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Der aktuelle Zustand der EU erfordert neue Kooperationsmuster Minilateralismen auf dem Vormarsch

Die aktuelle Legislatur der Europäischen Union unter der Juncker-Kommission neigt sich mit großen Schritten ihrem Ende zu. Angesichts der nahenden Europawahlen im Mai 2019 werden die ersten Bilanzen vorgelegt und Ausblicke gewagt, wie sich die EU in den nächsten Monaten und Jahren entwickeln wird. Dabei sind jegliche Detailfragen von der Feststellung überschattet, dass sich der Zustand der Union – hinsichtlich ihrer Stabilität, Widerstandskraft und des europäischen Zusammenhalts – in den letzten fünf Jahren deutlich verschlechtert hat. Während die letzten Europawahlen zentral von den Folgen der Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise geprägt waren, ist die Liste der Krisen und Negativszenarien heute wesentlich länger und unübersichtlicher.

Daran anknüpfend ist auch der Ausblick in die Zukunft der EU ein wesentlich anderer. Im Jahr 2014 war der EU-Diskurs von umfassenden Reformdiskussionen geprägt, wie die europäische Integration entschieden vorangetrieben werden kann; wie die EU »groß im Großen und klein im Kleinen« agieren kann. Heute – einige Krisen und ein Brexit-Referendum später – ist der Diskurs deutlich fatalistischer und wesentlich reaktiver geworden. Der »große Wurf« für die EU in Form weitreichender Integrationsschritte möglichst vieler Mitgliedländer wird auf absehbare Zeit nicht angestrebt. Stattdessen bemühen sich die einzelnen Staaten in erster Linie um pragmatische Schadensbegrenzung. Eine weitreichende Desintegration Europas wird als reale Gefahr gesehen.

Begriffe wie »differenzierte Integration«, »Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten« oder »Kerneuropa« sind keinesfalls neu in der Debatte. Dennoch ist es auffällig, wie sehr aktuell kursierende Zukunftsmodelle von flexiblen Kooperationsmodellen und minilateralen »Koalitionen der Willigen« bestimmt sind. Das gilt sowohl für Impulse von Seiten der Europäischen Kommission – etwa im Rahmen des Weißbuchs zur Zukunft der EU, das der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März 2017 vorgelegt hat – als auch für Initiativen der Mitgliedstaaten.

Es ist daher wenig überraschend, dass aktuelle, potenziell nachhaltige Initiativen häufig freiwilliger Natur sind und sich auf flexible Strukturen stützen. Ein Beispiel ist im Sicherheits- und Verteidigungsbereich die Permanente Strukturierte Zusammenarbeit (PESCO), die innerhalb des rechtlichen EU-Rahmens angesiedelt ist und aktuell 25 Mitgliedstaaten umfasst. Andere Impulse sind zwischenstaatlicher Natur und bewusst außerhalb von EU-Strukturen angelegt, um schnellere und effizientere Ergebnisse zu befördern. Dazu gehört etwa die Interventionsinitiative zur Beförderung autonomer europäischer Verteidigungskapazitäten, die der französische Staatspräsident Emmanuel Macron angestoßen hat; unter anderem mit dem Ziel, Großbritannien auch nach einem Brexit eng in europäische Kooperationsformate einzubinden.

Unsicherheit und fehlendes Vertrauen

Diese Beispiele aus dem sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich fügen sich in einen europäischen Diskurs ein, der bei dem Versuch, praktikable Zukunftsszenarien für die EU zu skizzieren, Flexibilisierung und Minilateralismen als das geringste unter zahlreichen möglichen Übeln herausstellt. Die Gründe dafür liegen in einem Geflecht sich selbst verstärkender und reproduzierender Faktoren von Unsicherheit und fehlendem Vertrauen innerhalb der Union. In vielen europäischen Hauptstädten herrscht zudem die Angst vor, dass zu drastische Schritte nach vorne – etwa weitreichende Reformen der Wirtschafts- und Währungsunion, die Vertragsänderungen und damit Referenden in einigen Mitgliedstaaten erfordern würden – gleichsam die Büchse der Pandora öffnen könnte. Angesichts aktueller Umfragewerte wird das Risiko des Scheiterns in einem solchen Fall als zu hoch eingeschätzt. Frisch ist die Erinnerung etwa an das negative Ergebnis des Referendums, das 2016 in den Niederlanden zur Abstimmung über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine abgehalten wurde.

Eine wesentliche Gefahrenquelle für den Fortbestand der EU-27 liegt in der voranschreitenden Aushöhlung multilateraler Strukturen und der damit einhergehenden allmählichen Schwächung der internationalen globalen Ordnung begründet. Dieser Trend, der Politikbereiche wie Klima, Handel, Gesundheit oder Sicherheit und Verteidigung betrifft, wird von der Politik der aktuellen US-Regierung sowie durch die Einflussnahme illiberaler Drittstaaten wie China oder Russland vorangetrieben.

Gleichzeitig tragen aber auch solche Politiken europäischer Staaten zu einer Schwächung multilateraler Strukturen bei, die hinter derart vereinbarten Zielvorgaben zurückbleiben (etwa bei Klimazielen oder Verteidigungsausgaben), oder gegen europäische Grundprinzipien und sekundärrechtliche Vereinbarungen verstoßen. In jedem Fall schadet eine solche Entwicklung der EU in ganz besonderer Weise, da sie sowohl nach innen wie nach außen auf funktionierende supranationale bzw. multilaterale Strukturen sowie die Gültigkeit rechtsstaatlicher Normen angewiesen ist. Durch eine Aushöhlung dieser Ordnung verliert sie an Einfluss und Glaubwürdigkeit.

Je mehr sich das Gefühl ausbreitet, dass die EU hinter ihren Versprechungen zurückbleibt und zentrale Probleme nicht lösen kann, desto mehr verstärkt sich die Gefahr, dass einzelne EU-Mitgliedstaaten und -Akteure ankündigen, nach neuen Partnern zu suchen oder ihr »Schicksal in die eigene Hand nehmen zu müssen«: eine Suche nach eigenen Lösungen, um Energiesicherheit zu gewährleisten; nach eigenen Sicherheitsgarantien im Verteidigungsfall; nach eigenen Partnern zur Eindämmung irregulärer Zuwanderung. Das Schreckensszenario proeuropäischer Akteure ist eine weiter zunehmende Fragmentierung der EU, einhergehend mit einem weiter ansteigenden internationalen Bedeutungsverlust. Jean-Claude Juncker hat dieses Gefahrenpotenzial wiederholt in seiner Rede zur Lage der Union vom 12. September 2018 thematisiert. Sein zentraler Aufruf lautet: »Wenn es darauf ankommt, muss Europa zusammenstehen«.

Deutschland im Visier der Kritik

Das Brexit-Referendum ist bislang der weitreichendste Präzedenzfall eines Versuches, es alleine zu schaffen. Ähnliche Diskurse gewinnen jedoch auch in anderen EU-Staaten an Bedeutung, in besonderer Weise befördert und verbildlicht durch die Folgen der sogenannten Flüchtlingskrise, durch die Alleingänge und Misstrauen befördert sowie abweichende Interpretationen von europäischer Solidarität angestrengt wurden. Insbesondere die deutsche Rolle hat eine große Reibungsfläche für Politiken und Diskurse in vielen anderen, häufig kleineren EU-Staaten geboten. Die Politik der Visegrád-Staaten in Migrations- und Asylfragen ist nur ein Beispiel für die Anfechtung des in Deutschland häufig bemühten Motivs der Alternativlosigkeit. Der Widerstand gegen die Einführung einer Umverteilungsquote für Flüchtlinge wurde aus mitteleuropäischer Sicht als Widerstand gegen den deutschen Versuch gewertet, Deutungshoheit über den Begriff europäischer Solidarität zu gewinnen. In einigen EU-Mitgliedstaaten wurde die Bundesregierung dafür kritisiert, Doppelstandards bei Solidaritätsfragen anzulegen und die Bedenken seiner Partner nicht ausreichend zur Kenntnis zu nehmen. Bei der Vorstellung der Agenda der österreichischen Ratspräsidentschaft Anfang Juli wies der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz etwa wiederholt darauf hin, dass ein Miteinander zwischen großen und kleinen EU-Staaten auf Augenhöhe essenziell sei. Dabei wandte er sich mit Negativbezügen wiederholt direkt an Deutschland.

Die zunehmende Sichtbarkeit lautstarker Widerstände gegen deutsche Politiken – in der Flüchtlingskrise, beim Gaspipelineprojekt Nord Stream II, in Verteidigungsfragen – kann als Ausdruck einer größeren, strukturellen Neusortierung innerhalb der EU gedeutet werden. Durch den Brexit verlieren Deutschland und Frankreich, aber insbesondere auch zahlreiche kleine und mittelgroße EU-Staaten – insbesondere in Nord- und Mittel-Ost-Europa – einen ihrer wichtigsten Partner in vielen Bereichen europäischer Politik. Zum einen wurde Großbritannien als wichtiger Gegenpol zum deutsch-französischen Tandem wahrgenommen, etwa bei Reformfragen der Wirtschafts- und Währungsunion oder generell institutionellen Debatten. Zum anderen wird das Land als Garant wichtiger diplomatischer und militärischer Ressourcen geschätzt, insbesondere im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik.

Die Aussicht auf einen Brexit in Kombination mit einer tiefer gehenden Unbeständigkeit internationaler Beziehungen hat daher im europäischen Kontext zu einer spürbaren Aufwertung themenspezifischer minilateraler Koalitionen und insbesondere auch langfristig angelegter sub-regionaler Gruppierungen geführt. Neben den Visegrád-Staaten gehören zur zweiten Kategorie unter anderem auch nordische, baltische und Benelux-Kooperationsformate. Die thematische Agenda dieser Zusammenschlüsse reicht beispielsweise von Infrastrukturprojekten und grenzüberschreitender Zusammenarbeit bei Gesundheitsthemen, Energiepolitik und innerer Sicherheit, über Ressourcenbündelung in Sicherheits- und Verteidigungsfragen bis hin zu gemeinsamen Initiativen zur Unterstützung europäischer Nachbarschaftsstaaten. Eine Reduktion dieser Gruppierungen auf Veto-Koalitionen – wie häufig geschehen im Kontext der großen Fluchtbewegungen 2015 – wird ihnen daher nicht gerecht.

Eindruck von Doppelstandards vermeiden

Vor dem Hintergrund zunehmender Differenzierung und einer abnehmenden Bindekraft des deutsch-französischen Tandems wird eine der zentralen und schwierigsten Aufgaben der EU in den nächsten Monaten und Jahren darin bestehen, das Vertrauen in europäische Kompromissfähigkeit und europäische Schlagkraft zu festigen. Es wird daher von wesentlicher Bedeutung sein, den Eindruck von Doppelstandards zwischen großen und kleinen EU-Staaten zu widerlegen oder zumindest abzumildern, und kleineren EU-Staaten in einem Kontext von zunehmender Zusammenarbeit zwischen den Regierungen eine Stimme zu geben. Diese Herausforderung betrifft Deutschland in ganz besonderer Weise. Das deutsche außenpolitische Selbstverständnis sowie die politische Macht und Wirtschaftskraft Deutschlands hängen überproportional von funktionierenden EU-Strukturen ab. Gleichzeitig schüren aktuelle innenpolitische Querelen in der Bundesrepublik Misstrauen und schaden der Berechenbarkeit deutscher Europapolitik. Inklusive Ansätze und weitverzweigte Kommunikationskanäle sind daher von zentraler Bedeutung. Die zunehmende Offenheit gegenüber sub-regionalen Kooperationsformaten geht in die richtige Richtung.

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