Menü

© picture alliance / ZB | Sascha Steinach

Moralisierung und Polarisierung als gesellschaftliche Signatur

Am 6. Januar 2021 stürmte ein rechter Mob das Capitol, das Herz der amerikanischen Demokratie. Fünf Todesopfer und eine verstörte Gesellschaft blieben zurück. Der Sturm hat emblematischen Charakter. Weit über das Jahr und die Demokratie in Amerika hinaus. Schon im 19. Jahrhundert schrieben Alexis de Tocqueville und Karl Marx unabhängig voneinander, die Vereinigten Staaten von Amerika hielten Europa, dem alten Kontinent, den Spiegel seiner Zukunft vor. Haben beide Philosophen Recht, könnte die politische Polarisierung zur Signatur der 20er Jahre des 21. Jahrhundert werden. Und darüber hinaus. Was spricht dafür?

Es sind vor allem gesellschaftliche Konflikte, die die Politik und ihre Auseinandersetzungen prägen. In den westeuropäischen Nachkriegsgesellschaften war es lange die sozioökonomische Konfliktlinie, deren Modernisierungseffekte die religiösen, regionalen und kulturellen Trennlinien abschwächten. Die prägenden politischen Auseinandersetzungen und Diskurse verliefen entlang der sozioökonomischen Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit, Staat und Markt, links und rechts. Es waren der Steuer- und Sozialstaat sowie seine Architekten, die programmatisch diffusen Volksparteien, die diesen Konflikt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entschärften. Den grundsätzlichen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit vermochten und wollten sie nicht auflösen. Aber ihre Politik des institutionalisierten Kompromisses sicherte einen gewissen sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. In Westeuropa stärker als in den USA oder Osteuropa.

Nach dem Epochenbruch von 1989 veränderten sich die Konfliktstrukturen des Westens. Der Kalte Krieg war zu Ende. Dem wirtschaftlichen und politischen Liberalismus wurde eine große Zukunft vorausgesagt. Im temporären Niemandsland der Konflikte bildete sich eine neue, kulturell konnotierte Konfliktlinie heraus. Sie durchschneidet seitdem die fortexistierende sozioökonomische Trennlinie quer. Damit ist der politische Wettbewerb in Europa wie Nordamerika mindestens zweidimensional geworden. Auf dem einen Pol der kulturellen Konfliktlinie befinden sich die mit hohem Human- und Sozialkapital ausgestatteten akademisierten neuen Mittelschichten. Sie leben urban, sind ökonomisch privilegiert, folgen einem »kosmopolitischen« Weltbild. Der Nationalstaat ist ihnen Relikt des 20. Jahrhunderts. Sie insistieren auf offene Grenzen, bevorzugen eine liberale Migrationspolitik, betonen die Gleichberechtigung der Geschlechter und gleichgeschlechtlicher sexueller Präferenzen. Sie legen Wert auf eine »gendergerechte« Sprache. Der Klimapolitik räumen sie hohe Priorität ein. Ökonomisch zählen sie zu den Begünstigten unserer Gesellschaft: Sie verfügen über überdurchschnittliche Bildungsabschlüsse und Einkommen. Am anderen Pol der Konfliktachse sammeln sich die »Kommunitaristen«. Sie verfügen über einen geringeren formalen Bildungsgrad, befürworten einen starken Nationalstaat, von dem sie strikte Migrationskontrolle, sozialen Schutz und finanzielle Förderung erwarten. Gendergerechte Sprache ist ihnen nicht wichtig, Ökonomie rangiert vor Ökologie. Sie neigen eher zu autoritären denn libertären Lebenseinstellungen. Sie zählen zu den weniger Begünstigten unserer Gesellschaft. Dieses Lager teilt sich in zwei Gruppen: Die eine Gruppe neigt zu Nationalismus, Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit. Ihre politische Heimat sind die rechtspopulistischen Parteien. Die andere »kommunitaristische« Gruppe bildet sich vornehmlich aus der traditionellen Klientel der Sozialdemokratie. Ihr normativer Bezugspunkt ist das schwedische »Folkshemmet«, das Volksheim. Ein relativ homogenes »Heim« mit einem starken solidarischen Sozialstaat. Dieser ist im supranationalen Raum der »Kosmopoliten« nicht zu haben. Die sozialen »Kommunitaristen« sind nach der kulturalistischen Wende mancher sozialdemokratischer Parteien politisch heimatlos geworden und landen nach einem Aufenthalt im Lager der Nichtwähler europaweit nicht selten bei den Rechtspopulisten, manche bei linken Traditionalisten. Gegenwärtig lesen wir dafür auch andere Begrifflichkeiten. Da werden die »Kosmopoliten« zu »Entdeckern«, die »Kommunitaristen« zu »Verteidigern«. Verkannt wird dabei, dass gerade die urbanen »Kosmopoliten« gerne die supra- und internationale Welt »entdecken«, da sie sich unter solchen entstaatlichten Sphären sicher sein können, ihre Bildungs- und Wirtschaftsprivilegien gut gegen die unteren Schichten ihrer Gesellschaft »verteidigen« können.

Neue Krisen im 21. Jahrhundert

Finanz-, Arbeitsmarkt- und ganz allgemein Wirtschaftskrisen werden im Kapitalismus nicht verschwinden. Die Nachwehen der Finanz- und Eurokrise sind in Südeuropa, vor allem in Griechenland auch keineswegs verschwunden. Im Norden und Westen Europas wie in den USA folgte dagegen auf die Finanzkrise eine lange Phase stabiler wirtschaftlicher Prosperität. Dies gilt im Übrigen auch für Polen, dass trotz anhaltendem Wirtschaftswachstum in eine Demokratiekrise geschlittert ist.

Zu den traditionellen Wirtschaftskrisen kamen nun in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts neue Krisen. Was sind das für Krisen, was macht sie neu, warum sind gerade sie eine enorme Herausforderung für die Demokratie? Die Rede ist von der Flüchtlings- und Migrationskrise ab 2015, der schon länger schwelenden oder gar lodernden Klimakrise sowie der anhaltenden COVID-19-Krise. Neu machen diese Krisen drei Eigenschaften, die in einer bestimmten Sequenz miteinander verflochten sind und zur Spaltung unserer demokratischen Gesellschaften beitragen. Dabei wird gerade bei diesen »neuen« Krisen sichtbar, dass sie stets eine objektive und eine subjektive Dimension besitzen. Die objektive Dimension umfasst die Sachverhalte. In der Dotcom-Börsenkrise von 2000 war es das Platzen einer Blase, die die überbewerteten Technologiewerte in den Keller schickte. In der Finanzkrise von 2008 war es das Platzen der Immobilien-Kreditblase zunächst in den USA, dann auch in Europa; bei der vielschichtigen Euro-Krise wurde die rasant zugenommene private und öffentliche Gesamtverschuldung, der Wegfall flexibler Wechselkurse und die Spekulation zum Austritt oder Verbleib Griechenlands in der gemeinsamen europäischen Währung gesehen. In der Flüchtlings- und Migrationskrise von 2015 wird der außerordentlich schnelle Zustrom von Flüchtlingen und Migranten nach Westeuropa, insbesondere Österreich, Deutschland und Schweden vermerkt. In der Klimakrise wird die beständige Zunahme der vor allem durch die von Menschen in den Industrieländern verursachten Erderwärmung als besonders gravierend erachtet. In der Corona-Pandemie war es die rasche Zunahme der Infektionszahlen, der Mortalität und der Überlastung der Intensivstationen in den Krankenhäusern.

Dies ist nur eine unvollständige Liste der Ursachen und Sachverhalte der Krisen. Keine der drei neuen Krisen kann aber nur durch »objektive« Sachverhalte erklärt werden. Es gibt stets auch eine subjektive Krisendimension von erheblicher Bedeutung. Diese bezieht sich auf die Konstruktion eines Krisennarrativs. Narrative werden in gesellschaftlichen Diskursen von Regierung, Opposition, neuen politischen Krisenunternehmern, Medien, Demagogen oder sozialen Bewegungen gerade in unruhigeren Zeiten immer wieder entwickelt. Dafür kann es legitime oder illegitime Gründe geben. Aber: Eine Krise ist erst dann eine Krise, wenn die Menschen mehrheitlich glauben, dass es eine Krise ist. Zu diesem Glauben tragen die Krisennarrative ebenso bei wie die »objektiven« Sachverhalte, die erstere zu er- oder verklären versuchen. Es sind vor allem diese Krisenerzählungen, die von den drei Eigenschaften der neuen Krisen, nämlich Verwissenschaftlichung, Moralisierung und Polarisierung zehren.

Wir erleben gerade eine Transformation hin zu kulturellen Auseinandersetzungen, die im diskursiven Raum eine erhebliche Bedeutung gewonnen haben, obwohl sie materiell für die Lebensgestaltung der Menschen keineswegs vordringlich sind. Nicht die bisweilen skandalöse Ungleichheit der Lebenschancen spaltet die westlichen Gesellschaften, sondern diskursiv ausgelöste postmaterialistische Kulturkämpfe. Die im letzten Jahrzehnt aufgetretenen Krisen wie Migration, Pandemie und die schon länger schwelende Klimakrise spielen eine verschärfende Rolle.

Verwissenschaftlichung

In der Flüchtlings- und Migrationskrise von 2015 griffen die politischen Eliten und ihre Standardberater noch auf ihre eigene Expertise zurück. Vereinzelt wurden jedoch schon hier politische Thinktanks und NGOs in der politischen Arena gehört. Bisweilen wurden sogar ganze Lösungsmuster außerhalb der Ministerialstäbe entwickelt. So etwa, wie Erdoğan zu einer kooperativen Politik der Flüchtlingsreduktion bewegt werden konnte. Aber es waren erst die Klimakrise und die Pandemie, die die Nachfrage nach naturwissenschaftlicher Expertise bei den politischen Entscheidungseliten sprunghaft ansteigen ließ. Diese führte zu einer schubweisen Verwissenschaftlichung der Politik auf den Feldern der COVID-19-Bekämpfung und schon vorher in der Klimaforschung. Letztere konnte sich noch weitgehend selbst jenseits offener staatlicher Einmischung mit dem IPCC (International Panel on Climate Change) einen eigenen wissenschaftspolitischen Rahmen geben. Allerdings kam hier die Politisierung der Wissenschaft teilweise von innen. Es waren Forscheraktivisten, die mit logistischer Unterstützung staatlicher Agenturen, die »Bewegung« Scientists for Future gründeten und die eigentliche soziale Bewegung Fridays for Future mit ihren Forschungsergebnissen und mit vereinfachten Worst-Case-Szenarien belieferten. Die Grenzen zwischen neutraler und ergebnisoffener Wissenschaft und politischem parteiischem Engagement verwischten. Bei der Corona-Pandemie war es anders. Hier wählte »die Regierung«, in persona die Bundeskanzlerin, die Epidemiologen und Virologen aus. Ausgewählt wurden vor allem jene Experten, die primär Worst-Case-Szenarien in die politische und mediale Debatte einspeisten. Die Regierung politisierte hier zunächst einseitig die Wissenschaft. Die Wissenschaft allerdings revanchierte sich und verwissenschaftlichte ihrerseits die Politik der Pandemiebekämpfung, bis hin zum Vorschlag konkreter Lockdown-Maßnahmen.

Der schon früher in der Policy-Forschung verwendete Begriff des evidence based policy making wurde zur legitimatorischen Zauberformel der Politik. Denn wenn die Wissenschaft schon die optimale Lösung für ein Problem gefunden hat, welche Aufgabe kann dann noch der Politik bleiben? Die notwendigerweise multiplen Ziele jeder demokratisch-repräsentativen Politikgestaltung wurde dem singulären Ziel einer eindimensionalen Problemlösung geopfert. Es wurden Epidemiologen gehört, aber Pädagogen, Bildungsforscher, Psychologen, Politologen, Ökonomen oder Staatsrechtler wurden von der Regierung weitgehend außen vor gelassen. In den 70er Jahren hieß evidenzbasierte Politik noch weniger vornehm Technokratie. Zusätzlich problematisch war auch die Reaktion des Publikums. Insbesondere in den ersten Monaten stimmten die Bürger mehrheitlich den Regierungsmaßnahmen zu und gaben ohne großes Murren Freiheitsrechte auf. Echte oder vermeintliche Sicherheit rangierte vor Freiheitsrechten. Wer dies kritisierte, war entweder ein Freidemokrat, Verschwörungstheoretiker oder redete »wie die AfD«. Tertium non datur – eine dritte Möglichkeit durfte es nicht geben.

Die drei letzten großen Krisen westlich-demokratischer Gesellschaften haben zwar erhebliche wirtschaftlich-soziale Konsequenzen, wurzeln aber nicht primär im Ökonomischen. Migrations-, Klima- und Corona-Krise sind vielmehr vom Ineinandergreifen von Wissenschaft, Moral und Polarisierung geprägt. Erstaunlicherweise rationalisierte die Wissenschaft dabei nicht die Moral. Es war umgekehrt, die Moral, die die wissenschaftlichen Positionen moralisierte. Damit wurde der Wissenschaft eine wesensfremde Immunisierung angedient. Positionen, die wissenschaftliche Erkenntnisse irrigerweise als absolut setzen und als moralischen Imperativ der Politik suggerieren wollen, wie das von Fridays for Future skandiert mit »follow the science« oder »science has told us« skandiert wird, verkennen Poppers Prinzip von »trial and error« ebenso, wie das verfahrensgesteuerte Wesen substanziell kontingenter demokratischer Entscheidungen. Die Institutionen und Verfahrensweise der Demokratie sind a priori fix, die Ergebnisse kontingent. Das ist eine der kardinalen Unterschiede zu autoritären Regierungsweisen, bei denen das Ergebnis feststeht, die Verfahrensweise aber kontingent nach dem gewünschten Ergebnis »modelliert« wird.

Moralisierung

Wie die meisten westlichen Gesellschaften trennt auch unsere ein tiefer kultureller Graben. Es gibt die »Kosmopoliten«, die Vernünftigen und wissenschaftsaffinen Bürger auf der einen, die Nationalisten, Leugner und Verschwörungstheoretiker auf der anderen Seite. Eine wechselseitige Sprachlosigkeit, Verachtung oder gar Feindschaft befestigt ihre Lager. Woher kommt dies? Ein wichtiger Grund liegt häufig nicht in der Sache selbst, sondern in der zunehmenden Moralisierung der Politik. Moralisierung ist nicht Moral. Ohne Moral kann es keine gerechte und humane Politik geben. In freiheitlichen Gesellschaften ist die Moral in den Grund- und Freiheits-, bisweilen auch in Sozialrechten kodiert. Sie schützen die Menschen vor Übergriffen des Staates oder dritter Personen. Moral tritt hier als universell gültige Sicherung von Freiheits- und Sozialrechten auf, die als ein Leitfaden für freie, tolerante, respektvolle und solidarische Gesellschaften gesehen werden kann. Ohne eine sich dieser Art stets zu rechtfertigende Moral sind unsere demokratischen Gesellschaften nicht zu denken. Ohne Moral keine Demokratie.

Moralisierung dagegen ist eine partikuläre und abwertende Form der Moraläußerung. Sie ist eine selbstgerechte Stilisierung der eigenen moralischen Position, eine Spielart des Egozentrismus, eine moralische Ostentation und Identitätsversicherung, die auf den Ausdruck der eigenen moralischen Überlegenheit verweist. Diese Art der Moralisierung ist nicht auf Verständigung ausgerichtet, sondern folgt der Egozentrik der Ausgrenzung. Ein solcher narzisstischer Moralisierungsüberschuss prägt das Lager der linksliberalen »Kosmopoliten«.

Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen. Wenn etwa in der Klimakrise jemand das jüngste Verfassungsgerichtsurteil zur Ausdifferenzierung eines genaueren Stufenplans zur Erreichung der Pariser Klimaziele mit dem Argument eines zu tiefen Eingriffs in parlamentarische Kompetenzen kritisiert, wird er oder sie meist nicht mit verfassungsrechtlichen Gegenargumenten konfrontiert, sondern häufig schlicht als Klimaleugner diffamiert, der es in Kauf nimmt, dass infolge seiner kleinlichen demokratietheoretischen Bedenken die Klimakatastrophe näher rückt, Länder überflutet werden und Menschen in der Dürre ihrer Regionen sterben müssen. Ein Argument zum Sachverhalt der richterlichen Selbstbeschränkung und parlamentarischen Prärogativen wird konvertiert, um dann auf eine andere Sachverhaltsebene verschoben werden zu können. Dem Gegenüber wird dann ad personam eine unmoralische oder gar unmenschliche Haltung zugeschrieben. Diese Form der selbstgerechten Moralisierung wird dann mit dem Ziel geführt, eine »unmoralische Person« aus dem Diskurs moralischer Teilnehmer auszuschließen.

Ein weiteres Beispiel kann aus den kontroversen Debatten zur Bekämpfung des Corona-Virus gewonnen werden. Mit Recht ging es dort immer wieder um die schwierigen Abwägungsfragen zwischen Artikel 2 Absatz 2 und den Freiheitsrechten vor allem in den Artikeln 4, 8, 11 und 12 des Grundgesetzes. In den moralisierenden Diskursen der Corona-Pandemie wurde Artikel 2 Absatz 2 Satz 1: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit« nicht nur zu dem alles überragenden Grundrecht erklärt, sondern all jenen, die in der pandemischen Diskussion auf die Abwägung mit den Freiheitsrechten drängten, unterstellt, dass sie das Leben ihrer Mitmenschen gering schätzten. Damit wurde nicht nur das Gegenüber entmoralisiert, sondern der Sprecher erhöhte sich selbst moralisch. Während mit Ausnahme der AfD die offiziellen Diskurse im Parlament noch hinreichend zivilisiert geführt wurden, verwandelten sie sich im Netz nicht selten über die Moralisierung der Positionen in Hass und Hetze.

Die Gegenseite zu den »Kosmopoliten« laboriert an einem Überschuss an Nationalismus und Traditionalismus. Tradition und Nation versichern ihr eine gewisse Identität. Die semantischen und normativen Brücken zwischen den Lagern sind damit heute kaum mehr begehbar. Der neue binäre Code heißt: Wahrheit versus Lüge, Moral versus Unmoral, Wissenschaft versus Leugnung. Der Pluralismus der Werte und Weltsichten wird als Zumutung empfunden. Gegner werden zu politischen Feinden. Dissidenzen werden von den Diskursführern entmoralisiert. Der Versuch beider Lager, mit ihrer je partikulären Moral pluralistische und multimoralische, also moderne Gesellschaften zu majorisieren, erscheint seltsam vormodern und führt zur Polarisierung. Als hätte der umstrittene Staatsrechtslehrer Carl Schmitt das Skript geschrieben. Es soll allerdings nicht verhehlt werden, dass die beiden Kerngruppen der »Kosmopoliten« und der traditionalistischen oder auch nationalistischen »Kommunitaristen« nicht mehr als ein Drittel der Gesellschaft ausmachen. Aber wie so oft bestimmen ihre Argumente die öffentlichen Diskurse. Der Versuch beider Seiten mit ihrer je partikularen Moral komplexe Gesellschaften zu integrieren, ist vormodern und führt in modernen Gesellschaften zur Polarisierung, dem dritten Charakteristikum »neuer« Krisen. Die Mehrheitsgesellschaft folgt diesen Diskursen mit Unbehagen und Unverständnis, schweigt aber. Erst dieses Schweigen ermöglicht die Polarisierung zweier diskursmächtiger Lager.

Polarisierung

Die verhärteten kulturellen Diskurse und der Verlust von Empathie und Kompromiss markieren in Deutschland wie den meisten westlichen Ländern den Übergang vom lebendigen Pluralismus zur verständnis- und kompromisslosen Polarisierung. In der neueren Polarisierungsforschung werden demokratisierende und demokratiegefährdende Polarisierung unterschieden. In den Klassengesellschaften Lateinamerikas beispielsweise wird die extreme ökonomische Ungleichheit nicht ohne Mobilisierung und Polarisierung zu überwinden sein. Demokratie und Kompromisse zahlten dort noch stets auf die Konten der Herrschenden ein. Dies ist in den demokratischen Gesellschaften Europas in der sozioökonomischen Sphäre so nicht der Fall. Es waren die Wahlzettel, die den unteren Schichten eine gewisse Mitsprache öffneten. Der Demokratieforscher Adam Przeworski nannte sie zu Recht die paperstones der Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert.

Was ist zu tun, um die beginnende Dynamik bösartiger Polarisierung zu brechen? Wir müssen die Moralisierung von Wissenschaft und Politik beenden und durch eine Moral der kritischen Selbstreflexion und Verständigung ersetzen. Wir sollten erkennen, dass Wissenschaft nicht Politik ersetzen kann. Abweichungen von wissenschaftsbasierter Evidenz müssen nicht der kognitiven Irrationalität anheimfallen, sondern mögen dem mühsamen Kompromissgeschäft politischer Entscheidungen verpflichtet sein. Diese haben multiple Ziele und Interessen zu berücksichtigen. Demokratie braucht Zeit, Toleranz und Dissidenz. Wenn wir das begreifen, werden es die Polarisierung und ihre Freunde schwer haben.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben