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picture alliance / photothek | Thomas Imo

»Muss das Militärische künftig eine höhere Priorität bekommen?« JA!

Ja, denn wir müssen in Deutschland und der EU grundsätzlich handlungsfähiger werden und mehr und besser in unsere Zukunft investieren. Dazu gehört in der aktuellen Zeit leider auch das Militärische. Und ich wünsche mir nichts so sehr, dass wir in einer sicheren und friedlichen Welt leben können, oder zumindest in einer sicheren und friedlichen Nachbarschaft. In einer Nachbarschaft, in der sich alle an die gemeinsamen Abkommen und Regeln halten, in der man sich vertrauen kann. Doch spätestens mit dem 24.02.2022 ist klar geworden, dass wir uns in einer anderen Realität befinden.

Russland ist vor rund zwei Jahren mit 200.000 Soldaten in die Ukraine einmarschiert, greift seitdem Städte, Dörfer und Infrastruktur im ganzen Land aus der Luft an und begeht massive Kriegsverbrechen. Seit zwei Jahren zeigt sich der russische Präsident nicht zu ernsthaften Verhandlungen bereit. Er hält an seinen revisionistisch imperialistischen Kriegszielen fest. Er will die Ukraine unterwerfen, eine kremltreue Regierung installieren und die ukrainische Sprache, Kultur und Nation vernichten.

Dabei sollten wir uns immer wieder die Vergangenheit vor Augen führen. Im Budapester Memorandum hatte Russland 1994 der Ukraine territoriale Integrität zugesichert. Im Gegenzug hatte die Ukraine Russland die Atomwaffen aus sowjetischen Beständen überlassen. Die Ukraine wurde also von ihrer eigenen Garantiemacht überfallen. Auf diplomatischem Wege wurde alles versucht, Putin von einem zweiten Angriff auf die Ukraine 2022 abzuhalten. Vergeblich, wie wir wissen. Wenn wir ehrlich sind, haben wir nicht erkannt oder erkennen wollen, welche existenzielle Gefahr von Putins Regime ausgeht. Wir haben den Abbau demokratischer Prinzipien in Russland hingenommen, haben unsere wirtschaftliche Abhängigkeit weiter erhöht, während Putin die Grenzen in Georgien 2008 und in der Ukraine 2014 militärisch verschob ohne eine wirkliche und konsequente europäische Reaktion. Unsere Strategie des Nicht-Handelns hat der russische Präsident als Ermunterung wahrgenommen.

Notwendige Waffenlieferungen

Es ist daher illusorisch zu glauben, dass ein Einfrieren des Konflikts in der aktuellen Situation zu Friedensverhandlungen führen würde. Mehr noch: Die Verschiebung der Grenzen nach Westen wäre die Folge. Letztendlich wäre dann eine noch stärkere Aufrüstung in Deutschland notwendig. Währenddessen hält die Ukraine dank ihrer militärischen Widerstandskraft – auch mithilfe westlicher Waffen – dagegen. So bitter dies klingen mag: Die Waffenlieferungen an die Ukraine haben sich bislang als das wirksamste Mittel erwiesen, um Putin aufzuhalten. Ihr Ausbleiben wäre die größte Gefahr für die Ukraine und das größte Glück für Putin.

Die Unterstützung der Ukraine zur Wiederherstellung des Friedens darf nicht die diplomatischen, wirtschaftlichen und humanitären Instrumente ungenutzt lassen. Verhandlungen und Militär bedingen sich hier gegenseitig: Verhandlungen sind notwendig, aber in diesem Fall nicht hinreichend. Um mit einem Gegenüber wie Putin überhaupt verhandeln zu können, braucht es eine militä­rische Stärke, die der Verhandlungspartner nicht ignorieren kann. Das betrifft zuvorderst die Ukraine: Sie kann nicht einfach die Waffen niederlegen und verhandeln; tut sie das, dann muss sie kapitulieren. Dann gewinnt Putin, mit all den schrecklichen Folgen für die ukrainische Bevölkerung und weitet, wenn man seinen Reden und Aufsätzen folgt, den Krieg auf weitere Staaten aus. Spätestens bei einem Angriff auf einen NATO-Staat, beispielsweise im Baltikum, wären wir selbst direkt betroffen.

Was muss also die logische Schlussfolgerung sein? Es bedarf einer Zeitenwende, die ihrem Namen gerecht wird. Dabei dürfen wir bei all den notwendigen Anstrengungen unseren Sicherheitsbegriff nicht auf das Militärische verengen. Schon heute führt Putin einen hybriden Krieg gegen europäische Gesellschaften. Er unterstützt Demokratiefeinde in unterschiedlichsten Ländern und lässt Propaganda und Falschinformationen streuen. Und was viele schon vergessen haben: Es war der russische Präsident, der 2022 den Gashahn zugedreht hat, um die Bevölkerung in Europa unter Druck zu setzen. Deshalb braucht es umfangreiche Investitionen in die Cybersicherheit, in den Kampf gegen Falschinformation, in die Erneuerbaren Energien, in die Absicherung unserer Lieferketten sowie der kritischen Infrastruktur.

Stärkung des europäischen Zusammenhalts

Im konventionellen militärischen Bereich geht es nicht nur um mehr Waffen. Es geht darum, dass wir uns auf der Ebene der EU und der NATO besser koordinieren, beispielsweise wenn es um die Beschaffung geht. Das bedeutet gemeinsam kostengünstig Aufträge bei der Rüstungsindustrie auszulösen, aber auch Parallelstrukturen in den Armeen abzubauen. Die Stärkung des Zusammenhalts in der EU und die Schaffung einer effektiven Verteidigungsgemeinschaft erhält angesichts der Entwicklungen in den USA eine noch größere Bedeutung. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich und Polen eine Führungsrolle in der EU übernimmt und Kooperation initiiert und stärkt, um die Sicherheit der gesamten Region zu gewährleisten. Entscheidend ist hier ein starkes Weimarer Dreieck. Mit der Abwahl der PiS-Partei in Polen und einer nun EU-freundlichen Regierung stehen hierfür die Bedingungen so gut wie lange nicht. Gleichzeitig dürfen persönliche Differenzen auf deutsch-französischer Regierungsebene einer gemeinsamen europäischen Geopolitik nicht im Wege stehen. Die Tragweite einer solchen Uneinigkeit scheint einigen Akteur/innen nicht klar zu sein.

Es geht um die Schaffung einer effektiven Verteidigungsgemeinschaft in der EU.

Die Finanzierung bleibt dabei ein wichtiger Aspekt und Streitpunkt. Auf europäischer Ebene befürworte ich den Ausbau der Europäischen Friedens-Fazilität (EFF). Mit Blick auf die nationale Finanzierung ist jetzt schon klar, dass das 100 Milliarden Bundeswehr-Sondervermögen allenfalls ein Ausgleich für die nicht getätigten Investitionen der Vergangenheit ist. Hier geht es um das Ersetzen und um eine angemessene Ausstattung, weniger um eine wirkliche Aufrüstung. Weitere Investitionen werden notwendig sein. Hierbei besonders wichtig: Die Finanzierung ist keine »Entweder-oder-Politik«, bei der die Stärkung der Bundeswehr verringerte Investitionen oder Ausgaben in anderen Politikbereichen wie Soziales oder Klimapolitik zur Folge hätte. Zukunftsinvestitionen bleiben unerlässlich, darunter die etwa 500 Milliarden Euro bis 2045 für die grüne Transformation der Wirtschaft, sowie die etwa jeweilig 100 Milliarden Euro für die öffentliche Infrastruktur und Bildung in den nächsten zehn Jahren. Wer eine handlungsfähige, zukunftsfähige, soziale und hoffnungsvolle Politik betreiben will, darf sich nicht in selbstauferlegten Ketten des Sparzwangs legen.

Wichtig zu betonen ist: Die Herstellung von Sicherheit ist immer präventiv, da sie darauf abzielt, zukünftige Bedrohungen zu verhindern. Eine militärische Stärkung ist daher eine Maßnahme, die dem Risiko zuvorkommt. Dabei werden wir intensive Debatten führen. Das bedeutet aber auch, dass in Zeiten wie diesen eine ehrliche und offene Kommunikation, die für das Verständnis und die Bewusstseinsbildung der derzeitigen Situation wirbt, unerlässlich ist.

Der Schutz vor existenziellen Gefahren wie Kriegen oder der Klimakrise erfordert hohe Investitionen und das Überdenken der Status-quo-Politik. Wir können uns ein Nichthandeln nicht leisten, zu viel steht auf dem Spiel. Es geht um Frieden, Demokratie und Wohlstand in Europa. Die regelbasierte Ordnung der Zukunft wird in der Ukraine entschieden. Verliert die Ukraine, verlieren wir gleich mit.

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