Als Bundeskanzler Olaf Scholz am 6. November 2024 Christian Lindner entließ und die Koalition beendete, musste auch ich meine eigenen roten Linien neu überdenken. Bin ich bereit, trotz Bedrohungen gegen meine Familie erneut für den Bundestag zu kandidieren? 2021 gewann ich mein Mandat mit nur 1,9 Prozent Vorsprung vor der AfD. Schon als Kandidatin erhielt ich Drohbriefe. Ich kenne meinen Wahlkreis – als gebürtige Cottbuserin habe ich die Baseballschlägerjahre der 90er miterlebt. In meiner Arbeit als Abgeordnete sehe ich, wie sich die Grenzen des Sagbaren verschieben. Das ist Teil der Strategie der extremen Rechten.
Zuhören statt Abblocken
Auf meiner jährlichen Zuhör-Tour – zu Fuß mehr als 500 Kilometer durch jeden Ort meines Wahlkreises – treffe ich viele Menschen, die offen reden, oft Dinge sagen, die sie in anderem Umfeld nicht äußern würden. Manchmal trennen uns Glastüren: Wir hören einander, erreichen uns aber nicht. Ich gehe mit der Haltung in jedes Gespräch, dass mein Gegenüber recht haben könnte. Meine roten Linien sind dabei großzügig. Ich versuche den Dreiklang: inhaltlich zu verstehen und persönlich Verständnis aufzubringen, auch wenn ich nicht einverstanden bin.
Zum Beispiel fürchtete ein Mann, dass ihm seine »Schwalbe« gestohlen wird, wie zuvor seinem Nachbarn, und verdächtigte »die Ausländer«. Ich verstand seine Angst und hatte Verständnis für seine Trauer, da der Motorroller ein Andenken an seine verstorbene Frau war. Aber ich widersprach seiner pauschalen Schuldzuweisung gegenüber Ausländern – und er verstand meinen Punkt, dass das Problem Kriminelle sind und nicht »die Ausländer«.
Vor Kurzem fragte mich ein Freund, der nun AfD wählt, was die SPD eigentlich für Missstände zu verantworten hätte. Er war emotional aufgebracht und ich sah, dass er körperlich litt unter seiner Wut. Als er mich und meine Partei »widerlich« nannte, wurde klar: Die AfD trägt Verantwortung dafür, dass Freundschaften, Familien und Nachbarschaften zerbrechen. Genau das ist ihr Ziel: Zwietracht. Damit sie damit nicht Erfolg hat, sind meine roten Linien in solchen Gesprächen nicht starr. Die extreme Rechte verschiebt gezielt die Grenzen des Anstands. Das dürfen wir ihren Funktionsträger:innen nicht durchgehen lassen. Gleichzeitig gibt es Menschen ohne geschlossenes rechtsextremes Weltbild, die im Graubereich stehen. Diese will ich erreichen.
Aus Worten werden Taten
Ich habe keine Angst vor Auseinandersetzungen. Als Fußballschiedsrichterin bin ich durchaus vertraut mit dem Gefühl, unpopuläre Entscheidungen treffen zu müssen und trotz lautstarker Proteste nicht einzuknicken. Auch Kritik an Politik und Politiker:innen ist nicht nur normal, sondern in unserer Demokratie legitim. Es kommt auf die Form an. Die Gespräche auf der Zuhör-Tour beginnen oft laut und beinhalten vieles, das die roten Linien des Sagbaren überschreitet: Rassismus, Antisemitismus, Verschwörungstheorien – alles dabei. Mitglieder der Ampelregierung, insbesondere der Grünen, wurden in solchen Gesprächen mit Ausdrücken belegt, die die extreme Rechte geprägt hat, die weit über jegliches Maß des Anstands hinausgehen und die das Ziel haben, diese Politiker:innen zu entmenschlichen. Warum ist das so gefährlich?
Wenn im Deutschen Bundestag gewählte Abgeordnete gezielt den Diskurs verschieben, Menschengruppen entmenschlichen, immer wieder behaupten, man dürfe nichts mehr sagen in diesem Land und wir lebten in einer Diktatur, dann führt das bei den einen zu Unverständnis. Kein Abgeordneter wird nach so einer Rede abgeführt, und überall im Land sind Demonstrationen legal. Andere glauben es vielleicht und werden wütend. Und wieder andere glauben es nicht nur, sondern leiten daraus ab, dass es ein gerechter Kampf sei, gegen diese vermeintliche Diktatur zu kämpfen. Aus Worten werden dann Taten. Als Politikerin wurde ich mehrfach angegriffen und meine Kinder wurden bedroht.
»Ich ziehe rote Linien, wenn meine eigenen verbal überschritten werden.«
Matthias Ecke, SPD-Europaabgeordneter aus Sachsen, wurde brutal krankenhausreif geschlagen. Der CDU-Regierungspräsident aus Kassel, Walter Lübcke, wurde erschossen. 42.788 politisch motivierte Straftaten – mehr als die Hälfte der insgesamt 84.172 Delikte im Jahr 2024 – sind dem Phänomenbereich politisch motivierte Kriminalität rechts zuzuordnen. Darum ziehe ich unterschiedlich konsequent rote Linien, wenn meine eigenen verbal überschritten werden. Während ich dieses Verhalten bei Funktionsträger:innen der extremen Rechten nicht akzeptiere, bin ich bei Bürger:innen meines Wahlkreises, bei Familie und Freunden schon eher großzügiger und setze damit einer anderen Strategie der extremen Rechten etwas entgegen.
Das Dilemma der demokratischen Parteien
Gezielte Grenzüberschreitungen und gezielte Spaltung: Aus diesen beiden Strategien der extremen Rechten ergibt sich für demokratische Kräfte ein Dilemma. Was ist, wenn das Ziehen roter Linien mir zwar die moralische Überlegenheit in Einzelfragen sichert, in der Konsequenz aber gravierende negative langfristige Folgen für die Demokratie hat? Die extreme Rechte erklärt mittlerweile schon sehr offen, dass es ihr Ziel ist, demokratische Kräfte zu spalten, um demokratische Mehrheiten mittelfristig zu verunmöglichen. Darum treiben sie die Konservativen in ihre Richtung, um die Koalitionsfähigkeit der Union mit den anderen demokratischen Kräften zu schwächen. Einen Teil des Weges kann zum Beispiel die SPD noch mitgehen, um demokratische Mehrheiten sicherzustellen, nicht jedoch ohne ihre eigene Integrität massiv zu gefährden.
Darum möchte ich zur Diskussion stellen, was wichtiger ist: moralisch das Richtige tun oder wäre es richtig, auch hier unterschiedlich konsequent rote Linien zu ziehen und zu halten, also etwa entgegen eigener Überzeugungen mit der Union zu stimmen (Aussetzung Familiennachzug, Kürzungen beim Bürgergeld), um die demokratischen Mehrheiten zu sichern. Das Dilemma besteht darin, dass auch der politische Rechtsruck, das Überschreiten der eigenen roten Linien durch die demokratischen Kräfte, ein Ziel der Strategie der extremen Rechten ist.
Appell an die Union und die demokratische Verantwortung
Ich versuche, meine Verantwortung wahrzunehmen und werbe in meiner Partei für einen konsequenten Kurs gegenüber der extremen Rechten. Aber ich habe zwei Wünsche:
Den ersten an progressive Kritiker:innen: Als die SPD zusammen mit der Union die Aussetzung des Familiennachzugs beschloss, habe ich dagegen gestimmt. Kolleg:innen, die aus Verantwortung für die Stabilität der Koalition anders abstimmten, wurden massiv angefeindet – besonders Frauen mit Migrationshintergrund. Das ist nicht zielführend.
»Gegen Demokratiefeinde braucht es ein Bollwerk, eine stabile Brandmauer.«
Den zweiten an die Union: Ich sehe vor allem die Konservativen in der Verantwortung, die Strategien der extremen Rechten zu erkennen und zu verstehen. Die Auflösung des Dilemmas kann nur darin bestehen, den Mut aufzubringen, die extreme Rechte mit allen Mitteln zu bekämpfen, statt deren Themen, deren Forderungen zu übernehmen, zudem wenn es (wie bei der Aussetzung des Familiennachzugs) nur grausame »Symbolpolitik« ist. Es bedarf eines konsequenten Bekämpfens verfassungsfeindlicher Parteien. Dazu verpflichtet uns auch das Grundgesetz mit Artikel 21, dem entsprechend nur das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit einer Partei überprüfen kann.
Das höchste Gericht unseres Landes kann aber nicht allein tätig werden und braucht den Antrag von Bundestag, Bundesrat oder Bundesregierung. Dieser Antrag sollte so schnell wie möglich auf den Weg gebracht werden, weil wir den Auftrag haben, für die Menschen in unserem Land sicherzustellen, dass keine verfassungswidrigen Parteien die Geschicke unseres Landes mitbestimmen. Der AfD, die sich nicht nur im Bundestag gern als einzige demokratische Partei bezeichnet, rufe ich zu: Welche demokratische Partei fürchtet die Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit durch das höchste Gericht unseres Landes? Dass die AfD sich fürchtet, spricht Bände.
Vielleicht reichen rote Linien manchmal auch nicht. Gerade in der politischen Auseinandersetzung mit der extremen Rechten, der es nie um Inhalte geht, sondern um Machterhalt und Machtsicherung auf undemokratischem Weg, scheinen mir rote Linien oftmals nicht klar genug. Gegen Demokratiefeinde braucht es ein Bollwerk, eine stabile Brandmauer.


Kommentare (1)
Matthias Alexander Spies
27.10.2025 - 06:48 Uhr