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Vor 100 Jahren wurde Walter Jens geboren – welche Spuren hat er hinterlassen? Mit der Macht der Worte

Es waren unruhige Zeiten, in die Walter Jens am 8. März 1923 hineingeboren wurde: Das Ruhrgebiet wird von französischen und belgischen Soldaten besetzt, in München versucht Hitler, sich an die Macht zu putschen, die Inflation galoppiert und die Menschen tragen ihr wertloses Geld in Wäschekörben umher. Ein Start im Ungewissen und mit unsicheren Aussichten, zumal Jens kränklich ist und ihn Asthmaanfälle schon als kleines Kind plagen.

Vielleicht war das aber der Glücksfall seines Lebens, weil die Krankheit ihn zu den Büchern und an den Schreibtisch treibt und vor dem Wehrdienst bewahrt, so dass er ohne allzu große Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus davonkommt, auch wenn die 2003 entbrannte Diskussion um seine NSDAP-Mitgliedschaft Fragen unbeantwortet lässt. Jedenfalls war die Ausgangslage so, dass Walter Jens nach 1945 die Rolle eines kritischen Intellektuellen glaubhaft verkörpern konnte.

Mit dem Engagement in der Gruppe 47 begann sein Aufstieg und Jens wurde an der Seite von Heinrich Böll und Günter Grass, Ilse Aichinger und Marcel Reich-Ranicki zu einer öffentlichen Figur. Walter Jens, der als Asthmatiker oft um Luft ringen musste, mauserte sich zum Vorzeigeredner der Bonner Republik. Er sprach, wenn der Deutsche Fußballbund sein 75. Jubiläum feierte, nutzte die Macht der Worte auf Kirchentagen und Friedensmärschen, sprach zum 100. Geburtstag von Thomas Mann in Lübeck oder beim Jahrestag der öffentlichen Nahverkehrsbetriebe.

Walter Jens war Schriftsteller und Kritiker, Professor und Aktivist und fand bald seine Themen: die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, radikale Demokratie, Frieden, die christliche Religion. Sein Medium war dabei die Rede, als Redner nahm er Einfluss auf viele Debatten der Bonner Republik, gestaltete als Präsident der Akademie der Künste das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten nach 1989 mit.

Wenn Walter Jens in Tübingen auftrat, so war das stets ein Ereignis in der Stadt. Bei seinen Vorträgen im Studium generale schien die ganze Stadt auf den Beinen zu sein, der Kupferbau der Universität platzte aus allen Nähten und die zwei größten Hörsäle dort füllten sich im Nu. Lange harrte man aus, bis Jens erschien, sich den Weg durch die Massen bahnte, Freunden und Bekannten zuwinkte und endlich ans Rednerpult trat.

Meist begann er scherzend, wies etwa mit Blick auf die auf dem Boden ausharrenden Studierenden darauf hin, dass vorne neben dem Rednerpult noch ein Stuhl frei sei. Die Zuhörer schienen sofort in seinen Bann gezogen. An diesem Schauspiel änderte sich wenig bis zu den letzten Auftritten von Jens. Dabei war es fordernd, vielleicht sogar für viele eine Überforderung, seinen Gedankengängen zu folgen, aber man konnte sich diesem furiosen Bildungs- und Gedankenfeuerwerk kaum entziehen.

Jens brachte lange, komplexe Sätze zum Klingen, schien unendlich belesen, und auf eine unerklärliche Weise war man berührt, inspiriert, fasziniert von diesem Redner – und dies eben nicht nur in Tübingen, sondern an vielen Orten, an denen er auftrat. Jens war ein Event und er hatte das Potenzial solcher Ereignisse früh verstanden. Heutige Kommunikationsevents wie die Falling Walls, die TED Talks oder auch die re:publica stehen durchaus in dieser Tradition und zeigen, wie die geschickte Inszenierung von Rednern, die Personalisierung und die konsequente mediale Vor- und Nachbereitung von Auftritten Interesse für wissenschaftliche Themen wecken können. Jens ist diesen Weg als einer der ersten Wissenschaftler gegangen.

Von heute aus gesehen, war Jens freilich ein Redner in einer anderen Zeit, einer Zeit, in der man noch ausformulierte Texte verlas, ohne Präsentationen und PowerPoint-Präsentationen auftrat. Jens lebte in einer Zeit, in der Schriftsteller und Intellektuelle noch eine wirkliche Orientierungsfunktion hatten und das Feuilleton ein zentraler Teil einer Zeitung war. Jens hat mal für Marcel Reich-Ranicki das Sonnensystem der Bundesrepublik auf ein Blatt Papier gezeichnet, um Marcel und das FAZ-Feuilleton kreisten dort die BRD und die Welt – eine vergangene Zeit.

Walter Jens hielt Vorlesungen und Vorträge zur Literatur und Antike im Fernsehen, wie sie heute in der Welt von Twitter und Instagram bei keinem Sender mehr Platz hätten. Und doch, wie er dabei für Minderheiten eintrat, für unterdrückte Meinungen und den Frieden – das ist heute aktueller denn je, auch wenn die Welt unübersichtlicher geworden ist und wir uns etwa mit Blick auf den Ukraine-Krieg schwertun mit pazifistischen Positionen. Vielleicht fehlt uns hier ein Walter Jens, der die Fahne des Friedens hochhält.

Die Aktualität der Rhetorik

Wenn man heute fragt, was von Walter Jens geblieben ist, dann ist es auch das von ihm und für ihn gegründete Institut, das Seminar für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen, das immer noch Deutschlands einziges universitäres Forschungsinstitut zur Rhetorik ist. Der Name Walter Jens steht für die Wiederentdeckung und Rehabilitierung der Rhetorik als wissenschaftliche Disziplin in Deutschland, nachdem diese durch die nationalsozialistische Propaganda und die schreienden Reden der Nazis arg in Verruf geraten war. Die Tübinger Rhetorik war dabei zunächst nur ein kleines Institut mit wenigen Studierenden, ganz auf Jens zugeschnitten, sehr literarisch ausgerichtet, aber mancher Schriftsteller und Journalist ist daraus hervorgegangen.

Unter seinen Nachfolgern entwickelte sich die zarte Pflanze weiter, etwa mit der philologischen Großtat von Gert Ueding, der das europäische Wissen zur Rhetorik in einem elfbändigen Historischen Wörterbuch gesammelt hat, zu dem Walter Jens selbst den Grundstein gelegt hatte. Danach ging vom Institut unter Joachim Knape ein theoretischer Impuls zur Fundierung der Rhetorik aus.

Heute ist das Thema Wissenschaftskommunikation in den Fokus der Rhetorik gerückt und das Institut versteht sich in Anlehnung an Jens auch wieder stärker als ein politisches Institut, an dem aktuelle Themen wie Klimawandel und Coronakrise, Polarisierung, Populismus und Künstliche Intelligenz erforscht und verhandelt werden.

Öffentlich Position zu beziehen, wie man es von Jens lernen konnte, ist der Wissenschaft in einer Zeit von Krisen und gesellschaftlichen Herausforderungen wiederum aufgegeben – hier wirkt der Auftrag von Jens auch heute wieder als Verpflichtung. Rhetorik als critical rhetoric würde man das heute in der US-amerikanischen Rhetorikforschung nennen – Jens war für dieses Selbstverständnis des Faches ohne Zweifel ein Wegbereiter.

Oft sind seine Reden weniger Überzeugungsversuche, die auf den Wechsel der Einstellung der Zuhörer in eine bestimmte vom Redner festgelegte Richtung zielen, als vielmehr Denkanstöße, um verbreitete Vorurteile und Meinungen in Bewegung zu bringen, ohne das Ziel der Denkbewegung klar vorzugeben. Die Reden von Jens sind daher auch nicht frei von Widersprüchen, typisch ist eher ein »So könnte es sein.« als ein bestimmtes und über alle Zweifel erhabenes »So ist es!«.

Jens dachte, einem Prinzip der sophistischen Rhetorik folgend, in jedwede Richtung, argumentierte allzu gern das Für und Wider. Zwar gab es einige Prinzipien (Humanität, Pazifismus, eine radikal demokratische Gesinnung), die nicht infrage standen und die schon der junge Jens in seinem berühmten Vortrag »Von deutscher Rede« einforderte, wenn er es als Aufgabe der Rhetorik definierte, »mithilfe der situationsbezogenen Agitation die Humanität« zu befördern, aber innerhalb dieses Koordinatensystems der Werte war viel Raum für gedankliche Experimente, Zweifel und kritische Rückfragen.

Das wissenschaftliche Programm von Walter Jens für die Rhetorik ist politisch aufgeladen. Dabei ließ er viel Raum für bloß wahrscheinliche Argumente, den offenen Diskurs, der Möglichkeiten umschreibt, aber keine Lösungen vorgibt. Damit hat Jens auch Ansätze einer einladenden Rhetorik (invitational rhetoric), vorweggenommen, argumentierte vielstimmig und ließ verschiedene Sichtweisen zu. Für Jens war die geöffnete Hand das Symbol der Rhetorik und seine komplexe Kunstprosa, die Möglichkeiten entwirft, öffnet die Hand sehr weit, fordert den Adressaten zur eigenen Meinung heraus.

Gedankliche Offenheit statt empirischer Überprüfbarkeit

Das ist eine andere Art zu reden als die Redeweise der Naturwissenschaften, die heute auch die öffentliche Meinung dominiert, die auf stringente Beweise, sorgfältig gestützte und argumentativ vielfach abgesicherte Thesen aus ist, die jederzeit empirisch überprüft und widerlegt werden können. Jens blieb demgegenüber auch als Redner Literat, propagierte gedankliche Offenheit statt empirischer Überprüfbarkeit.

Walter Jens, der neue Medien eher suchte als mied, scheint auch verstanden zu haben, dass das Fernsehen den Übergang in eine visuelle Kultur beförderte, daher setzte er auf Anschaulichkeit, um seine Position zu verdeutlichen und die Adressaten auf eine emotionale Weise anzusprechen. So beginnt eine Rede zum Golfkrieg im Jahr 1991 unter dem Titel »Wider die Schwarz-Weiß-Malerei« mit der Schilderung von Szenen aus türkischen Gefängnissen, die auf emotionale Weise zeigen sollten, dass die Trennung zwischen Gut und Böse, zwischen den vermeintlich guten türkischen Verbündeten und den vermeintlich bösen Irakern aufzuheben sei.

Jens spricht von »Schriftsteller[n] und Journalisten, die in türkischen Gefängnissen gequält werden – Elektroschocks, nasse Kleider, Schläge, sadistische Behandlung von Kranken (ein Asthmatiker wird in eine feuchte und lichtlose Zelle gesperrt), psychische Entwürdigung«, um durch die anschauliche Darstellung das räumlich Entfernte in das Bewusstsein der Adressaten zu holen. Gleichwohl ist die evidente Darstellung bei Jens kein Mittel, um Texte auf eine Linie zu bringen, eindimensional eine einzelne Sichtweise als einzig mögliche Sicht zu präsentieren, das lag Jens stets fern.

Jens hat viele »Geistesgespräche« verfasst, wie er das nannte, fiktive Dialoge berühmter oder vergessener Menschen, die ein spannender Versuch sind, komplexe Zusammenhänge in evidenter Weise darzustellen. Gedanken lebendig und plastisch werden zu lassen, eine Vielzahl von Positionen darzustellen, das war eines seiner wichtigen Ziele, wodurch er viele Beispiele für eine einladende Rhetorik geliefert hat.

Mit erzählerischen Elementen, die man in der heutigen Rhetorikforschung als einen Weg sehen würde, um eine gesellschaftliche Polarisierung zu vermeiden, hat Jens jedenfalls schon früh experimentiert. Für ihn war Wissenschaft stets Teil der Gesellschaft, kein abgesonderter Raum für zurückgezogene Forscher und Denker im Elfenbeinturm. Daher kam auch sein Drang, über den engen Kreis der Wissenschaft hinaus zu wirken, daraus erwuchs sein Bestreben, im Feuilleton wie in der Fernsehtalkshow, als Schriftsteller wie als Fußballfan der Vernunft eine Stimme zu geben. Von Jens kann man auch heute noch einiges lernen.

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