Menü

Innovationsansätze für die Demokratie von morgen Mit Beteiligung aus der Krise

Nicht erst die neuesten Umfrageergebnisse für die Alternative für Deutschland (AfD) haben bei vielen Menschen den Eindruck einer Krise geweckt. Ein Viertel der Wähler*innen hat sich dauerhaft von der Wahlurne verabschiedet. Die etablierten Parteien entkoppeln sich immer stärker von den Interessen der Bevölkerung und die Kluft zwischen Politiker*innen und Wähler*innen wird größer – das ist zumindest die Sicht vieler Bürger*innen.

Um aus dieser verfahreren Situation wieder herauszukommen, gibt es eine Reihe an Vorschlägen, um die Menschen besser zu beteilgen:

Erstens: Direktdemokratische Optionen ausweiten. Sie sollen den Bürger*innen mehr Mitbestimmung bei politischen Entscheidungen ermöglichen.

Zweitens:Wahlrecht ändern. Reformen wie die Einführung einer Wahlpflicht oder die Senkung des Wahlalters sollen der niedrigen Wahlbeteiligung entgegenwirken.

Drittens: Dialogorientierte (deliberative) Beteiligungsmöglichkeiten schaffen. Die konsultative Einbeziehung deliberativer Bürgerbeteiligung, beispielsweise durch Konsensuskonferenzen oder Planungszellen, sollen politische Entscheidungen verbessern und die Kluft schließen.

Viertens: Digitale Beteiligungsoptionen nutzen. Digitale Verfahren sollen die Möglichkeiten von Bürger*innen erleichtern, sich politisch einzubringen (zum Beispiel »Liquid Democracy«).

Fünftens: Losverfahren einführen. Losverfahren werden immer häufiger eingesetzt, um die Bürgerschaft möglichst in ihrer Breite an politischen Willensbildungsprozessen zu beteiligen (Bürgerräte). Aktuell werden Stimmen laut, per Zufall ausgewählte Bürger*innen auch in die politische Entscheidungsfindung zu integrieren, zum Beispiel durch eine zufallsausgewählte Parlamentskammer.

Neue Beteiligungsformen kombinieren

Viele Demokratien experimentieren nicht nur mit unterschiedlichen Beteiligungsformen – die OECD spricht von einer partizpativen Welle –; sie kombinieren Beteiligungsformen auf vielfache Weise. Einige Beispiele: Der Bürgerhaushalt in Porto Alegre, Brasilien, etwa war gekennzeichnet durch ein komplexes Verfahren, bei dem die Stadtbewohner*innen gemeinsam mit den Politiker*innen über die Ausgaben der Stadt entschieden.

Bei der ›British Columbia Citizens Assembly on Electoral Reform‹ in Kanada war eine zufällig ausgewählte Gruppe von Bürger*innen beauftragt, einen Vorschlag für eine Wahlreform zu entwickeln, über den per Volksentscheid abgestimmt wurde. Die isländische Verfassungsreformwurde berühmt, da sie viele Beteiligungsformate kombinierte – zufallsausgewählte Bürgerversammlung, Direktwahl von Bürger*innen in den Constitutional Council, Online-Beteiligung, Referendum. Eine zufällig ausgewählte Bürgerversammlung empfahl Verfassungsänderungen in Irland, die per Referendum beschlossen wurden. Und Ostbelgien führte kürzlich einen permanenten Bürgerrat ein, der das Parlament kontinuierlich beraten wird.

Evaluationen unterscheiden zwischen Auswirkungen auf politische Entscheidungen, auf Einstellungen und Kompetenzen politischer Akteure (Bürger*innen, Politiker*innen, Verwaltungspersonal), auf politische Institutionen und Prozesse (etwa in Parlamenten oder Gesetzgebungsprozessen) sowie auf die Qualität von Demokratie, unter anderem hinsichtlich Gleichheit, Transparenz, Legitimität. Allerdings sind Evaluationen aufgrund der Verschiedenartigkeit der Verfahren und der Kontexte problematisch und die Resultate sind kaum generalisierbar. Zu den wenigen generalisierbaren Ergebnissen gehört, dass die Beteiligung bei deliberativen Verfahren zu Kompetenzverbesserungen bei den Teilnehmer*innen führt.

Ein weiterer Zugang, um die Auswirkungen partizipativer Verfahren zu messen, ist der Vergleich von Demokratien mit unterschiedlichen Beteiligungsangeboten. Eine aktuelle Studie zur sozialen, systemischen und demokratischen Leistungsfähigkeit kommt zu dem Ergebnis, dass Demokratien, welche relativ direktdemokratisch und deliberativ sind, die besten Leistungen erzielen, während rein repräsentative Demokratien deutlich schlechter abschneiden.

Es gibt auch Kritik

Manfred G. Schmidt fasst folgende Standardkritikpunkte an (zu) umfassender Beteiligung zusammen: »unrealistisches Bürgerbild, Nicht-hören-Wollen und Nicht-hören-Können, unvorhergesehene Folgeprobleme wie zunehmende politische Ungleichheit, sodann aber auch Destabilisierung durch Übermobilisierung, Eindimensionalität ….«.

Diese Kritikpunkte sind jedoch, wie Schmidt selbst bemerkt, nur teilweise überzeugend. Das »Nicht-hören-Wollen und Nicht-hören-Können« ist ebenso unter Repräsentant*innen anzutreffen. Auch ist nicht nachgewiesen, dass politische Eliten immer »mehrdimensionaler« entscheiden. Tatsächlich sind rein repräsentative Demokratien, wie oben zitiert, hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit eher unterlegen.

»Es besteht die Gefahr, dass bei partizipativen Verfahren die Interessen ressourcenstarker Gruppen dominieren.«

Einige Kritikpunkte sind jedoch ernst zu nehmen, vor allem die Frage der Inklusion. Einerseits lautet die Hoffnung, dass marginalisierte, politikferne Gruppen durch neue Beteiligungsverfahren die Möglichkeit erhalten, sich Gehör zu verschaffen. Andererseits zeigte sich, dass bei partizipativen Verfahren unter der Rhetorik von »Bürgernähe« häufig die Interessen ressourcenstarker Gruppen dominieren. Die meisten Autor*innen stimmen darin überein, dass partizipative Verfahren Potenziale zur Inklusion besitzen – jedoch nur unter Einsatz spezieller Mechanismen.Leider kann jedoch auch die repräsentative Demokratie politische Gleichheit nicht garantieren.

Ein Allheilmittel gibt es nicht

Die aktuelle Krise des repräsentativ-demokratischen Modells ist ein notwendiger Anstoß für die Suche nach neuen Demokratieformen, die besser geeignet sind, auf die aktuellen Herausforderungen zu reagieren. Wie bereits deutlich wurde, herrscht kein Mangel an Reformvorschlägen. Die meisten Autor*innen beschränken sich jedoch darauf, ihr Lieblingsmodell, etwa die deliberative Demokratie, oder eine spezifische Praxis, zum Beispiel Bürgerräte, zu vertreten.

Bürger*innen sollten mitbestimmen, wie sie sich selbst regieren wollen. Menschen sind eher bereit, Regeln zu akzeptieren, wenn sie deren Zustandekommen als fair und gerecht akzeptieren. Dies impliziert, Bürger*innen auch Mitsprachrechte darüber einzuräumen, wie Entscheidungsprozesse verlaufen. Beispielsweise würde sich eine Community mit responsiven, vertrauenswürdigen Politiker*innen möglicherweise für eine Demokratie entscheiden, in der keine über Wahlen hinausgehenden Beteiligungspraktiken notwendig sind.

Eine Community, die auf eine lange Geschichte politischer Korruption zurückblickt, wird neben den Wahlen vielfältige Beteiligungsverfahren kombinieren. Durch die umfassende Beteiligung der Bürger*innen bei politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen gewährleistet sie, dass die Interessen der Bevölkerung berücksichtigt werden.

Was heißt das für die aktuellen Herausforderungen in der Bundesrepublik? Es ist an der Zeit zu diskutieren, wie die Bürger*innen regiert werden wollen. Empfinden sie die gegenwärtigen Prozesse politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung als zeitgemäß? Wollen sie andere Verfahren? Eine solche Diskussion anzustoßen, würde nicht bedeuten, sofort Veränderungen umzusetzen. Aber sie könnte zu einer Revitalisierung der demokratischen Idee führen.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben