Mit Smart Cities werden oft euphorische Zukunftserwartungen verbunden. Stadtverwaltungen und Landesregierungen zum Beispiel erhoffen sich durch Echtzeitverwendung großer Datenmengen eine effizientere Infrastrukturplanung sowie die schnellstmögliche Warnung vor bisher Unvorhersehbarem wie Gewalttaten und Naturkatastrophen. Zudem soll die Smart City ökologische Nachhaltigkeit verbessern – bei gleichbleibender wirtschaftlicher Prosperität. Die Fantasie der technischen Machbarkeit eines besseren Lebens und seiner vernunftgesteuerten Regelung begeistert durchaus auch manchen Bürger und manche Bürgerin. Im Folgenden fragen wir, welches Erbe der Moderne sich in den Versuchen zeigt, die Stadt von morgen zu planen und zu denken.
Erben heißt übertragen, überliefern, übereignen von einer Generation zur nächsten. Wir fragen unter der Überschrift »modernes Erbe« nach Kontinuitäten in der Perspektivierung von Zukunft. Erben ist nicht nur ein Prozess des Empfangens, sondern auch des Erwerbens und Aneignens, wie z. B. der Kunsthistoriker Gerhard Vinken gezeigt hat. Wir schauen auf zwei Extremfälle: Songdo in Südkorea, eine Planstadt, die als Sonderwirtschaftszone von einem Projektentwickler realisiert wird und zum Großraum der Millionenstadt Incheon gehört, und Limerick, eine Stadt von 57.000 Einwohnern in der Republik Irland, deren Zukunft der Schriftsteller Kevin Barry eine Kurzgeschichte gewidmet hat.
Songdo
Was ist eine Smart City? Als Smart City bezeichnen wir eine Stadt, wenn erstens eine umfassende Erhebung sozial und räumlich relevanter Daten (Big Data) der Nutzer/innen und der von ihnen verwendeten Objekte oder Bauten durch Kommunen und mit ihnen kooperierenden Firmen bzw. Bestandshalter erfolgt. Zweitens wird nur dann eine Stadt als Smart City definiert, wenn zudem eine elektronische Koppelung dieser Daten zur Steuerung und Beschleunigung sozialer Prozesse (Bürokratie, Mobilität, Energieeffizienz, Krankheitsvorsorge etc.) und darüber hinaus zur Erhöhung von Sicherheit (Verbrechensbekämpfung, Georouting von Menschen mit Behinderung etc.) erfolgt. Das setzt neben der Bearbeitung der Daten das Monitoring öffentlicher und auch privater Räume voraus. Drittens wirken auch die Bewohner/innen insofern mit, als sie ihr Smartphone oder eine Smartcard (RFID Card) mit Multifunktionen wie ÖPNV-Nutzung, Krankenversorgung, Wohnungszugang, Bankdienste etc. nutzen. Zusätzlich können sie gegebenenfalls Informationen über auffälliges Verhalten freiwillig an die Schaltstelle senden oder etwa ihre Kinder überwachen lassen. Die einzige Stadt, in der diese umfassende Smartifizierung bereits erfolgt ist, ist die südkoreanische Stadt Songdo.
Songdo ist auf eine Wohnbevölkerung von bis zu 70.000 Einwohner/innen angelegt. Laut Angaben der Projektentwickler wurden bis 2014 14.000 Wohneinheiten verkauft. Zurzeit, d. h. nach Abschluss von zwei der drei geplanten Bauphasen, leben 36.000 Einwohner in Songdo. 1.000 Geschäftseinheiten (Einzelhandel, Restaurants und Hotels) sind bezogen und 1.600 lokale und internationale Firmen sind in Songdo IBD (International Business District) ansässig. 2020 sollen alle derzeit geplanten Wohneinheiten bezogen sein. Die Umsetzung und Finanzierung liegt im Wesentlichen in der Verantwortung eines Projektentwicklers, nämlich Gale International (unter Einbeziehung eines koreanischen Partners und unter der Voraussetzung, dass Südkorea für Songdo als Sonderwirtschaftszone Steuervorteile erteilt). Das Gesamtarrangement (Städtebau, Architektur, Freiräume, digital gesteuerte Infrastruktur) ist auf die Möglichkeit zur Reproduktion in anderen Ländern angelegt.
Songdo wurde ursprünglich als ein Projekt der südkoreanischen Regierung initiiert, die die Planung, Finanzierung und Umsetzung der gesamten Smart City jedoch an den privaten Projektentwickler Gale International übertrug. Dieser ging dazu mit dem Anbieter für Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) Cisco eine Partnerschaft für das gesamte Projekt ein. Eine Besonderheit aus planungswissenschaftlicher Sicht, welches dieses Projekt neben seiner umfassenden Implementierung von IKT und ubiquitärer Datenverarbeitung auszeichnet, ist die Art der Planung und Umsetzung. Songdo entsteht nicht in einem durch die regionale oder staatliche Regierung koordinierten Prozess mit einer Vielzahl an einzelnen Projektentwicklern und Anbietern architektonischer, infrastruktureller und technischer Lösungen, sondern ist ein privatwirtschaftliches Planungsprojekt. Für jedes architektonische und technische Produkt dieser Stadt – zum Beispiel für alle Türgriffe – wird ein spezifischer Anbieter vertraglich gebunden. Dies führt zu einer hohen Standardisierung des öffentlichen und des privaten Raums. Stanley Gale von Gale International selbst bezeichnet Songdo als »city in a box«, eine reproduzierbare Stadt als Produkt.
Die Medienhistorikerin Orit Halpern bezeichnet Songdo als »test-bed urbanism«, als eine Stadt, in welcher sowohl die neuen Produktentwicklungen des IKT-Anbieters Cisco als auch das gesamte architektonisch-städtebaulich-infrastrukturelle Produkt getestet werden. Songdo dient als Vorzeigemodell und ist eine der ersten von wahrscheinlich vielen smarten »assembly-line cities« in Asien, welche von Gale International umgesetzt werden. Zwei Städte nach dem Modell Songdos wurden bisher nach China exportiert. Songdo fasziniert durch technische Machbarkeit und vermeintliche Kontrolle und erschreckt gleichzeitig durch den individuellen Verlust an Kontrolle über persönliche Daten, durch den Verlust an politischer Steuerung zugunsten ökonomischer Interessen aber als reproduzierbares Produkt auch durch den drohenden Verlust an städtischer Einzigartigkeit.
Limerick
Schaut man in die Literatur, so findet man ganz andere Visionen. Beim 15. Internationalen Literaturfestival in Berlin (2015) präsentierten Schriftsteller/innen ihre Arbeiten zur Zukunft der Stadt: »Visions 2030«. Der gelbe Virus heißt eine Kurzgeschichte des irischen Autors Kevin Barry. Den gelben Virus der Eifersucht denkt er sich als humane Herausforderung, welche in der Zukunft aber unglücklicherweise mit einer Impfung völlig unterdrückt werden kann. Barrys Stadt im Jahr 2030 ist architektonisch unverändert zur heutigen Stadt Limerick. Was sich verändert, ist das Wetter, das unberechenbar ist, und – in seiner Erzählung – die Welt in graues Licht taucht. Das 21. Jahrhundert ist in seinen Augen melancholisch. Die Menschen sind voller Angstzustände und Todesfurcht. »Bekommt die Zukunft etwas Mittelalterliches?« fragt er. Barrys Text lässt sich als eine Vision lesen, wie Städte ihr Leben verlieren, wenn erstens das als Natur gezeichnete Wetter stürmisch den Alltag verdunkelt, wenn jedoch zugleich Menschen ihre Leidenschaft, hier als Eifersucht pointiert, verlieren. Die Städte reagieren in dem Text auf ihre Außenbedingungen. Ihre Atmosphäre verändert sich mit der Witterung und den Stimmungen der Menschen. Anstatt dass alles freundlich wird, wenn die Eifersucht und der Neid schwinden, wird die Welt schwer, still und nostalgisch. Die Reaktion der modernen Medizin im Jahr 2030 darauf ist die Entwicklung eines Wirkstoffes gegen Nostalgie – der Versuch, Erinnerung zu tilgen.
Limerick war ein »schöner, nervöser, streitsüchtiger Flecken«, heißt es im Text. Wie schwer ist das Bild auf Songdo zu übertragen! Songdo ist nicht streitsüchtig, sondern strategisch auf ein Kontrollzentrum ausgerichtet, in dem alle Daten zusammenfließen. Der Alltag ist nicht nervös, sondern bestens organisiert. Unbedingt schön ist es auch nicht. Die Uferpromenade von Songdo wurde als touristische Zone konzipiert. In Songdo singt niemand auf der Straße Lieder über Eifersucht wie in Limerick. Umgekehrt: Ciscos TelePresence screens sollen es ermöglichen, unzählige Dinge zuhause zu erledigen, für die man sonst die Wohnung verlassen musste, inklusive bei Bedarf Schulunterricht, Homeoffice und Arztkonsultationen. Kann man sich Eifersucht (oder Seitensprünge) noch leisten, wenn die Wege der Bewohner von einem privaten Betreiber geogeroutet werden, also tendenziell die Daten zugänglich sind? In Songdo wird die Angst vor dem Unvorhersehbaren nicht durch Impfung, sondern durch umfassende Überwachung bekämpft. Kein Alzheimerpatient läuft mehr unkontrolliert verwirrt durch die Straßen. Kein Kind streunt unbemerkt durch das Museum. In Songdo ist es die Angst vor dem Kontrollverlust, die die Planung anleitet. In Der gelbe Virus wird im Gegenzug die Angst vor dem Erinnerungsverlust wie auch die Angst vor der technischen Machbarkeit in der Medizin beschrieben.
Moderne Entwürfe
Beide Entwürfe sind zutiefst modern. In ihrer Dialektik der Aufklärung schreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: »das Radio als sublimierte Druckerpresse, das Sturzkampfflugzeug als wirksamere Artillerie, die Fernsteuerung als der verläßlichere Kompaß. Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt«. Die beiden charakterisieren die Moderne über die Verdrängung des Mythos durch die kalkulierende Vernunft (»unter deren eisigen Strahlen die Saat der neuen Barbarei heranreift«). Immer weiter treibt die Menschen der Wunsch nach immer mehr Sicherheit und Effizienz. In Songdo mündet dies in ein komplexes Datenmanagement. Sie erben nicht nur, wie Adorno und Horkheimer es ausdrücken würden, den »Verblendungszusammenhang« der Moderne, sie eignen sich ihn auch aktiv an. In Limerick treibt der Wunsch nach Sicherheit und Effizienz die Menschen in die Rationalisierung des Mythischen und Unkontrollierten in Form der Eifersucht. Die Geschichte geht schlecht aus, und – so mag man einwenden – sie ist als Kritik an der Moderne als kalkulierende Vernunft verfasst, nicht als deren technische Umsetzung wie in Songdo.
In Europa, so ist den literarischen Zukunftsentwürfen auch anderer Autor/innen auf dem Literaturfestival zu entnehmen, artikuliert sich in den Texten ein pessimistischer Blick auf die Zukunft der Städte, wie z. B. in Limerick, wo die Menschen in Folge medizinisch-technischer Manipulation in Melancholie verfallen. Und tatsächlich: Tendenziell denken Menschen in Europa, das Gute liege hinter ihnen. Z. B. gaben in Deutschland (bei einer Umfrage unter 1.000 Befragten) 73 % an, dass sie annehmen, die nächste Generation werde es schlechter haben, in Frankreich 80 %, in Italien 69 %. In China glauben das gerade 6 % der Bevölkerung (PEW, Global Attitudes Project, 2007). In Barrys Limerick droht den Menschen nach dem Verlust der Eifersucht und im Versinken in der Melancholie nun auch noch der Erinnerungsraub, also Erben ohne Aneignung, d. h. auch das Ende des Erbens.
Koreas Vision einer Stadt im Jahr 2030 ist dagegen nicht, dass Erinnerungen getilgt werden. Erinnerungen manifestieren sich eh kaum in der neu gebauten Stadt. Man fantasiert eher über Songdo als Hauptstadt im vereinten Korea. Die Hoffnung auf eine bessere Welt durch technischen Fortschritt ist in Korea noch wirkmächtig. Diese Welt wird gebaut, denn das »schöne« Limerick ist keine Alternative. Limerick erscheint schon jetzt im Text als eine Art »Tante-Emma-Laden« des Urbanismus: nett anzusehen, aber 2030 unendlich altmodisch. Limerick ist einzigartig. Songdo nicht. Songdo wird geklont. Songdo ist bald überall, zumindest in Asien, Lateinamerika und Afrika.
Aus der Sicht von Limerick mag man das Klonen bedauern, doch finden die großen Urbanitätsexperimente nicht mehr in Europa statt. Aber sie wirken auf Europa zurück. Vor 15 Jahren hätte niemand gedacht, dass es in Berlin einmal keine Fachdrogerien mehr geben könnte, stattdessen Drogeriemärkte, die alle nach dem gleichen Konzept aufgebaut sind. Was ökonomisch erfolgreich bei Hotels und Supermärkten praktiziert wird, warum sollte es nicht für Städte möglich werden?
Schließlich ist es nicht so, dass sich in Songdo Praktiken und Strategien zeigen, die in Europa oder Deutschland ganz fremd wären. Die in vielen asiatischen Städten zu findende Zukunftsidee basierend auf effektiver Reproduzierbarkeit, Sicherheit und Komfort ist Europa allzu bekannt. Sie ist gemeinsames Erbe der Moderne. Sie mischt sich in Europa nur zunehmend mit einer Orientierung an Vergangenem. Es sind nicht nur die Umfragedaten, ob die Zukunft besser werde, die darauf hindeuten, dass das Weltverständnis in Europa deutliche Züge einer Vergangenheitsorientierung zeigt. Es sind z. B. auch die Schlösser und Fachwerkhäuser, die im ganzen Land neu gebaut werden.
Wenn Frankfurt in zentralster Innenstadtlage (dem Römer) die Altstadt neu bauen kann, wenn Berlin das Stadtschloss wieder aufbaut, dann deutet das in zweierlei Richtungen: Erstens, es fällt uns schwer, vom Neuen (z. B. im Neubau) das Bessere zu erhoffen. Und zweitens ist man vom Konzept von Songdo gar nicht so weit entfernt, denn auch hier wird angenommen, Fachwerkhäuser und Schlösser ließen sich schlicht kopieren und erzeugen doch Heimat. Auch hier scheint das Erbe der Moderne auf: im Glauben an Reproduzierbarkeit.
Menschen wollen in Städten leben, mehr denn je. Die moderne Stadt mit Möglichkeiten für alle bleibt ein erstrebenswertes Ideal und doch ist diese Moderne seit Jean-Jacques Rousseau über Karl Marx bis hin zu Adorno als kalt und entfremdet beschrieben worden. Und die Fantasien zu Limerick im Jahre 2030 artikulieren exakt diesen Aspekt: Die Stadt ist nicht responsiv, die anderen Menschen sind nicht responsiv. Nur die Natur besitzt noch die Möglichkeit, eine innere Reaktion auszulösen. Es stellt sich die Frage, ob von Songdo Responsivität noch erwartet wird. In Songdo kreisen die Strategien um Infrastrukturen. In Asien wie auch in Europa wissen Fachleute viel über die Vermeidung von Stau, Lärm und Abgasen, über Verdichtung der Innenstädte bei gleichzeitigem Erhalt der Grünanlagen oder über digitale Netze. Wenig wissen wir, unter welchen Bedingungen Menschen ein Gefühl der Bezogenheit auf die Welt entwickeln. Wie dieses Glücksgefühl, in der Welt zuhause zu sein, in Beziehung zur Umwelt zu stehen, hervorgerufen wird, bleibt bislang ein Geheimnis – auch in der Smart City.
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