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Migration als Motor der Stadtentwicklung

Die gebaute Struktur hat erheblichen Einfluss auf das gesellschaftliche Miteinander: der Zusammenhang von Stadtentwicklung und Migration ist ein Bestandteil dieser Prämisse. Prinzipiell wird dieser Bewertung von Gebautem und Gesellschaft kaum widersprochen werden, obgleich Migration in der Betrachtung kollektiver Qualitäten im urbanen Umfeld vielleicht nicht an erster Stelle steht – was sehr zu bedauern ist! Denn Zuwanderung zu begünstigen, ist eine wertvolle Eigenschaft städtischer Lebenswelt. Mehr noch: Migration schafft Prosperität, kulturellen Reichtum, ist Bestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts, kurzum, sie ist Teil der Intelligenz des Kollektiven, seitdem es Städte gibt.

Doug Saunders legte 2010 mit seinem – mittlerweile zu einem Standardwerk avancierten – Band Arrival City eine globale Untersuchung darüber vor, wo und wie Migration gelingt oder misslingt. Das Buch beinhaltet eine profunde Analyse städtischer Lebensräume, die zeigt, wie wichtig die Förderung selbstständigen Handelns als Qualität eines Ortes für einen neuen Anfang ist. Selbstständiges Handeln bedeutet, auch ohne staatliches Zutun zu einer eigenverantwortlichen Tätigkeit zu kommen. Die Wechselbeziehung zwischen einer vorgefundenen gebauten Struktur und ihren Potenzialen als Motor für Integration durch Teilhabe, wird als geradezu existenziell herausgestellt. Ohne an diesem Punkt schon genau zu wissen, woraus diese strukturellen Potenziale hervorgingen, fällt es offenbar leichter, sich vorzustellen, welche Orte diese Möglichkeiten wahrscheinlich ausschließen. Diese verblüffende Erkenntnis ist gewissermaßen die kritische Retrospektion unserer eigenen Sicht auf unsere (gebaute) Umwelt. Eine andere, hier vorweggenommene, Erkenntnis: Was stadtstrukturell die Sesshaftigkeit von Migrantinnen und Migranten befördert, ist vom Aufbau her vorteilhaft für alle. Nicht allein der Integration willen oder dem ihr innewohnenden Gemeinwohl. Hier liegt ein Kernargument zur Mobilisierung eines dringend nötigen Umbaus unserer vorhandenen suburbanen Räume – der sogenannten »Zwischenstadt«.

Es ist die kleinteilige, parzellierte, nutzungsgemischte, auch produzierende (!), sozial gemischte Stadt, die als »Ankommensstadt« genauso vorteilhaft ist, wie sie sich zur Alltagsverrichtung der vorhandenen Bewohnerschaft bewährt. Hier gelingen Identifikation und Integration. Entscheidend dafür ist gewiss der Maßstab des städtischen Gewebes und die Proportion zwischen öffentlichem und privatem Raum. Über den öffentlichen Raum als Aufenthaltsraum des Gemeinwesens wird gleichsam alles in Beziehung gesetzt. Er dient der geschützten, weil anonymen Begegnung im Großen. Ihm gegenüber bildet der private Raum das Reservoir für Tätigkeit und alle zukünftige Veränderung. Er steht für das Autonome, das Intime, tendenziell Regelfreie im Kleinen bis hin zum Informellen. Um diese oft gegenläufigen Qualitäten zu sichern, müssen beide Sphären voneinander getrennt sein. So ließe sich der systematische Aufbau einer klassischen Stadt beschreiben. Sie ist zudem resilient, also widerstandsfähig, weil sie umbaufähig ist. Ihre Dichte fördert – der Wertschätzung nach – Solidarität und die Stadt der kurzen Wege, damit Kommunikationsdichte und schlussendlich energetische Effizienz. Es ist ein hohes Glück, dass gerade diese menschengebaute – also künstliche – Form, in der gesellschaftliches Miteinander und Nachhaltigkeit verknüpft sind, als gegenwärtiges Ideal eine breite Anerkennung findet.

Das war nicht immer so. Von Deutschlands Städten wurde ebenso viel an Bausubstanz bis Ende der 70er Jahre abgerissen, wie im Krieg davor zerstört wurde. Es wachsen fortwährend ganz andere Architektur- und Lebensmodelle flächendeckend heran – geprägt durch hohe Verkehrslast, weitaus weniger solidarische Motive und eher segregierende Gesellschaftsmuster. Aus der Perspektive der jüngeren Architekturgeschichte könnte man so weit gehen, zu beklagen, dass mit dem Fokus auf das Wohnen die Stadtentwicklung bis heute in eine Sackgasse mündet. So gesehen leben wir seit Jahrzenten von der Substanz. Das Neue ist selten Stadt, sondern hat zumeist – bezogen auf den hier postulierten Idealzustand – eine verzehrende Dynamik in vielerlei Hinsicht. Obwohl substanziell mit jedem neuen Gebäude aus seiner Betriebsamkeit ein Gewinn für das Ganze entstehen müsste.

Nicht nur Einfamilienhäuser, die Stadtentwicklung insgesamt hat eine Ausdehnung von suburbanen Räumen geschaffen, über die aus ökologischen, aber auch aus kulturellen Verpflichtungen gegenüber der Gesellschaft und ihrer Umwelt, nicht mehr hinausgegangen werden darf. Diese Erkenntnis kommt zu einem Zeitpunkt, an dem das Recht auf Stadt erstritten werden muss. Die Konkurrenz um das »Leben in der Stadt der kurzen Wege« drängt mancherorts ganze Gesellschaftscluster an den Rand, in die unbeliebten monostrukturellen Zonen. Hier sind es Migranten, die häufig als erste Bewohnerschaft auftreten. Nicht weil sie dort primär die kulturelle Nähe gleicher Herkunft suchten, sondern weil in dieser isolierten Lage die ethnische Zugehörigkeit mitunter den einzigen Halt bieten kann. Saunders weist in Making Heimat (2016) auf die positiven Aspekte hin und sieht die »ethnische Gruppe als Integrationshilfe« an.

Fatalerweise sind auch die industriellen Arbeitsplätze in den Randbezirken zu finden, aufgrund der Raumlogik und Verteilungswahrscheinlichkeit nicht gleich nebenan, sondern möglicherweise sogar auf der gegenüberliegenden Seite der Peripherie. Das hier vorherrschende Prinzip der Lebensführung, finanziell wie zeitökonomisch, ist die Koordination des Tagesablaufes, der Wege zum Dienstleistungsjob in der Innenstadt oder besagter Fabriken.

Für eine dringend benötigte Umkehr in der Stadtentwicklung steht allein der suburbane Raum – die vorhandene Zwischenstadt – zur Verfügung. Diese »verbrauchte Landschaft« muss der Ort sein, wo gleichberechtigte Lebensverhältnisse zum Chancenreichtum des Städtischen hergestellt werden. Die positiven Anteile der Stadt müssen in die monostrukturellen Zonen, günstigenfalls als Umbau, Ergänzung oder Neuinterpretation des Bestandes, integriert werden. Ein Plattenbaugebiet – um einen von vielen Anknüpfungspunkten zu benennen – braucht dann nicht nur ergänzende Wohnformen und als Gewerbe ein bisschen Wohnfolgeeinrichtung und Nahversorgung. Es sollte strukturell völlig neu eingebettet sein und die für gewöhnlich grünen Abstandsflächen müssen einer diversifizierten Nutzung zugeführt werden. Beispielsweise kleine Parzellen: Grundbesitz, der einer Selbstständigkeit Raum gibt, der eine mitgebrachte Beharrlichkeit und gestalterische Energie der schon vor Ort Lebenden aktiviert. Sicherlich sind es nicht allein Zugewanderte, denen solche Möglichkeiten bisher in der Stadtentwicklung fehlen. Der Schlüssel ist Integration durch Eigentumserwerb, Identifikation durch Maßstäblichkeit.

Neben der gesellschaftlichen Bereitschaft, Migration als etwas Selbstverständliches in unserer Mitte politisch wie kulturell zu akzeptieren, sind es – wie hier dargestellt – auch strukturelle Eigenschaften des Städtischen, die von Bedeutung sind. Das Städtische, die Stadt im klassischen Sinne, ist ein rares Gut geworden, das dringend einer ebenbürtigen Erweiterung bedarf. Das Zustandekommen des patchworkartigen Reservoirs hierfür im Gegenüber der Innenstädte, der besagten Zwischenstadt, ist neben vielen pragmatischen Gründen auch der bis dato angewandten Baugesetzgebung geschuldet. Sie stammt aus einer zur historischen Stadt zutiefst kritisch eingestellten Epoche und zielt auf ein Höchstmaß an Verteilung aller planbaren Funktionen. Nach wie vor ist es gesetzliche Aufgabe der Stadtplanung, Abstände zwischen Nutzungen zu sichern und geringe Dichten zu verteidigen. Hierfür muss die Politik, der Gesetzgeber neue Parameter zugunsten der Eigenschaften von Stadt setzen, die schon lange wieder geschätzt werden: Urbanität durch Nachbarschaft von Wohnen und Arbeiten, eine solidarische Dichte, Chancen zur sozialen Mischung. Hinzu kommt, eine erforderliche Wertschätzung von Eigentumsformen gesellschaftlich zu aktivieren, die möglichst vielfältig und kleinteilig organisiert sind. Aktuell ist die Stadtpolitik allerorts damit befasst, investorengerechte Stadtflächen zusammenzuführen, um sich die Planung möglichst zu erleichtern.

Das französische Viertel in Tübingen ist ein bisher leider exemplarisch gebliebenes Neubauquartier, das seinem Aufbau nach und aus seiner Planungsgeschichte den postulierten Anforderungen entspricht. Am äußersten Stadtrand, als Arrondierung einer ehemaligen Kaserne, wurde es ab Mitte der 90er Jahre als zeitgemäße Interpretation einer klassischen Stadt entwickelt. Die typische Blockrandbebauung differenziert die Räume, eine kleinparzellierte Bebauung weist eine sehr hohe Dichte auf, die neben der Nutzungsmischung, bis hin zu kleinen Industriebetrieben, für eine urbane Atmosphäre sorgt. Das eigenständige Viertel wies seiner Lage gemäß zu Beginn einensehr hohen Migrationsanteil auf, der sich mittlerweile aufgrund der Beliebtheit des Quartiers auf das Durchschnittsniveau der Gesamtstadt eingependelt hat. Die mit Preisen und Auszeichnungen hochdekorierte Neuplanung ist unter Umgehung großer Hürden seitens des Planungsrechts und üblicher Finanzierungswege entstanden, allerdings nicht auf Widerstände in der Bevölkerung gestoßen. Eine unorthodoxe Auslegung der Baunutzungsverordnung (Kerngebiet im Außenbereich) wurde von der Politik und der Verwaltung mitgetragen. Als Finanzierungsmodell wurde hier zum ersten Mal flächendeckend mit Baugruppen oder Baugemeinschaften gearbeitet. Heute sucht die Tübinger Stadtverwaltung das Baugruppenmodell mit dem Thema der Integration proaktiv zu verbinden, indem zukünftige Hausgemeinschaften bei der Grundstücksvergabe unterstützt werden, wenn Migranten einbezogen sind.

Ein weiteres richtungweisendes Beispiel liegt außerhalb Deutschlands. Im Amsterdamer Stadtteil Slotervaart, eine in weiten Teilen von Migranten, vornehmlich aus dem Maghreb, bewohnte Trabantenstadt, die mit Baubeginn in den 50er Jahren als Gartenstadt entworfen wurde. Dieser Stadtteil wird derzeit konsequent mit sozialer Infrastruktur nachgerüstet, mit Appartement- und Reihenhäusern als ergänzende Wohnformen sowie mit Gewerbe verdichtet. Dabei wird ein öffentlicher Raum als Gemeinschaftsraum des Stadtviertels mit gewandelter Identität herausgearbeitet und auf viele nur als Abstandsflächen erscheinende Grünräume verzichtet.

Das Städtische gestattet den Umgang mit dem Fremden, die Integration ohne kulturelle Selbstaufgabe. Die Stadt befähigt hier zu mehr, als – im Unterschied dazu – dies der ländliche Raum ermöglichen könnte.

Das Dorf und die Vorstadt stehen für Übersicht und soziale Kontrolle, vertraute Handlungsmuster und ungeteilte Identität. Demgegenüber ist die Stadt, als Lebensraum von Zivilität, Emanzipation und geteilter Identität, als Ort der Kultur und höheren Bildung, gesellschaftlicher und politischer Teilhabe und Arbeitsteilung, auch das bessere Vehikel zur Integration. Der Umgang mit Migration in der Gesellschaft steht wie ein Lackmustest für diese Qualitäten, nicht zuletzt durch räumlich-bauliche Gegebenheiten, gleichsam die Indikatoren für eine wahrhafte Urbanität.

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