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Die Frankfurter Schriftstellerin Eva Demski huldigt in ihrem neuen Buch dem Anarchismus Missionieren wäre unanarchistisch

Auf einer Karikatur des französischen Comiczeichners Jean-Marc Reiser liegt ein Männchen mit Knollennase breit lächelnd und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf einer Blumenwiese. Darüber die gekritzelte Frage »Was ist Anarchie?«. »Das«, antwortet eine Sprechblase über dem Männchen. Die Zeichnung ist natürlich ein Witz. Ein bisschen Ernst ist aber dabei. Die Frankfurter Schriftstellerin Eva Demski liebt das gute Leben, auch das Verschwenderische, Askese ist ihr eher unheimlich. Mit dem Anarchismus beschäftigt sie sich nach eigener Aussage schon ihr ganzes Leben lang.

Ihr neues Buch zeugt von dieser lebenslangen Beschäftigung. Mein anarchistisches Album versammelt Bilder, Biografien, Splitter, Ortsbegehungen zum Thema. Wobei es wichtig ist, erst einmal Anarchie und Anarchismus zu unterscheiden. Anarchische Zustände werden schnell ausgerufen, etwa wenn am Flughafen die Gepäckausgabe nicht reibungslos funktioniert oder der Bahnverkehr mal wieder stockt.

Der Journalist Nils Minkmar spricht in seinem einmal in der Woche erscheinenden Newsletter »Der siebte Tag« von der Anarchie und Freiheit des Sonntags, dem kürzlich verstorbenen Historiker und Journalisten Johannes Willms wurde »anarchisches Denken« attestiert. All das zielt auf das Regel- und Zügellose. Der Anarchismus indes meint demgegenüber einen Zustand, der nie erreicht werden wird, wie Demski erläutert. Eine ideale Gesellschaftsform, kein Chaos, sondern Ordnung ohne herkömmliche Arten der Herrschaft. Eine Philosophie, die Hierarchien aller Art ablehnt. Eine politische Ideenlehre, die sich nirgends auf Dauer verwirklicht hat, weswegen die Utopie zum Anarchismus gehört wie die tiefen Teller zur Suppe. Es ist ein Denken, das Eva Demski nah ist, ja sie könne gar nicht anders denken: »Ich bin vollständig frei von hierarchischem Denken«, sagt sie.

Geboren wurde Eva Demski 1944 in Regensburg, später studierte sie in Mainz und in Freiburg Germanistik, Kunstgeschichte sowie Philosophie und fing danach als Journalistin etwa für den Hessischen Rundfunk zu arbeiten an. 1979 erschien ihr Romandebüt Goldkind, 30 Jahre später ihr Bestseller Gartengeschichten. Demski weiß, dass manche sie unterschätzen, sie als Garten- und Katzentante abtun. Das juckt sie nicht und wenn, gibt sie es nicht zu. Auch mit 78 Jahren wirkt sie forsch und sachte renitent, sehr selbstgewiss und auf eine selbstverständliche Art unangepasst. Spitzzüngig und mit trockenem Humor gesegnet ist sie sowieso.

»Zauber einer unideologischen Denkweise«

50 Jahre ist es her, dass sie ihre erste Arbeit für den Suhrkamp Verlag erledigt hat, eine Übersetzung des Buches Anarchismus – Begriff und Praxis von Daniel Guérin. Ihr »anarchistisches Album« knüpft daran an. Ein Album zum Blättern, eines, das man ebenso gut von vorne nach hinten wie von hinten nach vorne lesen oder einfach mittendrin aufschlagen kann. Das gut Sortierte wäre dem Gegenstand nicht angemessen; eine gewisse Schlampigkeit und ein Mangel an Ewigkeitsbewusstsein sind laut Demski dem Anarchismus zu Eigen.

Ihr Ziel war es, »den Zauber einer unideologischen Denkweise wiederzuentdecken«. So widmet sie sich dem großen Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814–1876), den auch Hans Magnus Enzensberger in einem Gedicht verewigt hat. Es endet mit der Beschwörungsformel »Bakunin, bitte ich dich: kehr wieder, kehr wieder, kehr/wieder.« Der russische Revolutionär entstammte einer Adelsfamilie, und Demski deutet an, dass es auch seine vergleichsweise sonnige Kindheit war, die zu seinem großen Charisma, seiner Selbstsicherheit, seiner Überzeugungskraft beigetragen habe.

Bakunin, der Überzeugungstäter, der Anti-Marx. Die Schriftstellerin Ricarda Huch hat eine Biografie über ihn geschrieben, aus der auch Demski zitiert: »Merkwürdig ist es, daß sein Verstand ebenso groß war wie sein Gefühl, daß aber sein Verstand sich niemals hindernd zwischen sein Gefühl und dessen Betätigung drängte. Sein Gefühl war nie zerfasert und verzettelt: Es sprang gerade und unaufhaltsam wie das Licht aus seinem Herzen.«

Peter Kropotkin (1842–1921) teilt die adlige Herkunft mit ihm, von manchen wurde er »der anarchistische Fürst« genannt. Auch ihm, dem Denker des kommunistischen Anarchismus widmet Demski ein Kapitel. Doch wer glaubt, der Anarchismus sei eine ausgemachte Männersache, den belehrt Demski eines Besseren und erzählt die aufregende Lebensgeschichte der Anarchistin und Feministin Emma Goldmann (1869–1940).

Die russische Jüdin emigrierte als junge Frau nach Amerika, wird später nach Russland deportiert, sitzt im Gefängnis, beteiligt sich am Spanischen Bürgerkrieg, gibt eine politische Zeitschrift heraus und und und. Ihr Glaube an eine gerechte Gesellschaft eint sie mit Bakunin und Kropotkin, die Begegnung mit Letzterem sei ein Lichtblick für sie gewesen. Die Lebensgeschichten dieser drei Ausnahmegestalten zeugen vom Kampf gegen unhaltbare Zustände, gegen Ungerechtigkeit und für eine bessere Welt. Ein Kampf, der bis heute gekämpft wird.

Nicht die eigene Lebenssituation steht im Fokus, sondern das Wohl aller. Bakunin, Kropotkin und Goldmann waren keine Querdenker, sondern Denker. Gemein ist ihnen höchstens die Frage nach dem Warum. Es ist die Frage des Anarchismus. Warum ist die Welt, wie sie sie ist? Warum sind die einen reich, die anderen arm? Warum gibt es Ungleichheit? – Kinderfragen? Mag sein. Die Antworten bergen Sprengstoff. So ist der Tyrannenmord ein viel diskutiertes Thema anarchistischer Bewegungen. Aktuell ist es bis heute.

Bei ihrer Buchvorstellung im Hessischen Literaturforum im Frankfurter Mousonturm kommt auch Eva Demski auf den politischen Mord zu sprechen. Sie erinnert an den Hitler-Attentäter Georg Elser und sagt nachdenklich: »Es hätte geholfen«. Elser sei aber kein Anarchist gewesen, fügt sie hinzu.

Zum Selbstdenken verführen

Im Saal sitzt betagtes Publikum, auf der Bühne präsentiert sich Eva Demski in anarchistischen Farben: ganz in schwarz mit einem hellroten Schal. Die Fragen des Moderators Björn Jager kontert sie gewohnt eloquent, pointiert und nonchalant. Gleich zu Beginn stellt sie klar: »Ich will mit Sicherheit nicht missionieren, das wäre unanarchistisch.« Sie spricht lieber von Verführung. Zum Selbstdenken verführt sie auch. Ihr Album habe sie aus reinem Vergnügen zusammengestellt, was man ihr glaubt, da auch die Lektüre Vergnügen bereitet. Das hat mit dem besonderen Ton ihres Erzählens zu tun. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bescheinigte ihr einst, ihr gelinge es zu schreiben, wie ihr der Schnabel gewachsen sei. Stimmt. Und das kommt der kleinen Form zugute, zu der sie immer wieder greift.

Beobachtungen, Alltagsbegegnungen, Stimmungen, ob Garten, Katzen oder der Rheingau. Mutterwitz und Eigensinn zeichnen sie und ihr Schreiben aus. Die meisten ihrer Romane, angefangen bei Goldkind über Afra und Das Narrenhaus sind in Vergessenheit geraten. Einer ragt heraus. Scheintod, 1984 erschienen, rekapituliert ihr Leben an der Seite ihres Mannes, dem Anwalt Reiner Demski, der 1974 im Alter von 30 Jahren unter ungeklärten Umständen starb. Es ist ein Trauerbuch und ein Zeitdokument. 2021 stand es im Zentrum der Frankfurter Veranstaltungsreihe »Eine Stadt liest ein Buch«. Scheintod handelt von bewegten Zeiten, Reiner Demski war Anwalt der linken Szene, seine Frau Eva erlebte die Studentenproteste hautnah mit und merkte schon damals, dass sie sich mit Anarchisten besser verstand als mit den Mitgliedern der K-Gruppen.

Während der Buchvorstellung im Mousonturm fragt sie den Moderator einmal vorwurfsvoll: »Liest Du nicht die Bunte?« und lächelt dabei in sich hinein. Für das nicht Standesgemäße hat sie ein Faible. Das zeugt in ihrem Fall auch von einer besonderen Nähe zum sogenannten echten Leben. Menschen, die sinnlos Geld anhäufen, begreift sie nicht, wobei sie unbedingt Wert darauf legt, dass alle so viel Geld bekommen sollen, um in Würde zu leben. Die Musks, Zuckerbergs und Bezos’ dieser Welt bleiben ihr ein verfluchtes Rätsel. Die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Güte hält sie indes für unausrottbar.

Versuche, es einmal ganz anders zu machen, die anarchistische Idee in die Tat umzusetzen, gab es ein paar: Die Münchner Räterepublik sowie den kurzen spanischen Sommer der Anarchie im Jahr 1936. In der Ukraine kämpfte der Anarchist Nestor Machno vor mehr als 100 Jahren für die Selbstbestimmung der Bauern und Arbeiter. Auch davon erzählt Demskis Buch.

Das bekannteste Symbol des Anarchismus ist das in einen Kreis gesperrte große A. Man findet es auch heute noch erstaunlich oft im öffentlichen Raum: an Bäumen, Häuserwänden, Stromkästen, Müllkörben. Eva Demskis Album zieren viele solcher Fotos. In der Kunst wiederum bewundert sie den britischen Streetart-Künstler Banksy. Auch ihm widmet sie ein Kapitel: »Er hat mitsamt seinen Helfern das anarchistische Ideal erreicht: seiner Sache so gewiss zu sein, dass einem die eigene Sichtbarkeit nichts mehr bedeutet. Darauf zu vertrauen, dass die Werke ihre Aufgabe als Rattenfänger schon erfüllen werden.«

Der Künstler hält nicht nur seine wahre Identität geheim und narrt den Kunstbetrieb immer wieder mit allerlei Aktionen, wie etwa der Vernichtung eigener Kunstwerke mitten in einer Auktion. Ein Ausnahmekünstler, wenn es sich denn wirklich um einen Mann handeln sollte. Drei sehr unterschiedliche Männer bringt Demski in einem anderen Kapitel unter einen Hut: Marcel Reich-Ranicki, den sie gut kannte, Udo Lindenberg und Karl Lagerfeld. Vielleicht ist der Anarchismus doch eine männliche Domäne?

Eva Demski bezeichnet auch den Schriftsteller Stephen King, den sie verehrt, als Anarchisten – beziehungsweise seine Fantasie. Die Aktivisten und Aktivistinnen der Gruppe »Die letzte Generation« sind in ihren Augen keine. Deren Störaktionen (Kartoffelbrei auf Monet) empfindet sie als Barbarei. »Bilderstürmer dieser Art finde ich dekadent«. Die Aktionen widersprächen ihren politischen und ästhetischen Empfindungen. Der Literaturkritiker Wilfried F. Schoeller beschrieb Demski einmal als konservative Anarchistin.

In jedem Fall hat sie nichts mit heutigen Querdenkern und Impfgegnern am Hut, beide Gruppierungen sind für sie kein Ausweis anarchistischen Denkens. Revolutionäre Taten seien indes »Lächeln und Zuhören«. Schwer genug. Im berühmten Fragebogen von Marcel Proust antwortete sie vor Jahren auf die Frage, was das größte Unglück für sie sei, kurz und knapp: »Dummheit«. Das meint bei ihr nicht, ungebildet zu sein, sondern nicht wissen zu wollen. Als ein Gegenrezept empfiehlt sie: »Werdet wild und tut schöne Sachen«. Womit wir wieder beim Anfang wären, dem scheinbar Sinnlos-im-Gras-Liegen.

Eva Demski: »Mein anarchistisches Album«. Insel, Frankfurt am Main 2022, 220 S., 24 €.

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