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Die vielfältigen Dilemmata der Außenpolitik Moral oder Interessen

»In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.« Dieses Zitat von Egon Bahr aus dem Jahr 2013 beschreibt zugespitzt, wie der langjährige SPD-Außenpolitiker den Kern der internationalen Politik und damit die Randbedingungen von Außenpolitik sah. Allerdings hatte er gleichzeitig einen klaren inneren Kompass, den der Politikwissenschaftler Michael Staack folgendermaßen beschreibt: »Die Erhaltung des Friedens war im Verständnis Bahrs die oberste moralische Pflicht des Staatspersonals.«

Außenpolitik verträgt also offensichtlich handelnde Personen, die nicht nur Interessen, sondern auch Moral als handlungsleitend ansehen. Unter »Moral« soll in diesem Kontext ein Wertekanon verstanden werden, mit dem das eigene Verhalten (und das anderer bis hin zum außenpolitischen Handeln von Staaten) nach den Kategorien richtig/gut oder falsch/schlecht bewertet werden kann. Bahrs Position lässt sich daher auch so formulieren: In der Außenpolitik geht es um Interessen von Staaten, von denen manche sich aus moralischen Prinzipien ableiten lassen.

Bewährte moralische Prinzipien

Es gibt eine Reihe von moralischen Prinzipien, die sich in der Außenpolitik bewährt haben. Einige davon sind in der Charta der Vereinten Nationen enthalten – etwa die Beilegung internationaler Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln – oder wurden in völkerrechtlichen Verträgen verankert. Zu diesen gehören zum Beispiel der Zivilpakt und der Sozialpakt der Vereinten Nationen, in denen die wichtigsten Menschenrechte fixiert wurden, die ILO-Kernarbeitsnormen, aber auch Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge wie die Verträge zum Verbot von biologischen und chemischen Waffen. Auch die dem Pariser Klimaabkommen zugrunde liegende Erkenntnis, dass es eine gemeinsame Verantwortung aller Staaten für das Weltklima gibt, lässt sich moralisch mit der Verantwortung für zukünftige Generationen begründen.

Außenpolitik hat in einer globalisierten, verflochtenen Welt viele Akteur*innen: Politiker*innen und Diplomat*innen, Bürgermeister*innen und Ministerpräsident*innen, Beschäftigte der Ministerien, die für Entwicklungszusammenarbeit, Umweltpolitik, Klimapolitik, Finanzpolitik, Handelspolitik oder Wirtschaftspolitik zuständig sind, schließlich auch Vertreter*innen von international tätigen Wirtschaftsunternehmen und Nichtregierungsorganisationen.

Das führt nicht nur dazu, dass teilweise widersprüchliche Interessen vertreten werden, sondern kann auch zu Konflikten darüber führen, welche moralischen Prinzipien der Außenpolitik eines Landes zugrunde gelegt werden sollten. Bis zu welchem Punkt gilt das Prinzip der diplomatischen Verschwiegenheit, ab wann muss öffentlich über das Für und Wider von außenpolitischen Entscheidungen diskutiert werden können? Wie werden langfristige gegen kurzfristige Folgen außenpolitischen Handelns abgewogen, wie beabsichtigte und unbeabsichtigte Wirkungen außenpolitischer Entscheidungen?

In demokratischen Staaten können, dürfen und müssen diese Fragen öffentlich und im Parlament politisch diskutiert werden. Auch in autoritären Staaten gibt es dazu – oft ohne Beteiligung der Öffentlichkeit – explizite oder implizite Entscheidungen, die im Zweifelsfall von Einzelpersonen an der Spitze des Staates oder von kleineren Gruppen getroffen werden und die sich aus Berichten von Staatsmedien, aus Stellungnahmen von Regierungsvertreter*innen oder am Abstimmungsverhalten der Diplomat*innen der entsprechenden Länder in internationalen Organisationen ablesen lassen.

Außenpolitik verträgt keine Doppelmoral

»Die moralische Überheblichkeit, mit der der Globale Süden kritisiert wird, darf mit Skepsis betrachtet werden.«

»Der Krieg in der Ukraine lässt eine Reihe von harten Realitäten offen zutage treten. Europäische Spitzenpolitiker und Meinungsmacher beweisen, dass sie nicht den Hauch einer Vorstellung haben von den Sichtweisen und Erwartungen der nicht-westlichen Welt, die heute als »Globaler Süden« bekannt ist. (…) Wir müssen nicht bis zu den Gräueltaten der Kolonialzeit zurückgehen, um zu verstehen, dass man die moralische Überheblichkeit, mit der der Globale Süden kritisiert wird, weil er sich eine eigene Meinung erlaubt, durchaus mit Skepsis betrachten darf. Immerhin reden wir hier von den gleichen Ländern, die bedenkenlos ohne UN-Mandat Belgrad bombardiert und das UN-Mandat für Libyen überstrapaziert haben, um in dem Land nachhaltige Zerstörung anzurichten; von Ländern, die unter Berufung auf Artikel 5 des NATO-Vertrages in Afghanistan einmarschiert sind und Billionen von US-Dollar investiert haben, um das Land zu ruinieren und am Ende doch wieder den Taliban zu überlassen. Die USA und Großbritannien begründeten den Irakkrieg mit einer Lüge, um die Ölreserven des Landes auszubeuten, und machten damit den Islamischen Staat groß.«

Mit diesen Beispielen hat der brasilianische Wissenschaftler Giorgio Romano Schutte seine Kritik an einer moralisch argumentierenden Außenpolitik in Bezug auf den Ukrainekrieg auf den Punkt gebracht. Dass die meisten Länder des Globalen Südens – Brasilien eingeschlossen - zwar den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine verurteilen, sich aber den Sanktionen der USA und der EU nicht anschließen wollen, hat eine innere Logik. Nicht nur wegen der berechtigten Kritik an der Doppelmoral, sondern auch wegen der eigenen Interessen der Staaten des Globalen Südens.

Zu diesen gehört unter anderem das Interesse an einer möglichst schnellen Beendigung des Ukrainekrieges, der weltweit Energie-, Getreide- und Düngemittelpreise hochgetrieben hat, was in vielen Ländern des Globalen Südens zu weitaus dramatischeren Inflationsraten als in den EU-Staaten geführt und damit die Zahl der Menschen erhöht hat, die unter Hunger und existenzieller Not leiden.

Moralische Dilemmata und Eskalationsrisiken

Eine besondere Form von Doppelmoral ist das Leugnen moralischer Dilemmata. Im Ukrainekrieg gibt es davon viele. Zunächst einmal das grundsätzliche Dilemma jeden modernen Krieges, das insbesondere für den Angegriffenen besteht: das moralische Dilemma zwischen dem Recht, sich mit Waffengewalt zu verteidigen und den Zerstörungen und den Toten und Verletzten, die der Krieg unweigerlich fordert.

»Es geht um die moralische Verpflichtung, das Leben und die Gesundheit von Menschen möglichst zu bewahren.«

Es geht hierbei nicht um die Schuldfrage, sondern um die moralische Verpflichtung, das Leben und die Gesundheit von Menschen möglichst zu bewahren. Das Konzept der sozialen Verteidigung ist ein Versuch, dieses Dilemma zu entschärfen. Auch die Frage, ob Waffenlieferungen das wichtigste Instrument der Unterstützung des Angegriffenen sein sollten oder ob diplomatische Bemühungen zur Beendigung des Krieges mindestens genauso wichtig sind, hängt unmittelbar mit diesem Dilemma zusammen.

Weitere Dilemmata ergeben sich aus den Eskalationsrisiken eines Krieges. Im Ukrainekrieg gibt es davon drei herausstechende: Zum einen das Risiko, dass die Ukraine mit selbstgebauten oder von anderen Ländern gelieferten Waffen so systematisch Ziele innerhalb Russlands angreift, dass die russische Regierung die Existenz des russischen Staates als bedroht ansieht und gemäß der geltenden russischen Nukleardoktrin Atomwaffen einsetzt. Um dieses Eskalationsrisiko zu begrenzen wird zu Recht von möglichen Lieferanten derartiger Waffen, insbesondere den USA und Deutschland, sorgfältig geprüft, ob entsprechende Lieferungen dieses Risiko erhöhen.

Zum Zweiten besteht das Risiko, dass aus Sicht des Angreifers Russland die Staaten, die Waffen an die Ukraine liefern, generell als Kriegspartei angesehen und daher ebenfalls angegriffen werden. Das ist nicht nur ein theoretisches Risiko, im Gegenteil, unter russischen Sicherheitsexperten gab es kürzlich eine ernsthafte Debatte darüber, ob eine Drohung mit einem Atomwaffeneinsatz gegen europäische NATO-Staaten aus russischer Perspektive zu rechtfertigen sei. Auch wenn der russische Präsident Putin entsprechende Vorschläge öffentlich zurückgewiesen hat: Es ist nicht auszuschließen, dass er seine Meinung ändert, und es wäre auch nicht das erste Mal, dass er das eine sagt und dann das andere anordnet.

Das dritte Dilemma ist das Risiko einer Eskalation aus Versehen beziehungsweise aufgrund von Missverständnissen. Dazu gehört das Risiko, dass russische Geschosse wegen ihrer Zielungenauigkeit oder durch Fehler derer, die sie abfeuern, auf NATO-Gebiet landen, das Risiko von Fehlalarmen oder das Eskalationsrisiko von tatsächlichen oder vermuteten Luftraum- und Hoheitsgewässerverletzungen dort, wo NATO-Staaten oder ihre Hoheitsgewässer an russisches Gebiet oder Hoheitsgewässer grenzen.

Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass sich weitere grundsätzliche moralische Dilemmata ergeben, wenn Ressourcen, die für die Abmilderung der Klimakrise oder für die Erfüllung der Ziele für Nachhaltige Entwicklung der UN dringend benötigt werden in Waffenlieferungen oder Aufrüstung der eigenen Armeen umgewidmet werden.

Außenpolitik verträgt es also durchaus, dass handelnde Personen oder Staaten auf Basis moralischer Grundsätze handeln. Sie verträgt aber weder doppelte Standards noch das Ausblenden moralischer Dilemmata.

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