»Geheimdienst kannte Attentäter«, titelte die Süddeutsche Zeitung am 24. März 2017 nach dem Anschlag von Westminster in London. War das nun Nachricht, Lob oder Tadel? Was der Artikel über den Stand der Ermittlungen berichtete, stützte sich zunächst auf Polizeiangaben und dann auf Aussagen der Premierministerin Theresa May im Parlament. Zwar sei der Attentäter im Zusammenhang mit »gewalttätigem Extremismus« ins Visier des MI5 geraten: »Er galt jedoch nur als Randfigur, und die Behörden sahen ihn zuletzt nicht mehr als Bedrohung an und hatten keine Hinweise auf seine Pläne.« Das Ergebnis der behördlichen Ermittlungen war also eine Fehleinschätzung mit tödlichen Folgen. Die Titelzeile ließe sich dahingehend präzisieren, dass der Geheimdienst den Attentäter nicht gut genug kannte.
Es verwundert nicht. Erstens handelt es sich bei vielen Attentätern der letzten Jahre um Personen, deren Verhalten unberechenbar ist. Zweitens fällt es Geheimdiensten schwer, sich kurzfristig neue Aufgabenfelder zu erschließen, zumal wenn diese fremde Kulturen und Ideologien betreffen. Und drittens haben es auch Geheimdienste inzwischen mit »sozialen Netzwerken« zu tun, die vorgeben, Menschen miteinander zu verbinden, ohne sie physisch zusammenzubringen. Wer sich hinter einer Netzidentität verbirgt und welche Motive er hat, kann durchaus verborgen bleiben – für ferngelenkte Täter ebenso wie für ihre Überwacher.
Geschichte der Pannen
Kennen ist noch kein Wissen, und selbst Wissen wäre nicht automatisch ein Beweis, der vor Gericht standhielte. Für die USA, wo man den »war on terror« u. a. auch außerhalb der Landesgrenzen mit Killerdrohnen führt, hätte das Wissen über den mutmaßlichen Attentäter womöglich gereicht, ihn auf eine einschlägige Liste zu bringen. Wo aber der Terrorismus mit den Mitteln der Justiz bekämpft wird, gelten strengere Regeln. Nicht nur der NSU-Prozess hat gezeigt, dass Geheimdienste auch vor Gericht dieser Bezeichnung gerecht zu werden suchen.
Vielleicht liegt das auch daran, dass ihre Geschichte reich an fatalen Fehlern ist. Wenn Bernd Stöver in der höchst aktuellen Neuausgabe seines Buchs Der kalte Krieg diesen als »Krieg der Geheimdienste« charakterisiert, so fehlt es darin nicht an Beispielen krasser Fehleinschätzungen. So seien die bis 1953 im Rahmen der amerikanischen Aktion »Valuable« nach Albanien eingeschleusten Agentengruppen dort regelmäßig verhaftet worden. Schuld sei zum einen der Sowjetagent Kim Philby gewesen, zum anderen die Überschätzung der Chancen für einen Umsturzversuch im Ostblock. Bei ähnlichen Versuchen in Jugoslawien sei es zu »haarsträubenden Pannen« gekommen. Etwa als man die eingeschleusten »Revolutionsführer« in amerikanische Luftwaffenuniformen eingekleidet hatte, was zu ihrer sofortigen Verhaftung führte.
Die Briten, so Stöver in seiner gerade erschienenen Monographie CIA. Geschichte, Organisation, Skandale, hätten sich angesichts solcher Pannen über das »idiotische Benehmen« der »Agency« mokiert. Im Fernen und Mittleren Osten blamierte sie sich ebenso wie auf Kuba und trug dazu bei, dass die USA in muslimischen Ländern als »großer Satan« gelten. Gleichwohl sei die CIA gewachsen und könne heute über rund 21.000 Mitarbeiter und einen Etat von offiziell 12,82 Milliarden Dollar verfügen. Selbst nachdem die Attentäter vom 11. September 2001 den USA ein »drittes Pearl Harbor« (nach dem zweiten durch den Koreakrieg) zugefügt hatten, habe die CIA in Guantánamo und anderswo auch weiterhin Gelegenheit erhalten, zu beweisen, was ihr im Dezember 2014 die »Committee Study of the Central Intelligence Agency’s Detention and Interrogation Program« vorhielt: »Erweiterungen von CIA-Kompetenzen führten nicht zu besseren Ergebnissen.« Bleibt zu ergänzen, dass es sich bei diesen »erweiterten Kompetenzen« um die Lizenz zum Foltern handelte. So stellt sich die Frage, inwieweit die CIA, die Stöver »ein Produkt des Kalten Krieges« nennt, heute noch zeitgemäß oder gerade heute zeitgemäß ist.
Wir leben in einer Ära des Dubiosen, des Zweifelhaften und Paradoxen. Von Misstrauen sind gerade jene betroffen, die für Sicherheit und Aufklärung sorgen sollten. Werden sie ihrer Aufgabe gerecht? Sei es der Zerfall der Sowjetunion oder der Jugoslawienkrieg, das Scheitern des »Arabischen Frühlings« oder die Besetzung der Krim – welcher Dienst hatte da rechtzeitig Alarm geschlagen? Sind Geheimdienste also überflüssig? Gar schädlich, weil sie statt belastbare Informationen zu liefern, Unsicherheit und Misstrauen schüren? Die Enthüllungen von WikiLeaks, die Rolle des Verfassungsschutzes in der NSU-Affäre und die Bespitzelungsaktionen der USA gegenüber Verbündeten haben solches Misstrauen ebenso verstärkt wie missglückte Terrorabwehr und die Aktivitäten des türkischen Geheimdienstes MIT in Deutschland. Zu den Querelen im eigenen Lande und unter Verbündeten kommen feindliche Hackerangriffe und Propagandaaktionen von Internet-Trollen, deren Ursprung in Nordkorea und Russland vermutet wird. Der Journalist Joby Warrick zeigt in seinem Buch Schwarze Flaggen das notorische Dilemma der USA und ihrer CIA am Beispiel des Kriegs gegen den Terror und der Entstehung des »Islamischen Staates«: Der Versuch, den Teufel mit dem Belzebub auszutreiben, schafft eher neue Kontrahenten als die alten auszuschalten.
Die Geheimdienste dieser Welt wurden gegründet, als es noch keine Computer gab oder noch niemand ahnte, dass sie einmal in Akten- und Hosentaschen passen würden. Das Klischee vom Spion mit der Minox-Kamera, der Geheimakten fotografiert, ist angesichts heutiger Datenmengen zur Lachnummer verkommen. Bezeichnenderweise firmiert der wohl größte Fall von Geheimnisverrat unter dem Namen »WikiLeaks« und verweist so auf Wikipedia, auf das Projekt einer universellen Enzyklopädie, die per Internet jedem jede sinnvolle Information erschließen will. Nimmt man diese frei zugängliche Quelle als ein Ende einer Skala der Informationsfreiheit, an dem Geheimdienste obsolet wären, so stünde am anderen der totalitäre Staat, der darüber entschiede, was als wahr zu gelten habe. Ein Kennzeichen solcher Staaten ist es, dass dessen Geheimdienste zugleich verdeckt und offen agieren.
Gestapo, sowjetische GPU, Stasi und rumänische Securitate waren ihren Opfern durchaus bekannt. Bekannt war auch, mit welch drakonischen Mitteln sie den Verstoß gegen Gesetze ahndeten, an die sie selbst nicht gebunden waren: »Jeder vermochte sich vorzustellen, dass die Gestapo auch zu härteren Bandagen greifen konnte«, kommentieren Carsten Dams und Michael Stolle in der aktualisierten Neuauflage ihres Buchs Die Gestapo die abschreckende Wirkung, die allein schon ein vergleichsweise harmloses Verhör durch die Geheime Staatspolizei zu zeitigen vermochte, indem es befürchten ließ, dass ihr alles zuzutrauen war.
Fragwürdige Selbstermächtigung
Dabei beziehen sich die Autoren auch auf Ernst Fraenkels im US-amerikanischen Exil erschienene Studie The Dual State (1940/41, deutsch 1974 als Der Doppelstaat). Als solcher Doppelstaat sei das nationalsozialistische Deutschland zugleich Normen- und Maßnahmenstaat gewesen. Während der Normenstaat sich an Gesetzen orientiert habe, hätte der Maßnahmenstaat skrupellos die eigenen Ziele verfolgt.
Man kann dies auf die Arbeit von Geheimdiensten übertragen, die wie die CIA als Agentur eines Rechtstaates, wie Stöver zeigt, durch Menschenversuche und politische Morde Recht brechen. Man kann daraus aber auch eine Diagnose der aktuellen Stimmungslage nicht nur im Westen ableiten. Es gibt eine wachsende Kluft zwischen erlebtem Recht und Rechtsempfinden, zwischen Unschuldsvermutung und dem Wunsch notorisch Empörter, dass bei bestimmten Delikten »kurzer Prozess« gemacht werden sollte. Ob bei den selbsternannten »Rettern des Abendlandes« oder beim IS, ob bei Donald Trump oder Marine Le Pen – Affekte gegen den modernen, demokratischen und offenen Normenstaat, mit unterschiedlich starker Ausprägung versteht sich, sowie starke Sehnsüchte nach einem effizienten Maßnahmenstaat, ja im Extremfall nach einer Art Scharia fürs »Volksempfinden« sind weit verbreitet. Dieses Volksempfinden schafft sich eine Gegenöffentlichkeit, in der es seine als Wahrheiten deklarierten Ressentiments durch permanente Rückkopplung ins Wahnhafte steigert. Das kann, wie Frederik Obermaier und Tanjev Schultz in ihrem Buch Kapuzenmänner zeigen, bisweilen groteske Züge annehmen. Sie schildern darin die verschiedenen Versuche, den Ku-Klux-Klan auch in Deutschland zu etablieren. Doch nicht alles, was lächerlich anmutet, ist deshalb schon harmlos.
Kritik von Seiten der Politik und der Medien wird da nur noch als Bestätigung einer Gegnerschaft empfunden, die teilweise bereits als Feindschaft verstanden wird. Solches Abgleiten ins Paranoid-Konspirative gibt es nicht nur am rechten Rand, sondern auch in linksextremen Milieus und in Bereichen des religiösen Fanatismus. Ob RAF, NSU, Reichsbürger oder IS: Es gibt extreme Formen der Selbstermächtigung bis zur Lizenz zum Morden, gegen die Argumente machtlos sind. So wie Geheimdienste sich durch ihre Feinde legitimieren, so haben auch solche Gruppierungen ein symbiotisches Verhältnis zu dem, was sie bekämpfen. Man verteufelt den Gegner, um das eigene Handeln zu rechtfertigen. Terror und Abwehrversuche verstärken einander und sind Mühlsteine, zwischen denen das Recht zermahlen zu werden droht.
Während frühere Verschwörer auf geheime Treffpunkte und Druckerpressen zur Verbreitung ihrer Ideen angewiesen waren, genügen heute ein paar Smartphones. Deren Abhören ermöglicht es aber auch immer wieder, Gefahren und »Gefährder« zu erkennen. Über die Frage der angemessenen Reaktion darf aber kein Geheimdienst befinden, sondern nur ein politischer Prozess, der offen darüber entscheidet, wie man verhindert, dass aus einem geheimdienstlich bekannten »Gefährder« ein Attentäter werden kann. Das ist freilich einfacher gesagt als getan in Zeiten, da Massenmörder keine Bomben mehr basteln müssen, um ihre terroristischen Absichten in die Tat umzusetzen, sondern einfach ins nächste Auto steigen.
Carsten Dams/Michael Stolle: Die Gestapo. Herrschaft und Terror im Dritten Reich. C.H.Beck, München 2017, 4. akt. Aufl., 253 S., 14,95 €. – Frederik Obermaier/Tanjev Schultz: Kapuzenmänner. Der Ku-Klux-Klan in Deutschland. dtv, München 2017, 260 S., 16,90 €. – Bernd Stöver: CIA. Geschichte, Organisation, Skandale, C.H.Beck, München 2017, 128 S., 8,95 €. – Bernd Stöver: Der Kalte Krieg. Geschichte eines radikalen Zeitalters 1947–1991. C.H.Beck, München 2017, 528 S., 16,95 €. – Joby Warrick: Schwarze Flaggen. Der Aufstieg des IS und die USA. Theiss, Stuttgart 2017, 392 S., 22,95 €.
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