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Das Wahlergebnis vom 24. September verändert die Republik Merkels langer Abschied

Ungefähr so war dieses Wahlergebnis vorhergesagt: Führungsauftrag für Angela Merkel, großer Abstand zur SPD, Rechtspopulisten stark im Parlament. Wie sehr das die Republik verändert, wurde aber erst nach dem 24. September klar. Worauf ist noch Verlass, wofür steht Deutschland in Zukunft, nach innen und nach außen? Das ist eine offene Frage geworden. Die Auseinandersetzung darüber geht jetzt erst richtig los, im Wahlkampf wurde wieder einmal nichts geklärt. Und immer deutlicher wird: Es ist Merkels letzte Runde. Die Integrationskraft der Kanzlerin schwindet rapide.

Am Ende war es – entgegen dem anfänglichen Wahlkampfeindruck – keine Persönlichkeitswahl mehr. Medien und Demoskopen treiben Wahlkämpfe gerne dorthin, aber diesmal war der Abstand Merkel/Schulz zu groß. Im Wahlvolk hatte es frühzeitig einen Abwägungsprozess gegeben. Das Jahr begann, als Martin Schulz als Kandidat neu aufgetaucht war, mit echter Neugierde auf ihn. Plötzlich war Augenhöhe zwischen Union und SPD. Veränderung war denkbar geworden, die Leute überlegten neu. Aber das Momentum verging, belastbare Sympathie zum Neuen ist nicht gewachsen. Als die Führungsentscheidung mit näher rückendem Wahldatum klar war, rutschten beide Volksparteien abwärts wie auf einer schiefen Ebene.

Wenn man den Wahlkampf rückwirkend betrachtet, ist dieser Effekt zentral. Wenn am Ende die Führungsalternative nicht mehr offen und spannend ist, wird zunehmend taktisch gewählt. Dann geht es noch mehr um Sekundäres, um Denkzettel oder Koalitionspräferenzen. Das Parteiensystem splittert sich darüber weiter auf, stabile Mehrheiten werden fraglicher. So gesehen ist es nun durchaus eine etwas andere Republik geworden. Eine voller Unsicherheiten, wenn es um die langen Linien geht.

Das hat mit der Attraktivität der Rechtspopulisten in Teilen der Gesellschaft zu tun und genauso mit dem Einbruch der Parteien der Großen Koalition bei Teilen ihrer Stammwähler – was nicht exakt das Gleiche ist. Aber nachdem die Demoskopen die Wahl schon seit Wochen für gelaufen erklärt hatten und die Fernsehsender die Rechten in den Talkshows immer wieder auf Augenhöhe mitmachen ließen, hat beides sogar eine gewisse Logik. Die Mitte der Gesellschaft, vielbeschworen und doch wie abgetaucht, hat diese Wahl nicht geprägt. Jetzt ist sie umso mehr gefordert.

Wie das Volk wirklich tickt bei alledem? Es akzeptierte, dass Merkel noch einmal bleiben soll. Es sorgte dafür, dass die Opposition in Zukunft nicht nur von links, sondern auch von weit rechts kommt. In diesen beiden zentralen Punkten hat sich in all den Wahlkampfmonaten schier gar nichts bewegt. Viel mehr lässt sich perspektivisch aus dem Ergebnis nicht herauslesen. Was bedeutet: Es hat eher eine Übergangszeit begonnen, wohin ist offen. Offen bis hin zur Führungsfrage, personell wie programmatisch.

Insbesondere wäre es falsch, eine dauerhafte Chancenlosigkeit der SPD aus dem Wahlergebnis herauszulesen. Siehe Schulz noch im frühen Frühjahr 2017, siehe auch Emmanuel Macron oder sogar Jeremy Corbyn: Mit Klarheit, Haltung und charismatischer Ausstrahlung in einer Welt, die immer ausschließlicher audiovisuell wahrnimmt, lässt sich manches bewegen. Mit funktionärshafter Parteiroutine wenig. Es sind insbesondere Angela Merkel und Horst Seehofer, die das in diesen Wochen erleben. Und so, wie die CSU nach den Wahlen auftrat, war es geradezu die Bestätigung dafür, dass ein taktischer Rechtspopulismus am Ende nur dem ernst gemeinten Rechtspopulismus nutzt.

Dass die FDP als Funktionspartei wieder da ist, kommt nicht überraschend. Die Funktion diesmal: Frische im bürgerlichen Lager ausdrücken, wo auf Unionsseite nur mehr Machtverwaltung ist. Man kann davon ausgehen, dass es mit dieser Funktion schnell wieder vorbei ist, sobald die FDP in der Regierung sitzt. DIE GRÜNEN wiederum als Milieupartei des neuen Bildungsbürgertums stoßen weiter an ihre eigenen engen Kulturgrenzen. Sie sind nicht mehr spannend und seit dem Schwinden der rechnerischen rot-grünen Option ist die alte strategische Klarheit weg. Das verunsichert viel mehr, als sie es sich eingestehen. Beide möglichen kleinen Koalitionspartner Merkels sind damit Wackelkandidaten. In der bizarren Kombination mit der altbackenen CSU ist da weit und breit keine echte gemeinsame Perspektive erkennbar. Sondern, falls es überhaupt funktioniert, immer wieder viel Gewürge und Gequäle, das stets auch die Kanzlerin weiter beschädigen wird.

Glasklar ist nun aber, dass der Diskurs im Land sich noch einmal ändern wird. Mit Rechtspopulisten im Parlament wird die Medienpräsenz dieser Rechten weiter zunehmen und all ihre vorgestrigen Inhalte werden immer weiter enttabuisiert. Die Antwort der SPD, selbst die Oppositionsführung zu übernehmen, ist da folgerichtig. Aber die Gefahr liegt darin, dass die Rechten beim Abgrasen von Identitätsthemen (Heimat, Sicherheit, Systembashing) letztlich allen anderen ihre Version dieser Themen aufzwingen werden. So, wie speziell die CSU auf das Wahlergebnis reagiert, ist dort wieder nur Anpassung nach rechts angesagt. Während eine tatsächliche Aufarbeitung doch bedeuten würde, dass demokratische Parteien mit Führungsanspruch andere, eigene Antworten liefern müssten.

Bislang war im Parlament einer, alles in allem sozialdemokratisch agierenden Bundesregierung ausschließlich die Opposition von links gegenüber getreten. Das hatte in der Tat die realen Gefühlswelten im Land nicht mehr abgebildet. Nun wird sich neben der Tonlage auch die Themensetzung ändern. Und das bedeutet zumindest mal: Auf die Debatten kommt es wieder an. Darauf, ob und wie das erreichte Maß an Liberalität und Weltoffenheit verkörpert und verteidigt wird. Oder ob die Unionsparteien ihren antrainierten Reflex des Zurückweichens bei Angriffen von rechts wieder ausleben, was Merkel vielleicht gar nicht mehr verhindern kann. Gerade weil sie im Wahlkampf nichts inhaltlich geklärt hat.

Schon deshalb wird die Kanzlerin in ihrer letzten Runde ziemlich einsam sein. International sowieso, aber nun auch zuhause. Hinter den Kulissen ist die Nachfolgedebatte bald nicht mehr zu stoppen und weil sich da in der Union niemand als Konsenslösung anbietet, wird ab sofort jedes inhaltliche Thema auch auf die Personalarithmetik hin ausgeleuchtet werden. So vermachtet, wie die mediale Öffentlichkeit inzwischen Politik darstellt und erklärt, kann ein solches Metathema für jede inhaltliche Ambition nur abtötend sein. Was bedeutet: Die Kanzlerin wird im eigenen Lager immer weniger Impulse setzen können. Sie wird schwächer sein, als es unmittelbar nach der Wahl noch erscheint. Sie ist klug genug, das zu wissen.

Zu ihrem langen Abschied gehört zunächst, dass sie gemeinsam mit Emmanuel Macron einen Weg finden muss, die Europawahl 2019 nicht zum europaweiten Plebiszit gegen Brüssel und für den Neo-Nationalismus werden zu lassen. Das geht nur über neue EU-Perspektiven, für die aber bei den EU-Regierungen keine Mehrheit oder gar Einstimmigkeit in Sicht ist. Jean-Claude Junckers Aufruf, auf dem alten Erfolgsweg der Integration die nächsten Schritte zu gehen, wirkt wie aus der Zeit gefallen. Macrons Impuls für einen Etat der Eurozone und eine europäische Eingreiftruppe trifft auf die Ängste des rechten Unionsflügels vor jeglicher weiterer Integration. Das ist eine dieser neuen Debatten im neuen Umfeld, die jetzt extrem wichtig werden.

Eine machtpolitisch geschwächte Kanzlerin kann sich überhaupt nur dann den notwendigen Spielraum für solche Debatten verschaffen, wenn sie wenigstens jetzt klare inhaltliche Linien vertritt. Das ist nicht ihre Art, nicht ihre Stärke. Zwischen bayerischer Rechts-Rhetorik und Berlin-Kreuzberger Linksgrünen liegt andererseits aber auch fast das gesamte politische Spektrum der Republik. Die Gefahr ist, dass – wenn überhaupt – nur superpragmatische Minimallösungen diese Kluft überbrücken können. Weitere Perspektiven – Fehlanzeige.

Auch deshalb wäre es, falls die Regierungsbildung jetzt überhaupt gelingt, durchaus logisch, dass Merkel immer die Option im Kopf hat, den Generationswechsel im Kanzleramt noch vor der Wahl 2021 zu vollziehen. Spätestens Anfang 2020, wenn Angela Merkel ihr persönliches gesetzliches Rentenalter erreicht hat, anderthalb Jahre vor der regulären nächsten Wahl. Und einen Generationswechsel braucht es bald ja auch in Brüssel, verbunden möglichst mit inhaltlichen Impulsen. Jedoch ist weit und breit nicht zu erkennen, wie das bewerkstelligt werden könnte.

Dann aber werden es quälende Jahre. Jahre auch, in denen die Versuchung groß ist, das Brodeln der Vorwahlzeit wieder zu überhören, den rationalen Kern der Akzeptanzkrise der Politik weiträumig zu umschiffen. Die materiellen Spaltungen im Wohlstands-Europa, die Reichtums- und Verarmungstrends zwischen den Staaten und noch mehr innerhalb der einzelnen Gesellschaften, der Umgang mit alltäglicher Ungleichheit und kulturellen Fremdheitsgefühlen, die daraus sich immer weiter verstärkenden Legitimationsprobleme der repräsentativen Demokratie: So paradox es klingt, sind zu solchen Kernthemen eher aus einer starken linken Opposition Anstöße zu erhoffen als von einer Jamaika-Regierung, die voller innerer Widersprüche ist.

Es war schon im Wahlkampf typisch, wie konkrete materielle Alltagsthemen wie Mietsteigerungen oder Pflegenotstand eher über Publikumsdebatten in die Öffentlichkeit kamen, als über journalistische Impulse. Die gesamte Öffentlichkeit tut sich schwer damit, die neuen kulturellen Spaltungslinien in der offenen Gesellschaft demokratisch anzusprechen und mit klarer Haltung darauf zu reagieren. Die Einkommensverteilung als Oberthema, die Neudefinition der Rolle des Staates auch als Bollwerk gegen immer mehr Ungleichheit und nationalistisch verbrämten Hass: Wer dies ernsthaft anpackt, müsste grundlegender ansetzen als bisher. Und bräuchte dazu einen öffentlichen Diskurs, der die Oberflächlichkeit der bisherigen Gerechtigkeitsdebatten hinter sich lässt. Auch davon ist das Land noch weit entfernt.

Am Ende hat Merkels asymmetrische Demobilisierung diesmal ziemlich symmetrisch gewirkt. Der Lustlosigkeit potenzieller SPD-Anhänger angesichts der demoskopisch errechneten Aussichtslosigkeit von Martin Schulz entsprach die Gleichgültigkeit Konservativer gegenüber der Sowieso-wieder-Kanzlerin, der man dann doch lieber Zunder von rechts gibt, damit sie der SPD nicht noch ähnlicher werde. Im Ergebnis ist solides Regieren so kompliziert geworden wie noch nie. Nicht nur, aber auch deshalb, weil nach der allgemeinen Auflösung größerer Konfliktdiskurse inzwischen in den 16 Ländern eine Farbenvielfalt regiert, die klare Mehrheiten im Bundesrat komplett ausschließt. Außer: Mehrheiten gegen alles.

Daraus folgt im Parlament der Hang zu kleinen und entsprechend uninspirierten Sachkompromissen, wenn überhaupt noch im Bundestag und Bundesrat die nötigen Mehrheiten zusammenkommen. Selbst das wird jetzt selten genug gelingen, das Regierungshandeln nach innen wird seinen Schwerpunkt weniger bei der Gesetzgebung als beim Verwaltungshandeln und Geldverteilen haben. Beim Austarieren und bei der Status-quo-Sicherung: Wer das garantiert, hat am wenigsten Ärger. Die Erwartungen bei den Vielen im Land, die tatsächlich ganz gut leben und verdienen in solchen Verhältnissen, sind entsprechend: nur nichts verschlechtern und möglichst mehr Geld bereitstellen für das je eigene Anliegen. So ist Merkelland geworden, nach zwölf Jahren.

Damit stehen nun aber nach diesem allseits erfolglosen Wahlkampf die demokratischen Parteien alle vor demselben Problem: Neue Zustimmung, stabile Mehrheiten gar für Reformpolitik, bräuchten Aufbruchshoffnung, die es nirgends gibt. Worum es jetzt geht ist deshalb, dafür wieder die Voraussetzung zu schaffen. Ein Bundestag mit Rechtspopulisten: Wenn das zu etwas Gutem taugt, dann zur Konzentration auf die großen Auseinandersetzungen, auf die Selbstvergewisserung der offenen Demokratie und ihrer Werte. Mit Merkel, trotz Merkel, irgendwann ohne Merkel.

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