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Nach dem Mitgliederentscheid braucht die SPD Selbstvertrauen und produktive Gemeinsamkeit Mit verletzter Seele

Ja, die SPD will regieren. Das zumindest hat die Mehrheit der Mitglieder klargestellt. Schwer genug haben sie sich damit getan, mühsam genug waren die vorangegangenen Wochen. Nun steht die neue Regierung. Eine Neuwahl des Bundestages und eine erneute sozialdemokratische Führungskrise wurde damit vermieden. Aber was ist positiv erreicht, außer einem Moment des Verschnaufens im Streit um die künftige Strategie? Das Mitgliedervotum der SPD zur Großen Koalition ist ein Beispiel dafür, dass Entscheidung nicht automatisch auch Klärung bedeutet.

Diese Klärung wird anstrengender werden als jedes simple Votum dafür oder dagegen. Es geht in den nächsten Jahren um nicht mehr und nicht weniger als um das Politikkonzept der SPD insgesamt. Es geht darum, was sie bewegen will, wozu sie glaubt da zu sein, wie sie sich die Zukunft vorstellt, für sich selbst und für das Leben im Land. Allgemein: Es geht um den sozialdemokratischen Kern, denn der ist fraglich geworden, die Kontroverse vor dem Mitgliederentscheid hat das schonungslos offengelegt. Unfreiwillig und doch wieder absichtsvoll, je nach Sichtweise.

Da war eine Partei zu besichtigen, die sich selbst kaum noch gut findet, die in chronischer Selbstwertkrise auseinanderläuft, sobald es schwierig wird, und deren Selbstbilder oft ziemlich wenig mit der politischen Realität zu tun haben. Denn welches gängige Ideal einer sozialdemokratischen Rolle man auch immer zugrunde legt: Es unterstellt etwas, das es immer seltener gibt – sowohl stabile, breit verankerte Volksparteien als auch Vertrauen in die gewählten Repräsentanten.

Es gab und gibt in der SPD zwei in sich geschlossene Emotionswelten. Gemeinsam ist ihnen, dass die jeweiligen Anhänger mit respektablen Argumenten der Meinung sind, grundrational zu handeln. Entweder regieren zu wollen und zu müssen, weil nur so der Anspruch auf die Gestaltung des Landes aufrechterhalten werden kann. Oder endlich die Zwänge der Regierungsrolle abzustreifen, weil nur so wieder ein klares Profil möglich sein wird.

Dass am Ende eine Mehrheit der Mitglieder nicht um des Profils willen den Gestaltungsanspruch aufgeben wollte, bedeutet für den Moment erst einmal Stabilität. Einer Partei mit Volksparteianspruch würde es nicht verziehen, wenn sie sich selbst aus dem Spiel nähme. Das ist bei Klientelparteien anders. Aber dann wird es umso alarmierender zu beobachten, welche Faszination dennoch in weiten Teilen der SPD von Haltungen ausgeht, die man als »stur geradeaus« bezeichnen könnte, selbst wenn dort kein Land in Sicht ist. Geradeaus in die Opposition, hauptsache keine Kompromisse mehr und das Dagegensein schweißt neu zusammen.

Wichtig ist jetzt, diese innere Sehnsucht nicht zu verdrängen, denn dann kommt sie bei nächster Gelegenheit wieder zum Vorschein. Dass der Ausstieg aus der Verantwortung in schlechten Zeiten emotional verlockend sein kann, ist ja prinzipiell kein lebensfremder Effekt. Die Attraktivität des No-GroKo-Lagers lässt sich also erklären. Hinzu kommt, dass ein Instrument wie der Mitgliederentscheid das Thema von der (Bundes-)Ebene, auf der es eigentlich auszutragen wäre, wegholte. Das verändert die Gefühlswelt, aus der heraus entschieden wird, erheblich.

Wer in Hessen, Bayern, Berlin oder Nordrhein-Westfalen mit lokalen Bündnissen – nicht selten Großen Koalitionen – viel Stress hat, wer sich zuhause lieber um linke Profilkoalitionen bemüht und zudem auf Landesebene wegen der bundespolitischen GroKo-Verdrossenheit Wahlen verloren hat oder zu verlieren droht, dem ist abzunehmen, dass er (oder sie) sich nicht erneut den bundespolitischen GroKo-Mühlstein umhängen will, welcher zu Hause hinsichtlich der Akzeptanz wahrscheinlich Nachteile bringt. Diese Betrachtung prägt die Gefühle und steht immer häufiger im Kontrast zum gesamtstaatlichen Denken.

Ein Alarmsignal dabei ist, dass in der SPD schon seit vielen Jahren die verbindende Erzählung fehlt. Die tiefe innere Gewissheit, an einem – bis in die Regierungspraxis hinein erkennbaren – gemeinsamen Projekt zu arbeiten und dieses auch benennen zu können. Stattdessen wird gegenseitiges Misstrauen (vor allem zwischen unterschiedlichen Politikebenen) zum innersozialdemokratischen Grundprinzip. Für manch einen wurde das Leiden an der eigenen Partei gefühlsprägend. Schlechte Laune garantiert, Vertrauen unwahrscheinlich.

Andererseits hatte der innerparteiliche Kampf um angepasste oder radikallinke Politik die SPD einst spannend gemacht. Die Chance, in dieser Gesellschaft etwas zum Guten zu verändern, bot sich damals nicht zuletzt aufgrund der Machtkonflikte innerhalb einer SPD, die unbestritten Volkspartei war. Aber diese Voraussetzung gibt es heute so nicht mehr. Anti-Haltung hat kein Gestaltungsziel. Die Gefahr besteht, dass in einer Partei, deren Selbstbilder sich so stark von der Außenwahrnehmung unterscheiden und deren Seele nach vielen Niederlagen und Selbstzweifeln verletzt ist wie selten zuvor, pure Anti-Haltung zusätzlich selbstzerstörend wirkt.

Dieser Blick auf die inneren Zerklüftungen in der SPD ist notwendig, um die Herausforderungen der nächsten Jahre richtig anzugehen. Es wird jetzt nicht nur darum gehen, selbstbewusst die vielen sozialdemokratisch geprägten Details des Koalitionsvertrags umzusetzen, was gegen hinhaltenden Widerstand der konservativen Koalitionspartner alleine bereits eine Mammutaufgabe darstellt, die möglichst viel sozialdemokratische Geschlossenheit erfordert. Es geht ab sofort noch um etwas Zweites, ganz im Sinne einer klassischen Doppelstrategie: Es geht darum, neben der Regierungspraxis und ohne Rücksicht auf die Unionsparteien das neue sozialdemokratische Projekt für die Zukunft zu entwerfen.

Warum neu? Weil einige grundlegende Politikfragen neu sind und die bisherigen Versuche, diese irgendwie unter die alten Überschriften einzuordnen, nicht überzeugen. Die Welt hat sich radikal verändert, etwa das Verhältnis zwischen individueller Freiheit und solidarischer Gemeinsamkeit in der digitalen Welt – bis in die Arbeitsprozesse hinein. Hinzukommen die weltweite Enttabuisierung von Gewalt im Namen nationalistisch-totalitären Denkens, der Kontrollverlust demokratischer Politik in immer komplexeren Strukturen, die unnahbare Ich-Bezogenheit im digitalen System der Meinungsbildung, der bislang schier unumkehrbare Trend zu einer immer ungleicheren Verteilung des Reichtums – national wie international. All das und vieles mehr lässt die bisherige politische Programmatik als kleinteilig und oberflächlich erscheinen.

In der Zeit nach Angela Merkel wird über die Richtung der deutschen Politik neu entschieden werden. Erst dann, aber auch genau dann. Es wird wie immer nach Übergangsphasen eine Entscheidung zwischen einem Weiter-so und einem Aufbruch sein. Das Weiter-so nach einem Generationenwechsel wird in der Union schon vorbereitet. Dort bleiben inhaltliche Ambitionen Beiwerk. Deshalb wird es höchste Zeit zu klären, wie das sozialdemokratische Konzept für den Aufbruch aussehen soll. Und nur eines ist dabei vorab schon klar: Ohne neues Selbstvertrauen, ohne Zutrauen in die eigene Kraft (und die der eigenen Repräsentanten) wird ein solches sozialdemokratisches Konzept bei Wahlen keine Chance mehr haben.

Nun heilen verletzte Seelen durch nichts besser als durch Erfolgserlebnisse. Insofern gibt es eine untrennbare Verknüpfung zwischen der großkoalitionären Tagespolitik, den bevorstehenden Landtags- und Kommunalwahlen und der Arbeit an neuen Perspektiven. Besonders wichtig wird, dass sich alle dieses Zusammenhangs bewusst sind. Auch und vor allem jene Bundespolitiker, die im Koalitionsalltag immer wieder Zielkonflikte mit den Konservativen austragen und darüber Weichen in der sozialdemokratischen Tagespolitik stellen müssen. Genauso aber alle anderen, die lokal oder regional Verantwortung tragen, dabei alltäglich kompromisshafte Politik vertreten – und von der Bundesebene doch am liebsten Kompromisslosigkeit erwarten. Bislang ist es der SPD nur selten gelungen, in bundespolitischen Regierungszeiten gleichzeitig neue Akzente zu setzen. Gerade weil sich Bundespolitiker in ihrem zeitfressenden Politikbetrieb zu schnell auf die Rolle reiner Gegenwartsmanager festlegen lassen. Aber auch, weil die sozialdemokratische Binnenwelt sich immer wieder selbst genug ist. Weil die Routine in Parteigremien und Ortsparlamenten die weniger werdenden Aktiven auffrisst und die alten Vorstellungen davon, was eine stolze SPD zu leisten hätte, mit der Realität einer 20-%-Partei kaum mehr in Einklang zu bringen sind.

»Erneuerung« ist der strapazierteste Begriff in diesem Zusammenhang. Sein Nachteil ist, dass er wie geschaffen zu sein scheint für ein plattes Ja/Nein-Denken in der digitalen Welt. Entweder kommt es zu einer Erneuerung oder nicht. Diese Alternative ist so fatal wie der Verlauf so mancher vorangegangenen sozialdemokratischen Erneuerungsdiskussion. Denn wer mit Absolutheitsanspruch und der Alternative Entweder-oder operiert, plant die nächste Frustration schon bei all denen ein, die mit ihren Ideen unterliegen oder sich doch zumindest so fühlen, weil sie Kompromisse generell leid sind.

Kann man verletzten politischen Seelen guten Gewissens Gelassenheit empfehlen, auch wenn die Meinungsumfragen auf einen Niedergang schließen lassen und sich die Medienwelt geradezu in diesen Negativstimmungen suhlt? In Bezug auf die innerparteilichen Debatten muss man es sogar. Seit dem erneuten Aufstieg von Nationalismus und Rechtspopulismus gibt es genügend gesellschaftliche Felder, in denen entschiedenes Gegenhalten und unbeugsames Bekenntnis nottun. Dort werden Emotionen und Kraft gebraucht – und nicht selten sind Teile der GroKo-Partner (besonders aus der CSU) dabei auf der anderen Seite der großen Konfliktlinie anzutreffen.

Dieser Konflikt, diese Einmischung lohnt sich. Sie ist sogar Teil einer Erneuerung im besten Sinne, nämlich als Rückgewinnung gesellschaftlicher Bedeutung von Parteien und Politik verstanden. Was sich dagegen überhaupt nicht lohnt, sondern immer nur zusätzlich schadet, ist die Fortsetzung innerparteilicher Debatten. Denn auch das hat sich in der digitalen Welt einschlägig verändert: Wo SPD drauf steht (oder CDU, DIE GRÜNEN oder gar AfD) wird erwartet, dass eine erkennbare Marke darin ist, die man dann liken kann – oder eben nicht. Das unterscheidet das Heute vom Gestern fundamental. Die Menschen wollen keine Parteien mehr, die stellvertretend für sie Kontroversen austragen. Sie wollen eindeutige, in sich widerspruchsfreie Angebote. Was überhaupt nicht zwingend ideologische Lupenreinheit bedeuten muss.

Die Verantwortung, jetzt den Prozess der Selbstfindung zugleich klug und glaubwürdig zu steuern, liegt bei der Parteiführung. Es kommt entscheidend auf den Stil, die Ausstrahlung, die Ernsthaftigkeit des Regierungspersonals und der Parteigremien an. Zu oft schon hat sich Mitregieren binnen kurzer Zeit als diskussionstötend erwiesen. Es wurde nur noch Loyalität eingefordert, aber jeder neue Impuls als störend wahrgenommen. Auch das war menschlich und subjektiv nachfühlbar, aber politisch grundfalsch und für die SPD strategisch lebensgefährlich.

Zu sich selbst zu finden ist etwas anderes als ein Rückfall in frühere Zeiten. Es bedeutet, sich der Gegenwart zu stellen und künftige Ziele klar zu machen. Es verlangt Offenheit, die immer ein Zeichen von Stärke ist. Es bedeutet aber vor allem, das Vakuum in der Gesellschaft auszufüllen, dass die Politik in den Merkel-Jahren hat anwachsen lassen. Das bedeutet, Angebote zur Orientierung zu machen, Gerechtigkeit und Zusammenhalt im Alltag durchzubuchstabieren, Internationalität zu leben und auszubauen. Mit realistischen Konzepten, in denen klar wird, was für eine Partei dieser Größenordnung heute durchsetzbar ist und was nicht – weshalb sie erst längerfristig und im gesellschaftlichen Bündnis angepackt werden können.

Über all das wurde mit dem Mitgliedervotum für die Große Koalition nicht entschieden. Diejenigen aber, die sich wünschen, nach dem Votum müsse nun erst einmal Ruhe einkehren, sollten sich nicht täuschen. An die Stelle der unproduktiven Unruhe der zurückliegenden Monate muss möglichst schnell produktive Gemeinsamkeit treten.

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