Wo ist eigentlich der Klassenkampf geblieben? Soziale Klassen waren noch vor einer Generation wichtige Begriffe und Voraussetzungen einer erfolgversprechenden Gesellschaftsanalyse. Heute gründet kaum noch jemand Versuche, die Welt zu verstehen allein auf den Begriff der Klasse. Was ist an seine Stelle getreten? Identität ist da ein guter Kandidat. Im politischen Diskurs hat der Begriff in den letzten Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten einen spektakulären Aufschwung erlebt, ist von dort aber auch in andere westliche Demokratien übergeschwappt, was zu einer unüberschaubaren Masse von Publikationen geführt hat. Nur drei neuere werden hier unter die Lupe genommen.
Identitäten im Plural
Um mit dem einfachsten anzufangen: Transgender-Identitäten. Nicht der Gegenstand ist einfach, im Gegenteil, das kommt schon im Titel zum Ausdruck. Von Identitäten im Plural handelt das Buch. Die Psychologin Alessandra Lemma bietet damit einen Überblick über die existenziellen Umstände von transsexuellen Individuen, von denen die meisten Menschen, die nicht zu dieser Gruppe gehören, wenig wissen, da Transgeschlechtlichkeit bis in die 1990er Jahre stark tabuisiert war. Welche Erkenntnisse gibt es und welche Möglichkeiten, Betroffenen das Leben zu erleichtern und Beistand zu leisten, wenn sie ihn benötigen? Wie können sie sich als Angehörige einer kleinen Minderheit in der Gesellschaft zurechtfinden? Dass es dabei um ihre vom Geschlecht bzw. der sexuellen Orientierung bestimmte Identität geht, ist unkontrovers, aber da derselben erst seit Kurzem öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt wird, muss dieses Buch allen, die mehr darüber erfahren wollen, willkommen sein.
»Komplexes Zusammenspiel körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren.«
Lemmas wichtigste Botschaft betrifft die Heterogenität von Transgeschlechtlichkeit. Dass es, um unser Weltbild zurechtzurücken, die herkömmlichen Vorstellungen von männlich und weiblich lediglich um eine weitere Kategorie, trans, zu erweitern gilt, ist eine irreführende Vereinfachung, da es hier um ein komplexes Zusammenspiel körperlicher, psychischer und sozialer Faktoren geht, das praktisch bei jedem Individuum andere Formen annimmt. Lemmas Betonung dieser Komplexität beruht auf ihren Erfahrungen als Psychiaterin, nicht auf einem politischen Ausgangspunkt. Sie verwendet den Begriff Identität, wie gesagt im Plural, weil er sich als Bezeichnung für das Selbst und die Probleme, die man damit haben kann, durchgesetzt hat, konzentriert sich aber auf »die Entwicklung eines kohärenten, fest im Körper verwurzelten Selbstgefühls.« In diesem Sinne ist ihr Buch einfach. Dass sie immer wieder die Heterogenität des Phänomens betont, unterscheidet sie von vielen, die über Identität reden.
Politischer Blick auf geschlechtliche Identität
Geschlechtliche Identität spielt auch für die Autoren der beiden anderen Bücher eine wichtige Rolle, aber sie sind von anderer Art, sie sind politisch. Der eine warnt vor einer gefährlichen Idee, der andere singt eine Lobeshymne darauf. Gemein ist beiden, dass sie die Welt verbessern wollen. Für Karsten Schubert ist das Beharren auf Identität die einzige Chance »die Demokratie zu demokratisieren«, will sagen, dem uneingelösten Gleichheitsversprechen der Aufklärung näherzubringen. Yasha Mounk betrachtet Identitätspolitik demgegenüber als gefährliche Bedrohung eben dieses Ideals und der Bereitschaft, die Möglichkeit der Verständigung über Gruppengrenzen hinweg zu akzeptieren.
Identität ist ein ideologischer Kampfbegriff, an dem sich die Geister scheiden, was sich auch daran zeigt, dass seine Genealogie oft nicht genügend reflektiert wird. Seine Verwurzelung in der amerikanischen Geschichte ist bei Mounk glasklar, bei Schubert nicht. Beide verweisen bei der Aufarbeitung der Ursprünge sozialer und politischer Identitätstheorien auf Michel Foucault, aber nur Mounk diskutiert die letztlich ausschlaggebenden Arbeiten ausschließlich amerikanischer Wissenschaftler und Aktivisten.
Verringert Identitätspolitik Diskriminierung?
Identitätspolitik ist attraktiv, weil Menschen in Gesellschaften, die sich nach Verfassung und herrschender Meinung zur Gleichheit aller Bürger bekennen, immer noch aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht und sexueller Orientierung, Religion und manchmal anderer Merkmale diskriminiert, ausgebeutet und unterdrückt werden.
Diskriminierung zu verringern, ist ein hehres politisches Ziel. Ist Identitätspolitik der beste Weg dorthin? Schubert glaubt das, wobei er sich allerdings hauptsächlich an amerikanischer Literatur orientiert. Ob bzw. in wie weit die für europäische oder deutsche Verhältnisse relevant ist, beschäftigt ihn kaum. Seine Erörterung bleibt im Wesentlichen theoretisch. Da Diskriminierung immer von den bestehenden Machtverhältnissen abhängt, ändern sich mit denselben auch die ausgegrenzten Identitäten, was für Schubert vermutlich der Grund ist, den Identitätsbegriff gar nicht zu definieren. Er stellt keine Überlegungen darüber an, ob bzw. inwieweit die in der amerikanischen Gesellschaft, wo Klassengegensätze seit der Staatsgründung stärker als in Europa von Rassendiskriminierung überlagert wurden, entstandene Ideologie auf europäische Gesellschaften übertragbar ist.
Mit den jeweils bestehenden Machtverhältnissen ändern sich auch die ausgegrenzten Identitäten.
Mounk kritisiert die neue Ideologie, weil ihr gemäß die ganze Welt durch das Prisma simplistischer Identitätskategorien zu erfassen ist. Gründlicher noch als Schubert zeichnet er die geistesgeschichtliche Entwicklung der Identitätspolitik unter dem dreifachen Einfluss der Postmoderne, des Postkolonialismus und der Critical Race Theory seit den 1960er und 70er Jahren nach und zeigt, wie sie zur Verbreitung identitätssensibler Maßnahmen in amerikanischen Schulen, Universitäten, öffentlichen Verwaltungen und Firmen geführt hat. Die Ironie ist, dass in seinem Buch selbst die Argumente pro Identitätspolitik, die er ablehnt, prägnanter dargestellt werden als bei Schubert, der sie befürwortet.
Das Paradox der Gruppengerechtigkeit
Mehr Gleichheit und Abbau von Diskriminierung kann nur durch Gruppengerechtigkeit (englisch: equity) erreicht werden, sagen die Befürworter, nur durch individuelle Gleichheit (equality), die Gegner der Identitätspolitik. Das Paradox der Gruppengerechtigkeit, erklärt Mounk, ist, dass die fraglichen Gruppen einerseits vage abgegrenzt und schwer definierbar sind und ihre Essenzialisierung andererseits nicht nur Individuen auf ein Merkmal – schwarz, queer, asiatischer Herkunft – reduziert, sondern den für demokratisches Regieren unverzichtbaren Anspruch auf Gleichheit und Freiheit untergräbt. Rassentrennung wird heute in vielen amerikanischen Institutionen im Namen der Kultivierung von Identitäten praktiziert, was der Erreichung des Ziels von mehr Gleichheit im Weg steht.
Ohne Rassismus, Sexismus und andere Formen der Diskriminierung zu leugnen, plädiert Mounk für Universalismus und dafür, im politischen Handeln die Gemeinsamkeiten der Menschen über ihre Unterschiede zu stellen. Er tut dies, indem er mit einer Fülle konkreter Beispiele zeigt, was für absurde und schädliche Folgen identitätssensible Maßnahmen haben.
Plädoyer für Universalismus: im politischen Handeln die Gemeinsamkeiten der Menschen über ihre Unterschiede zu stellen.
Rassisten schufen Rassen, nicht umgekehrt. Deshalb ist es vielleicht gut gemeint aber kontraproduktiv Vorschulklassen und Studentenwohnheime, wie vom »progressiven Separatismus« der Identitätspolitiker verlangt, nach »Rassen« zu trennen. Warum sollte es Kindern verboten werden, bei einem Schulfest nigerianische Kleidung zu tragen, weil sie weiß sind und das deshalb einer illegitimen »kulturellen Aneignung« gleichkomme?
Ist Identitätspolitik links oder rechts? Die bedrückende Antwort ist: das kommt darauf an. Ursprünglich sahen viele Linke darin ein effektives Mittel, benachteiligte Gruppen dabei zu unterstützen, stolz auf ihre Identität zu sein: Black is beautiful! Letztlich führte das aber dazu, die von den Unterdrückern bestimmten Kategorien zu akzeptieren und festzuschreiben. Die Linke, kritisiert Mounk, »übernahm allmählich eine Vision der Zukunft, in der die Gesellschaft dauerhaft durch ihre Aufteilung in voneinander abgegrenzte Identitätsgruppen geprägt sein würde.«
»Ist Identitätspolitik links oder rechts? Es kommt darauf an.«
Mounk und Schubert sind sich einig, dass die politischen Ideale der Aufklärung, insbesondere das der Gleichheit, nicht erfüllt sind. Während letzterer die Auffassung vertritt, »dass es sich bei Identitätspolitik um emanzipative Normsetzung« handelt, die der Realisierung linker Ziele dient, erkennt ersterer in ihr eine Fehlentwicklung, die den Fortschritt zu mehr Gleichheit durch die traditionell eher von Rechten betriebene Fragmentierung der Gesellschaft behindert.
Rückbesinnung auf den klassischen Humanismus
Linke, sagt Mounk, sollten sich des klassischen Humanismus entsinnen und Menschen als Menschen betrachten und nicht als Schwarze und Weiße, Frauen und Männer und LGBTQs.« Das genügt zwar nicht, um in den (westlichen) Gesellschaften bestehende Ungerechtigkeiten zu überwinden, aber er darf auch nicht aufgegeben werden. Wir sind alle gleich als Menschen geboren. Das braucht uns nicht blind für Unterschiede zu machen. Entscheidend ist nur, ob Gemeinsamkeiten – Gleichheit – oder Unterschiede – Gruppengerechtigkeit – die politischen Leitlinien bestimmen sollen.
Der Gegensatz zwischen beiden hat einen erkenntnistheoretischen Aspekt, den auch Lemma in ihrem Buch anspricht. Ist Verständigung vor dem Hintergrund von Diskriminierung, Herabwürdigung und Ausbeutung, die die einen erleiden, die anderen aber nicht, möglich? Lemma bejaht das und hebt hervor, wie wichtig die Anerkennung der Heterogenität aller Gruppen ist – in ihrem Fall der Transgender-Personen. Die vereinheitlichende Kontrolle des Diskurses, warnt sie, nämlich durch politische Korrektheit, wie die Identitätsfundis sie wünschen, »birgt die Gefahr, dass das Denken verkümmert und sich Vorurteile verfestigen.«
Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität. Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 512 S., 28 €.
Karsten Schubert: Lob der Identitätspolitik. C. H. Beck, München 2024, 223 S., 20 €.
Alessandra Lemma: Transgender Identitäten. Eine Einführung. Brandes & Apsel, Frankfurt/M. 2024, 184 S., 24,90 €.
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