker Pier Paolo Pasolini genoss den Nimbus des anarchistischen Freidenkers, der gegen alle Institutionen der Macht erfolgreich aufbegehrte. Die schwarzen Quartbände seiner bei Wagenbach publizierten Freibeuterschriften zierten in den späten 70er und frühen 80er Jahren die Bücherregale der linken Wohngemeinschaften. Während sein französischer Antipode Jean-Paul Sartre als Prototyp des »öffentlichen Intellektuellen« wegen seines temporären Liebäugelns mit dem Stalinismus in die Kritik geriet, wurde Pasolini als wilder Ketzer und Häretiker verehrt.

Er faszinierte mit seinen Liebeserklärungen an das Subproletariat der Vorstädte ebenso wie mit seinen kulturkritischen Polemiken und vor allem mit seinen radikalen Filmen, die alles aus den Angeln hoben: die Kunst, die Moral, die Ideologien, die Theologie, die sexuellen Tabus, den eigenen Körper. Im Roman Una vita violenta (ein gewaltvolles Leben) erkundete er die Lebenswelt des von keiner Gewerkschaft domestizierten Subproletariats, er durchquerte in Filmen wie Edipo Re und Medea archaische und mythische Welten und vergegenwärtigte in der Verfilmung Marquis de Sades Skandalroman Salo – Die 120 Tage von Sodom Szenerien voller Schrecken und Schmerz.

Pasolini hat seine ästhetischen und sexuellen Obsessionen in all seinen Kunstwerken kompromisslos ausagiert. Sein Werk war eine brisante Fusion aus Leidenschaft und Libido, politischem Scharfsinn und poetischem Furor, Intellektualität und Sentimentalität. Neben grellen politischen Pamphleten und in ihrer Drastik schwer erträglichen Filmen treten in seinem Werk ganz zarte, fromme Gedichte und Lieder.

Intellektueller Eigensinn

Gegen alle ideologischen Vereinnahmungsversuche setzte er sich mit seinem intellektuellen Eigensinn zur Wehr, einer Strategie des existenziellen Widerstands. Der Autor der Freibeuterschriften exponierte sich als marxistischer Katholik, der es weder den Marxisten noch den Katholiken recht machen konnte. Sein libertäres Denken speiste sich indes von Beginn an aus konservativen Denkfiguren. Pasolinis Vornamen etwa sind äußerst katholisch: Pier Paolo ist benannt nach den Apostelfürsten Petrus und Paulus.

Als Sohn eines Berufsoffiziers und einer Mutter aus dem alten kulturellen Grenzgebiet Friaul wird er 1922 in Bologna geboren. Er beginnt als Dialektdichter mit Gedichten auf die Liebe, im friulanischen Dialekt, dem er zeitlebens anhing und dessen allmähliches Verschwinden ihn ebenso schmerzte wie das Verschwinden der alten bäuerlichen Welt.

Es gehörte in den 30er Jahren zu den kulturpolitischen Zielen der Faschisten, die Dialekte zugunsten eines einheitlichen Italienisch zurückzudrängen. Pasolinis Entscheidung für das Friulanische als Dichtersprache war ein subversiver Akt – auch gegen den eigenen Vater, einen bekennenden Faschisten. Pasolinis Bruder Guido kam bei Kämpfen rivalisierender Partisanengruppen ums Leben; er wurde von kommunistischen Fanatikern erschossen.

Pasolini selbst war im Oktober 1945 der Unabhängigkeitsbewegung Friauls beigetreten, bald aber hatte er sich der Kommunistischen Partei Italiens genähert, in die er 1947 eintrat. 1949 war er Ortssekretär des PCI im Städtchen Casarsa im Friaul und arbeitete als Volksschullehrer. Im Oktober 1949 wurde er aus der Partei ausgeschlossen, wegen »moralischer Unwürdigkeit«. Gemeint war seine Homosexualität. Man hatte ihn denunziert wegen angeblicher Annäherungen an Schutzbefohlene, die Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos, aber Pasolini verlor über Nacht seine Anstellung als Lehrer, seine Parteimitgliedschaft und sein soziales Umfeld. Er zog daraufhin mit seiner über alles geliebten Mutter ins Armenviertel nach Rom.

Die Flucht aus dem ländlichen Friaul in die Metropole beschreibt er im Rückblick als Befreiungsakt. Nach dem Aufbruch entstehen in Rom in rascher Folge neue bahnbrechende Filme und Gedichte, die in ihrer Kühnheit und ihrem Bekenntnisehrgeiz alle Konventionen sprengen.

»Mein Realismus ist ein Liebesakt«, hat Pasolini einmal gesagt – und dieses Bekenntnis lässt sich nur verstehen, wenn man die sehr unterschiedlichen Konnotationen des Wortes »Liebesakt« anschaut. Es gibt bei Pasolini den zärtlichen Liebesakt, es gibt auch die mörderische sexuelle Gewalt, die unsägliche Rohheit. Es gibt die Liebe des Jesus Christus im Film Das 1. Evangelium – Matthäus. Es gibt das übermächtig werdende sexuelle Begehren in Teorema. Und es gibt die sexuellen Scheußlichkeiten in Salo – Die 120 Tage von Sodom.

In seinem Roman Salvatore (2009) porträtierte ihn Arnold Stadler als katholischen Außenseiter mit einem großen Barmherzigkeitsgefühl: »Pasolini war eine Randfigur der Welt, die er liebte. Er war und blieb (...) ein linker, wie man sagt, marxistischer Intellektueller ›all'italiana‹, ein abwegiger Katholik, der, wenn er seine Tage hatte, sich auch als Atheist bezeichnete, ein Dichter, Filmemacher, ein Freund, Liebhaber und Geliebter, angefangen mit seiner Mutter, die ihn um Jahre überlebte und nun neben ihm auf dem Friedhof in Casarsa liegt. (...) Er war und blieb eine unmögliche Synthese (...) ein Einzelgänger mit einem Dazugehörigkeitsverlangen. Das erklärt mir etwa seine Liebe zum Fußball, eigentlich zur männlichen Welt. Der Fußball war für Pasolini die mystisch erlebte Gemeinschaft, eine heilige Messe der Männer, das Ballsakrament.«

Die Verfilmung des Matthäus-Evangeliums war Pasolini eine Herzensangelegenheit: »Ich möchte das Matthäus-Evangelium getreu in Bilder übersetzen, ohne etwas dazuzufügen oder wegzulassen (...) Es ist der poetische Rang des Textes, der mich inspiriert. Ich möchte etwas Dichterisches schaffen. Ich liebe diesen Jesus aus ganzem Herzen.«

Am 2. November 1975 wurde Pasolini bei Ostia ermordet aufgefunden. Die Erste, die am frühen Morgen auf seine grauenhaft entstellte Leiche stieß, war eine Hausfrau namens Maria Theresa Lollobrigida, die den Leichnam zunächst für Müll gehalten hatte. Die Umstände von Pasolinis Ermordung sind bis heute nicht geklärt. Der Strichjunge Dino Pelosi wurde zunächst als Alleintäter schuldig gesprochen. 30 Jahre nach der Tat widerrief er sein Geständnis und erklärte, Unbekannte hätten Pasolini getötet.

Pasolinis Nachruhm beginnt nun allmählich zu verblassen. Katholizismus und Marxismus, die Institutionen, die er erbittert bekämpfte, haben als hegemoniale Mächte abgewirtschaftet. Auch sind die Defizite bei der Überlieferung seines Werks kaum zu übersehen. Die 1978 erstmals auf Deutsch publizierten Freibeuterschriften, die seinen Ruhm hierzulande begründeten und mit der Kritik an der »Zerstörung der Kultur des einzelnen durch die Konsumgesellschaft« eine ganze Denktradition begründeten, wurden nur zu einem Teil für das deutsche Publikum übersetzt.

Auch seine Gedichte, die erstmals in den 80er Jahren in Ausgaben des Piper Verlags und bei Wagenbach präsentiert wurden, blicken auf eine komplizierte Rezeptionsgeschichte zurück. 1980 erschien Pasolinis berühmtester Gedichtband Gramscis Asche in der Übersetzung von Sabine und Toni Kienlechner, zwei Jahre später der schöne Auswahlband Unter freiem Himmel bei Wagenbach, ebenfalls von den beiden Übersetzern ins Deutsche gebracht. Danach gab es nur noch zaghafte Versuche, aus dem riesigen poetischen Œuvre Pasolinis etwas ins Deutsche zu übertragen.

Einen großen Markstein setzt nun die zweisprachige Ausgabe mit »späten Gedichten«, die die Essayistin und Übersetzerin Theresia Prammer nach akribischen philologischen Vorarbeiten unter dem etwas verwirrenden Titel Nach meinem Tod zu veröffentlichen vorgelegt hat. Bereits 2009 hatte Prammer in der Zeitschrift Schreibheft ein umfangreiches Dossier mit Erstübersetzungen von Pasolini-Gedichten publiziert. Die damalige Dossier-Überschrift Eine Wissenschaft vom Licht wäre auch ein glücklicher Titel für die aktuelle Ausgabe gewesen. Denn was die Texte dieser sorgsam kommentierten Gedichtsammlung verbindet, ist ihr immenser aufklärerischer Bekenntnisehrgeiz, der überbordende Confessio-Modus, mit dem Pasolini sich unablässig zu verorten versucht in seinem Weltanschauungskampf, zu dem er die Kommunistische Partei und den katholischen Klerus herausfordert.

Die poetische Verwandlung zum »Verseschmied«

Entgegen dem Eindruck, den die Ankündigung der Späten Gedichte vermittelt, ist hier fast die Hälfte des lyrischen Werks von Pasolini erfasst. Es sind im Wesentlichen die drei Gedichtbände La religione del mio tempo (»Die Religion meiner Zeit«) von 1961, Poesie in forma di rosa (»Dichtung in Form einer Rose«) von 1964 und das wuchtige Spätwerk Trasumanar e organizzar von 1971, die hier in Auszügen übersetzt und mit einem profunden Kommentar versehen worden sind. Hier lässt sich die poetische Verwandlung eines Autors nachvollziehen, der, wie er selbst sagte, nach 1968 begonnen hat, »wieder als Verseschmied im geläufigen Sinne des Wortes zu arbeiten«.

Von dem hohen Ton und der klassischen Musikalität seiner früheren Verse, die noch den Band Gramscis Asche bestimmten, hat sich Pasolini hier abgewandt zugunsten einer freien, offenen Form, die viel dem Narrativen verdankt, der erzählerischen Geste, der politischen Tagebuchnotiz, dem emotionalen Kommentar. Viele Gedichte sind mehr oder weniger stilisierte Tagebuch-Notate, manifestartige Verse, auch politische Gelegenheitsgedichte.

Hinzu kommen ganze Gedicht-Zyklen, die den Entstehungsprozess von Pasolinis Filmen begleiten. In Die Religion meiner Zeit erinnert sich Pasolini seiner innigen Hingabe an das Katholische und bilanziert lakonisch seine Enttäuschung: »Keine der wahren/Passionen des Menschen vibrierte/in den Worten und Taten der Kirche.« Der bäuerlichen Dorfgemeinschaft im Friaul, in der er frühe Geborgenheit erlebte, gilt weiterhin seine ganze Zuneigung, dort glaubt er »die Stunden/der schönsten Menschenzeit« erlebt zu haben.

Dialekt als poetische Subversion

Um zu ermessen, auf welcher kindhaften Frömmigkeit die Erfahrung dieser »schönsten Menschenzeit« fundiert ist, muss man parallel zu den Späten Gedichten auch seine frühen, im friulanischen Dialekt verfassten Poeme studieren, die der Berliner Dichter Christian Filips 2009 unter dem Titel Dunckler Enthusiasmo übersetzt hat. Als 20-Jähriger hatte Pasolini den Dialekt revitalisiert, den seine Mutter sprach. Dialekt war für Pasolini 1942 die Sprache der Regionalität und der Individualität. Während der faschistischen Bemühungen, die regionalen Dialekte zurückzudrängen, versuchte Pasolini mit einigen Freunden eine Akademie für die friulanische Sprache zu gründen, um dort unter anderem Dialektforschung zu betreiben.

Das Dialektale bedeutete für ihn also auch eine poetische Subversion. Diese ganz frühen Dialektpoeme in Dunckler Enthusiasmo sind ein anrührendes hochmusikalisches Gegenstück zur Bekenntnis-Poesie der Späten Gedichte. Die hier gedruckten Litaneien des schönen Knaben sind mitsamt ihrer homoerotischen Konnotationen zarte, fromme Lieder, in denen über die letzten Dinge gesprochen und gesungen wird: »Bin ein schöner Knabe,/weine alle Tage,/bitt dich, Jesulein/lass nicht sterben mein.//Jesus, Jesus, Jesus.//Bin ein schöner Knabe,/lache alle Tage,/bitt dich Jesulein,/ach, lass sterben mein.//Jesus, Jesus, Jesus.«

Das lyrische Subjekt der Späten Gedichte kann sich der Einsicht nicht verschließen, dass diese naiv-religiöse Kindheitswelt verloren ist. Aber bei aller Wut auf den machtgeschützten Konformismus der Institution Kirche fügt Pasolini in einem Nachtrag zum Gedichtzyklus Die Religion meiner Zeit hinzu: »es gibt im Chaos ein Licht der Religion,/ein Licht des Guten, das mich erlöst/von zu viel verzweifelter Liebe«.

Das unruhige Nomadisieren des verzweifelt Liebenden, der mit seinem Dazugehörigkeitsverlangen abgewiesen wird von den Instanzen der Macht – das ist die poetische Figuration, die in sehr vielen Gedichten dieser Textsammlung artikuliert wird. In den Mondänen Gedichten, die 1962 die Genese des Films Mamma Roma reflektieren, findet dieses Weltgefühl seinen prägnantesten Ausdruck: »Den ganzen Tag über arbeite ich wie ein Mönch/und streife abends umher wie eine räudige Katze/auf der Suche nach Liebe (…) Ich werde der Kurie/vorschlagen, mich heiligzusprechen.«

Zu einer Heiligsprechung des Ketzers ist es natürlich nie gekommen. Dafür ist das »extremistische Geschrei« des Pier Paolo Pasolini auch heute noch viel zu verstörend, zu weit abseits jeder gesellschaftlich zumutbaren Moral. Und genau deshalb ein Geschrei für die Ewigkeit.

Pier Paolo Pasolini: Dunckler Enthusiasmo. Friulanische Gedichte. (Übersetzt von Christian Filips). Sammlung Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein 2009, 322 S., 28 € (vergriffen). – Pier Paolo Pasolini: Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Späte Gedichte (Italienisch-deutsch; hrsg., übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Theresia Prammer). Suhrkamp, Berlin 2021, 640 S., 42 €.

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