Das geplante Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem südamerikanischen Staatenbund Mercosur wird schon jetzt vonseiten der Europäischen Kommission als das »umfangreichste Handelsabkommen« gefeiert, das die Kommission bisher ausgehandelt hat. Aber die vorliegenden Entwürfe müssen noch in einen formalen Vertragstext gegossen werden, der nach einer sorgfältigen juristischen Überprüfung in alle Amtssprachen der EU übersetzt und zur Unterzeichnung dem Rat und dem Europaparlament, wohl auch den einzelnen Mitgliedsländern zur Ratifizierung vorgelegt werden wird. Es ist anzunehmen, dass der ganze Prozess einschließlich der Ratifizierung mehrere Jahre dauern wird. Zeit genug für die Bürger/innen und Parteien, sich mit dem Vorhaben gründlich zu befassen.
Zunächst die erfreuliche Botschaft: Die dubiosen privaten Schiedsgerichte, die bei der Diskussion über das vereinbarte und inzwischen wieder ad acta gelegte Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA und andere frühere Verträge einer der Punkte waren, an denen sich der massenhafte Widerspruch entzündete, sind in diesem Vertrag nicht vorgesehen. Dennoch formiert sich auch hier der Widerstand, und zwar auf beiden Seiten des Atlantiks. »Die heftigen Debatten um das jüngst ausgehandelte Abkommen der EU mit den MERCOSUR-Staaten«, so der SPD-Europaabgeordnete und Vorsitzende des Handelsausschusses des Europäischen Parlaments Bernd Lange und dessen handelspolitischer Referent Tim Peter in einem Beitrag, »machen deutlich, dass es in den vergangenen Jahren nicht gelungen ist, entscheidende Weichen in der Handelspolitik zu stellen und damit auch breitere gesellschaftliche Akzeptanz zu schaffen« (ipg-journal, 2. 10. 2019).
Die Gewerkschaftsdachverbände der Mercosur-Staaten lehnen den Vertrag ab, weil ihrer Meinung nach durch ihn die heimische Industrie zerstört und Massenarbeitslosigkeit erzeugt werde. Auf EU-Seite sind es vor allem die Bauernverbände und Umweltorganisationen, die sich kritisch äußern. Die Bauernverbände befürchten, dass die vorgesehene Erleichterung von Agrarimporten aus den Mercosur-Staaten die heimische Landwirtschaft schädigen würde, während die Umweltorganisationen auf die zu erwartenden dramatischen Schäden für die Umwelt verweisen, die u. a. entstünden, wenn, wie vorgesehen, Rindfleisch- und Sojaimporte aus diesen Ländern erheblich verbilligt würden.
Zu den energischen Befürwortern des Vertrags gehört die deutsche Autoindustrie, weil sie mit weiteren Exporterleichterungen für deutsche Autos rechnet und in den Mercosur-Ländern nicht befürchten muss, wegen Überschreitung von Abgasnormen oder Betrugssoftware belangt zu werden.
Für die neoliberal eingestellten Handelspolitiker der EU ist darüber hinaus der Vertrag mit dem Mercosur eine gelungene Antwort auf die Abschottungspolitik des amerikanischen Präsidenten Donald Trump; sie erwarten von diesem Vertrag einen weiteren Wachstumsschub für die europäische Wirtschaft.
Für die Europäer und erst recht für die europäische Sozialdemokratie ist die Frage nach den zu erwartenden ökologischen und sozialen Auswirkungen des Vertrags von überragender Bedeutung. Sie sollten sich nicht einreden lassen, dass man, um gegen den trumpschen Protektionismus bestehen zu können, für einen solchen Handelsvertrag votieren müsse. Vielmehr sollte nüchtern geprüft werden, inwieweit ökologische und soziale Standards, sowohl die weitaus höheren in Europa als auch die ohnehin zu niedrigen in den Mercosur-Ländern, als Konsequenz der durch den Vertrag neu geregelten Handelsbeziehungen gesenkt würden. Dies aber wäre angesichts des rasant fortschreitenden Klimawandels und der sich seit mehreren Jahrzehnten vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich und der daraus resultierenden Spaltung der Gesellschaften eine Katastrophe.
Durch die im Vertrag vorgesehenen Erleichterungen für den Export von Rindfleisch ist zu befürchten, dass die großflächige Abholzung des Regenwaldes im Amazonasbecken beschleunigt wird, um so zusätzliche Flächen für die Rinderzucht zu gewinnen. Dieser Effekt allein könnte für die Welt bedeuten, dass an die Möglichkeit einer Beschränkung der Erderwärmung auf zwei bis drei Grad Celsius nicht mehr zu denken ist. Nimmt man den gewaltigen Flächenfraß durch die riesigen Soja-Monokulturen in Brasilien und in Argentinien dazu, der ebenfalls durch die vorgesehenen Zollsenkungen gefördert werden würde, ist eine Erderwärmung auf bis zu vier Grad in den kommenden Jahrzehnten und damit eine nicht mehr kontrollierbare weltweite Klimakatastrophe kaum mehr abzuwenden.
Dazu kommt, dass die vorgesehenen vermehrten Importe von Agrarprodukten aus den Mercosur-Ländern auch für die europäischen Verbraucher problematisch sein können. Denn nirgends wird in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelindustrie so bedenkenlos mit Chemikalien umgegangen wie in den Mercosur-Ländern. Wenn zudem in dem Kapitel über Lebensmittelsicherheit eine Beschleunigung der Exportgenehmigungen für tierische Produkte in Aussicht gestellt wird, ist Schlimmes zu befürchten.
Dramatische soziale Auswirkungen
Die zu befürchtenden negativen sozialen Auswirkungen auf beiden Seiten sind nicht weniger dramatisch. Auf der Seite des Mercosur trägt der Vertrag die deutliche Handschrift der Agrarlobby, die auch die Wahl Jair Bolsonaros zum brasilianischen Präsidenten erst möglich machte. Die Großagrarier in Brasilien und Argentinien, vor allem die Rinderzüchter und die Betreiber der Monokulturen für Soja und pflanzliche Kraftstoffe, sind die eigentlichen Profiteure. Die Kleinbauern und die indigenen Völker würden noch weiter ins Elend gedrängt. Vor allem aber ist abzusehen, dass die industrielle Fertigung in den Mercosur-Ländern durch die verschärfte Konkurrenz aus Europa in Mitleidenschaft gezogen, vielleicht sogar weitgehend zusammenbrechen würde, was für Millionen von Arbeiter/innen den Verlust ihrer Existenzbasis bedeuten könnte. Der brasilianische Journalist Antonio Martins spricht deshalb in einem Artikel auf der Website outraspalavras.net von einem »Abkommen der Rekolonialisierung«.
In Europa würde in erster Linie neben dem Maschinen- und Anlagenbau die Autoindustrie von dem Vertrag profitieren. Auf lange Sicht könnte die Steigerung von Autoexporten in die Mercosur-Länder die unter ökologischen Gesichtspunkten längst notwendige Umkehr im Bereich Mobilität weiter verzögern und so die Zukunft dieses Industriezweigs erst recht gefährden. Was den europäischen Agrarsektor angeht, so ist zu erwarten, dass durch die verschärfte Konkurrenz mit den riesigen Agrarunternehmen Brasiliens und Argentiniens auch in Europa die Tendenz zu riesigen Agrarkonzernen noch einmal zunehmen würde, so dass kleinbäuerliche Betriebe weiter unter Druck geraten und auf Dauer in diesem Sektor allenfalls wenige Biobauern in der Nähe großstädtischer Konsumenten überleben könnten. Die ohnehin schon gefährlich tiefe Kluft zwischen Land und Stadt könnte auf diese Weise weiter aufreißen.
Ausdruck alten Denkens
Für Sozialdemokraten, die ihre eigene Programmatik ernst nehmen, ist der Vertrag mit dem Mercosur Ausdruck eines alten Denkens, das angesichts der Dramatik der ökologischen und sozialen Fragen heute geradezu absurd anmutet. Diese Einschätzung teilen auch Lange und Peter, wenn sie schreiben: »Wir befinden uns an einem Scheideweg. Denn die Regentschaft des Ideals des Freihandels ist vorüber, der König ist tot. Die Annahme, dass alle Beteiligten von einer Ausweitung und Liberalisierung von weltweitem Handel profitieren und es demnach keine Verlierer dieser Entwicklungen gibt, ist offensichtlich absolut falsch.« Die das Vertragswerk bestimmende Vorstellung ist offenbar die, dass das Wachstum der Weltwirtschaft unter allen Umständen weitergehen müsse, weil nur so – bei allen Härten, die dieser Prozess auch mit sich bringen mag – so etwas wie Fortschritt zu organisieren sei, und dass dieses oberste Ziel am besten durch eine rücksichtslose Marktöffnung und den Abbau aller Schutzmaßnahmen (vor allem in den Ländern des Südens) sowie durch die einseitige Förderung der großen, global operierenden Konzerne zu erreichen sei.
Die Grundwertekommission der SPD hat schon im Jahre 2010 ein umfangreiches Papier unter dem Titel »An den Grenzen des Wachstums – neuer Fortschritt ist möglich« veröffentlicht, das sich für die Abkehr von diesem ökonomistischen Wachstumskurs ausspricht und die Konturen eines natur- und menschenfreundlichen Fortschritts skizziert. Darin heißt es: »Das bisherige Wachstum war (…) mit einem ständig steigenden Ressourcenverbrauch und mit ständig steigender Belastung der Biosphäre verbunden. Dieser Fortschritt geht unwiderruflich zu Ende (…) Wir geben den Fortschrittsgedanken nicht auf, aber die Verwirklichung von Freiheit, Emanzipation und Wohlfahrt erfordert heute neue Wege. Es muss zu einer neuen Phase der Aufklärung kommen, um die Naturvergessenheit zu beenden und mit dem Irrglauben des grenzenlosen und undifferenzierten Wachstums zu brechen.« Es wäre in der Tat ein dramatischer Rückschritt, wenn der Vertrag mit dem Mercosur in der gegenwärtig erkennbaren Grundrichtung angenommen würde.
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