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Carl Ludwig Sands Attentat auf August von Kotzebue Mörder aus Vaterlandsliebe?

Am 9. März 1819 wandert der 23-jährige Theologiestudent Carl Ludwig Sand von Jena aus in Richtung Mannheim, wo seit einigen Monaten der Dramatiker, Journalist und russische Staatsrat August von Kotzebue residiert. Die äußere Erscheinung des jungen Mannes ist bekenntnishaft deutsch – er trägt einen dunklen Rock mit roter Weste und offenem weißem Schillerkragen, schwarze Beinkleider, eine samtene Schildkappe und schwarze Schnürstiefel. Als glühender Patriot und gottesfürchtiger Christ hat der 1795 in Wunsiedel geborene, mit Jean Paul entfernt verwandte Studiosus 1815 in einem Freikorps gegen den Usurpator Napoleon gekämpft und sich an den Universitäten Tübingen und Erlangen, erst recht in Jena, um die Sache einer allgemeinen deutschen Burschenschaft verdient gemacht. Bursche sein, heißt für Sand nicht Rabaukentum und Duellwesen, sondern mit Willen und Überzeugung einzutreten für das geliebte Deutschland, ein Vaterland der Gerechtigkeit und Freiheit.

Am 23. März kommt er gegen halb zehn in Mannheim an, wo er das Gasthaus »Zum Weinberg« aufsucht und ein Frühstück, später in Gesellschaft ein Mittagsmahl zu sich nimmt. Gegen 11 Uhr hat man ihn in Kotzebues Haus zunächst abgewiesen und auf 17 Uhr vertröstet, dann aber trifft er auf den berühmten Unterhaltungsautor und Pamphletisten, den er für einen Schänder seines deutschen Vaterlandes hält. Sand streckt den Verfemten mit wuchtigen Dolchstichen nieder, will offenbar zunächst fliehen, bringt sich dann aber selbst zwei tiefe Wunden bei und lässt es – blutüberströmt vor dem Haus des Ermordeten – nicht an einer pathetischen Tatinszenierung fehlen. Aus Liebe zum Vaterland und im Vertrauen auf die Gnade Gottes habe er den Verräter Kotzebue zu Tode gebracht, ruft er aus und übergibt einem Bediensteten den sogenannten »Todesstoß«, ein pathetisches Bekenntnis zu seiner vaterländischen »Befreiungstat«, gemäß seinen wenige Monate zuvor in Jena geschriebenen Sätzen: »(…) die Not meines Vaterlandes drängt mich zum Handeln. (…) Viele der ruchlosesten Verbrecher treiben ungeahndet, bis aufs völlige Verderben unseres Volkes hin, bei uns ihr Spiel. Unter ihnen ist Kotzebue der feigste und boshafteste (…) er ist der Schandbube, der Verführer der deutschen Jugend, der Schänder der deutschen Volksgeschichte und der russische Spion des deutschen Vaterlandes. Soll nicht das ärgste Unglück über uns kommen, so muss er nieder.«

Carl Ludwig Sand, der entflammte Jungpatriot, will in Gottes Namen sein Vaterland retten, doch die »Brandfackel«, die er in die »Schläfrigkeit« der geliebten Nation wirft, damit sich der »Volkszorn« erhebe und die marode Fürstenbrut hinwegfege, zeitigte ganz andere Wirkungen als die erhofften. Schon das Wartburgfest vom 18. und 19. Oktober 1817, auf dem sich fast 500 Studenten aus allen protestantischen Universitäten Deutschlands als kommende liberal-politische Avantgarde feierten, hatte zur verschärften Überwachung und polizeilichen Verfolgung sogenannter »demagogischer Umtriebe« geführt. Kaum einer förderte dieses Klima der Diskriminierung des studentischen Oppositionsgeistes so erfolgreich wie der reaktionäre Journalist und Theaterautor August von Kotzebue, dem selbst Goethe »niederträchtiges Zeug« und »schluderhaftes Talent« zugeschrieben hatte. Kotzebue war sich nicht zu schade, die Burschenschaften als »Brutstätte ererbter Anmaßung, aufrührerischen Geistes und verrotteten Herzens« zu verketzern.

Es war kaum verwunderlich, dass der seit früher Jugend pietistisch-patriotisch erweckte Carl Ludwig Sand in Jena unter den Einfluss der radikalen Studentengruppe der »Schwarzen« oder »Unbedingten« um die Brüder August und Karl Follen geriet. Hier sollten sich seine religiösen Reinheits- und Bewährungssehnsüchte zu fanatisch-aktivistischen Überzeugungen steigern. »Ein Jesus Christus kannst du werden«, hatte Follen in seinem »Großen Lied« geschrieben, einem poetischen Pamphlet, das Sand und seine Gesinnungsgenossen in ganz Deutschland verbreiteten. Im Kreise der Follens waltete damals der Geist von des »Volkes rechtlicher Allmacht und Alleinmacht«, der Tod fürs Vaterland wurde verherrlicht als Pflicht jedes Patrioten. »Drück dir den Speer ins treue Herz hinein, der Freyheit eine Gasse!«, zitiert Sand kurz vor seinem Mord den Dichter und Befreiungskrieger Theodor Körner, Tötungsakt und Selbstopfer verschmelzen bei dem jungen Mann zur fanatischen Überzeugungstat für Freiheit und Vaterland. Karl Follen nannte Kotzebues Ermordung »eine herrliche große That entsprungen aus dem edelsten Vaterlandsgefühle des natürlichen Rechts«.

Die Kultfigur

Sands Tat gilt unter Historikern heute als das erste politische Attentat der neueren deutschen Geschichte. Seine Folgen waren im September 1819 die Karlsbader Beschlüsse, die ein landesweites Repressionssystem über das intellektuelle und politische Leben Deutschlands, besonders über seine Universitäten, verhängten. Für den Wiener Kanzler Metternich kam der Mord zur rechten Zeit, er wurde zum Ausgangspunkt für das »System Metternich« und die Ära der Restauration. Der Fall des Studenten Sand, an dessen Schicksal man überall in Deutschland empfindlich Anteil nahm, blieb dennoch heikel, da sich Verschwörungen oder andere sinistre Machenschaften der Studenten trotz zahlloser polizeilicher Untersuchungen und Festnahmen nicht nachweisen ließen. In Flugschriften, Gedichten und Liedern, bald auch in einem Theaterstück entstand eine Art Personenkult um den glaubens- und vaterlandsbeseelten Attentäter. Er lese beständig in der Bibel, hieß es, spreche regelmäßig mit Geistlichen und ertrage lächelnd sein schweres Los.

Erst recht nach der öffentlichen Hinrichtung des Mörders am 20. Mai 1820 in Mannheim waren dem Sand-Kult alle Schleusen geöffnet. Einer Christus-Erscheinung nicht unähnlich war der junge Mann durch die Straßen der Stadt zum Schafott gefahren worden, mit einem Lächeln bestieg er das hölzerne Blutgerüst, sprach verständnisvoll mit seinem Henker und ging anscheinend freudig in den Tod. Mit seinem Blut bespritzte Holzspäne wurden wie Reliquien aufgesammelt, die Bretter des Schafotts soll der Scharfrichter zum Bau eines Weinberghäuschens bei Heidelberg verwendet haben, wo Studenten sich noch lange Zeit im Gedenken an ihren verewigten Helden trafen.

Ob Carl Ludwig Sand dem politischen Schicksal seines Vaterlandes einen guten Dienst erwiesen hat, war unter Historikern seit jeher umstritten. Der »Mörder aus Vaterlandsliebe«, wie Karl Alexander von Müller ihn nannte, wurde zum Objekt völkischer Legendenbildung, zum »Märtyrer«, wie 100 Jahre später der Sprengstoffattentäter Albert Leo Schlageter. Alexander Puschkin, unter dem Einfluss der russischen Dekabristen, dichtete: »Sein Geist irrt ohne Ruh durch seines Deutschlands Haine (…)«

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