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Rolf Zimmermanns Buch über Friedrich Nietzsche und Thomas Mann Mit dem Übermenschen zur Republik?

Friedrich Nietzsche (1844–1900) war in seiner Wortwahl selten zimperlich. Wenn er den »Untergang der Mißrathenen, Schwachen, Degenerierten« prophezeite, ging er mit dem Christentum heftig ins Gericht: »Die ächte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung. Sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht.« Und weil sich Christen für Schwache und Entrechtete einsetzen, urteilte er, es sei »unanständig, heute Christ zu sein« und weiter: »Das Christentum war bisher das größte Unglück der Menschheit« (Der Antichrist).

Berüchtigt sind aus seinem Werk weitere Schlagworte: So schreibt er von Herren- und Übermenschen, Herren- und Sklavenmoral, von notwendigen Kriegen zur Auslese der Besten und – vielleicht das griffigste Schlagwort – vom Willen zur Macht, der das Zusammenleben von Mensch und Gesellschaften präge.

Nietzsche hat immer polarisiert. Nur zu gerne griffen totalitäre Bewegungen seine Lehre zur Legitimierung eigener Ziele auf, vor allem der Nationalsozialismus, aber auch der Bolschewismus, etwa wenn Leo Trotzki den »Übermenschen« als Leitbild für den neuen sowjetischen Menschen propagierte. Auf der anderen Seite sahen seine Befürworter in dieser Radikalität (Nietzsche sagte von sich selbst, er sei »radikal bis zum Erbrechen«) gerade den Ansporn, nicht in Lethargie zu verfallen, sondern für Staat und Gesellschaft Außerordentliches zu leisten.

Thomas Mann (1875–1955) hat sich zeitlebens mit Nietzsche befasst und dessen widersprüchliches Werk überwiegend positiv gesehen. Er habe sich ihm sogar seelenverwandt gefühlt, schreibt der an der Universität Konstanz lehrende Philosoph Rolf Zimmermann in seiner weit ausholenden Untersuchung über Thomas Manns Wandlung vom Nationalisten im Ersten Weltkrieg zum überzeugten Republikaner schon bald nach Kriegsende. Noch 1918 hatte Thomas Mann seine mehrere 100 Seiten umfassenden Betrachtungen eines Unpolitischen veröffentlicht, worin er sich der aggressiven Hervorhebung Deutschlands als singulärer Kulturnation anschloss (worüber es zum Zerwürfnis mit seinem Bruder Heinrich kam). Vier Jahre später, am 13. Oktober 1922, bekannte er sich in einer emphatischen Rede zur Weimarer Reichsverfassung und damit zur Republik. Diese Haltung brachte ihn bald in unversöhnliche Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime, das ihn 1936 ausbürgerte; zu diesem Zeitpunkt lebte Thomas Mann schon nicht mehr in Deutschland, nachdem er sich seit der Machtübernahme Adolf Hitlers in Zürich in einer Art Wartestand eingerichtet hatte.

Zimmermann untersucht Thomas Manns Haltung zu Nietzsche sehr genau und wägt sie kritisch, wobei er sich vor allem auf die großen Essays und weniger auf die Romane stützt, auch wenn die Figur des Adrian Leverkühn, Protagonist des Romans Doktor Faustus, teilweise nach dem Vorbild Nietzsches angelegt ist. Nietzsches eingangs genannte Schlagworte verfingen bei Thomas Mann nicht: »Ich nahm nichts wörtlich bei ihm«, schrieb er 1930, »ich glaubte ihm fast nichts. Was war mir seine Machtphilosophie und die ›Blonde Bestie‹? Beinahe eine Verlegenheit.« Aber er fährt fort: »Mein Nietzsche-Erlebnis (…) hat (…) mich widerstandsfähig gemacht gegen alle übel-romantischen Reize, die von einer inhumanen Wertung des Verhältnisses von Leben und Geist ausgehen können und heute so vielfach ausgehen.«

Was ihn an Nietzsche faszinierte, war vor allem seine Rigorosität in ästhetischen Fragen. Das 1922 abgelegte Bekenntnis zur Republik gründete auch auf der Hoffnung, durch gemeinsame Anstrengung der Eliten eine höhere Kulturstufe zu erreichen. Der »Übermensch«, so interpretiert Zimmermann, wird für Thomas Mann zum Ideal eines neuen Bundes zwischen Erde und Mensch und ist hilfreich bei dem Versuch, sich von problematischen deutschen Traditionen zu lösen; Nietzsches Religionskritik versteht Thomas Mann als Aufforderung zu einer Selbstreinigung der Religionen hin zu neuer Humanität. Er findet bei Nietzsche den Impetus einer neuen Hochkultur, die nicht nur für die Weimarer Republik, sondern für jede Republik essenziell ist.

Auch im Exil – im Februar 1938 war Thomas Mann mit seiner Familie in die USA emigriert, 1944 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft – hat Nietzsche ihn nicht losgelassen. Ihn beschäftigte besonders die Frage, ob er als ideeller Vorläufer der faschistischen Bewegungen zu betrachten sei, was damals einer weitverbreiteten Meinung entsprach, als »Zerstörer der Vernunft«, als den ihn Georg Lukács bezeichnete. Thomas Mann sah es »im Lichte der Erfahrung« anders und fast umgekehrt: Nietzsche habe die »fascistische Epoche eher antizipierend« vorausgeahnt; nicht er habe den Faschismus gemacht, »sondern der Fascismus ihn«. Es ist der berühmte Essay Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung von 1947, in dem es an dieser Stelle weiter heißt: »Als sensibelstes Ausdrucks- und Registrierinstrument hat er mit seinem Macht-Philosophem den heraufsteigenden Imperialismus vorempfunden und die fascistische Epoche des Abendlandes (…) als zitternde Nadel angekündigt.«

Für die Leserschaft überraschend konzentriert sich der Autor im letzten Drittel seines Buches fast nur noch auf Nietzsche und dessen Ehrenrettung. Zimmermann sieht ihn als einen in der Tradition der Aufklärung stehenden Kulturkritiker. Er versucht aus seinem Werk herauszufiltern, was der Stärkung republikanischer Staatsformen und Haltungen dienlich sein könnte. Den »Übermenschen« versteht er eher als »Ausnahmemenschen«, der exemplarisch hohe Qualitätsansprüche erfüllen muss: »Die Komplexität, mit der eine europäische Zukunft auf verschiedenen Ebenen behaftet ist, unterstreicht die Qualitätsanforderung, der insbesondere die politischen Führungen der europäischen Demokratien zu genügen haben.«

Zimmermann hat sein gedankenreiches Buch leserfreundlich angelegt. Jedes der acht Kapitel beginnt mit einer Einleitung, in der die folgenden Schritte genau benannt werden, und meist schließt eine Zusammenfassung die jeweiligen Überlegungen ab. Der Versuch, Nietzsche für die heutige Situation von Republik und Demokratie in Dienst zu nehmen und seine Nützlichkeit aufzuzeigen, wird nicht auf ungeteilten Beifall stoßen, denn er ist und bleibt ein Denker, der in viele und auch gegensätzliche Richtungen wirkt. Viel hängt davon ab, an welchen Nietzsche man sich dabei hält: den Kulturkritiker oder den Metaphysiker, den Moralphilosophen oder den Denker der »Ewigen Wiederkehr des Gleichen«, den scharfsinnigen Psychologen oder den »Umwerter aller Werte«, an den frühen, den mittleren oder den späten Nietzsche, auch wenn sich diese Phasen bei ihm nicht einfach trennen lassen. Zimmermanns Buch wirft Fragen auf, die weiteres Nachdenken erfordern, und er hilft dabei Antworten zu finden. Und mit Thomas Mann hat er sich bei der Würdigung des umstrittenen Philosophen einen guten Gewährsmann geholt.

Rolf Zimmermann: Ankommen in der Republik. Thomas Mann, Nietzsche und die Demokratie. Karl Alber, Freiburg 2017, 352 S., 29 €.

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