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Über den Umgang der EU mit antiliberalen Mitgliedstaaten Musterschüler auf Abwegen

In einer mittlerweile legendären Rede im Jahr 2014 stellte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán fest, sein Land sei eine »illiberale Demokratie«. Die Schnappatmung, die diese Proklamation hervorgerufen hatte, hält bis heute an. Für viele, wie etwa den Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller, ist diese Wendung ein Oxymoron: »Es kann (...) keine in ihren politischen Grundstrukturen ›illiberale Demokratie‹ geben (…): keine Demokratie ohne politische Grundrechte und intakten Medienpluralismus sowie effektiven juristischen Schutz dieser Infrastruktur der kollektiven Willensbildung«, schreibt Müller 2019 in seinem Essay Furcht und Freiheit. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer »mutwillig beschädigten Demokratie«, andere schreiben Ungarn – und auch Polen unter Führung der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) – einen autoritären Charakter zu. Sicher ist: Beide Länder verfolgen eine in Theorie und Praxis dezidiert antiliberale politische Linie. Das hat nicht zuletzt das Notstandsgesetz gezeigt, dass das ungarische Parlament Ende März angesichts der COVID-19-Pandemie verabschiedet hatte, und das Orbán zunächst zeitlich unbegrenzt das Regieren per Dekret erlaubte.

Das Ringen um eine politiktheoretische Klassifikation spiegelt sich aber auch ganz konkret auf realpolitischer Ebene wider, allen voran im Umgang der Europäischen Union (EU) mit ihren beiden Mitgliedstaaten. So haben Ungarn und Polen über die Jahre hinweg immer wieder gegen Grundwerte der Union verstoßen, die in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) festgelegt sind: »Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören«. Daneben befördert der konfrontative und provokative Politikstil beider Regierungen nicht gerade die Verständigung mit und das Verständnis bei den Unionspartnern. Deren Handlungsspielraum im Umgang mit diesen antiliberalen Mitgliedstaaten ist zwar gegeben, aber letztlich doch begrenzt: Die EU mahnt, droht und nutzt mittlerweile alle juristisch möglichen Stellschrauben, um Ungarn und Polen insbesondere zur Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit anzuhalten, und zwar in einer gefühlten Endlosschleife. Das ultimative Szenario, ein Rausschmiss aus der Gemeinschaft, steht vertraglich nicht zur Verfügung, selbst wenn man ihn wollte (was man aber nicht will). Und die EU auf Eigeninitiative hin selbst zu verlassen, kommt für beide Länder (noch) nicht infrage – zu groß wäre der finanzielle, aber sicherlich auch der ideelle Verlust. Vor dem Hintergrund dieser Pattsituation stellt sich die alles andere als leicht zu beantwortende Frage, wie die EU mit antiliberalen Mitgliedstaaten künftig weiter umgehen will und, vor allem, umgehen kann. Mögliche Antworten und Szenarien lassen sich dabei nach ihrer institutionellen und motivationalen Natur unterscheiden.

Der politische Wille zählt – und fehlt

Institutionell gesehen hat die EU bislang ihre stärksten juristischen Druckmittel bereits angewandt, vor allem das Vertragsverletzungsverfahren und die Einleitung des Suspendierungsverfahrens nach Artikel 7 EUV zum Schutz der Grundwerte der Union. Gerade letzteres ist zwar ein deutliches politisches Signal, es wird aber in letzter Konsequenz nicht erfolgreich sein. Die Verletzung der Grundwerte kann nämlich vom Europäischen Rat, also von den Staats- und Regierungschefs aller EU-Länder, nur einstimmig festgestellt werden. Die Vertragsverletzungsverfahren hingegen seien einigermaßen effektiv, um zumindest graduelle Verbesserungen zu erwirken, sagt Ellen Bos, Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa in der EU an der Andrássy Universität Budapest; sie könnten aber konsequenter und zügiger angewandt werden. Allerdings seien sie letztlich nicht ausreichend, um die beiden Mitgliedstaaten zu wirklichen Konzessionen zu bewegen, kritisiert Gabór Halmai, Professor für Vergleichendes Verfassungsrecht am European University Institute (EUI). Ihm zufolge seien dafür einzig Maßnahmen geeignet, die die Auszahlung von EU-Geldern an strenge Bedingungen knüpfen und auch Sanktionen bei Verstößen vorsehen. »Das heißt aber nicht, dass das langfristig die Lösung des Umgangs der EU mit diesen Mitgliedstaaten ist«, betont er.

Denn der Jurist verweist auf ein übergeordnetes Problem: dass es der EU als Gesamtorganisation an vielen Stellen klar an politischem Willen mangele, rechtliche Konsequenzen durchzusetzen. Seine Kritik ist entsprechend scharf: »Die juristischen Mittel sind alle vorhanden, damit die EU auf die Verstöße Ungarns und Polens angemessen reagieren kann, aber letztlich passiert so gut wie gar nichts.« Das zeige sich auch anhand der Tatsache, dass die größte Fraktion im Europäischen Parlament, die Europäische Volkspartei (EVP), weiterhin uneinig darüber ist, ob sie die Abgeordneten der ungarischen Regierungspartei Fidesz ausschließen will oder nicht – ein solcher Ausschluss würde die Stabilität der stärksten Fraktion im Parlament gefährden. »Solche Überlegungen dominieren oft in der Haltung gegenüber den Werteverletzungen. Das betrifft zwar alle Parteifamilien, insbesondere aber die EVP. Und Viktor Orbán weiß das sehr genau auszuspielen«, konstatiert Ellen Bos. Der mangelnde politische Wille erstreckt sich allerdings auch auf das Interesse innerhalb der EU, sich ernsthaft zu bemühen, die festgefahrene Situation aufzulockern. Das habe, Bos zufolge, insbesondere die Rückbesinnung auf nationale Interessen im Rahmen der Corona-Pandemie gezeigt – »im Sinne eines Reflexes, sofort an nationale Versorgung zu denken, die Grenzen zu schließen«.

Stattdessen ist laut den Expert*innen vor allem eine tiefgehende Wertedebatte erforderlich. Dass diese bislang nicht ernsthaft und systematisch geführt wurde, kann wohl auch als Ausdruck des schwierigen Ringens um (Deutungs-)Macht verstanden werden: »Man könnte natürlich einerseits sagen, dass es einige objektive Grundprinzipien gibt, eine bestimmte Auffassung liberaler Demokratie, in die alle Staaten beim EU-Beitritt eingewilligt haben; man könnte aber auch sagen, europäisch in diesem Wertesinne ist das, was nun 27 Mitgliedstaaten einvernehmlich festlegen«, erläutert Kai-Olaf Lang, Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er verweist dabei auch auf ein gewachsenes Selbstbewusstsein besagter Mitgliedstaaten, die sich einer als paternalistisch wahrgenommenen Vorstellung von »Angleichung« an die etablierten Mitglieder widersetzten. Ähnlich sieht dies auch Ellen Bos: »Ungarn und Polen haben diese Rolle des Musterschülers, der möglichst schnell die westlichen Standards erfüllen möchte, abgelegt und wollen als gleichberechtigter Spieler wahrgenommen werden. Die etablierten Mitgliedstaaten haben diesen Rollenwandel allerdings oftmals nicht wirklich nachvollzogen.« Die Politikwissenschaftlerin plädiert für mehr Empathie auf beiden Seiten, um Vertrauen wiederherzustellen – so weit jedenfalls, dass man wieder vernünftig an einem Tisch verhandeln könne. Dazu müssten Vertreter*innen der EU-Institutionen auch die Bereitschaft zeigen, erst einmal zuzuhören und nicht gleich zu verurteilen. »Das geht manchmal zu schnell, und die EU könnte manche Anliegen durchaus ernster nehmen.«

Die Schwierigkeit hierbei liegt natürlich darin zu bestimmen, wie weit dieser Empathieprozess gehen kann und sollte – wo das Verstehenwollen aufhört, wo und wie klar gemacht werden muss, dass rote Linien überschritten werden. Angesichts der systematischen Aushebelung rechtsstaatlicher Prinzipien, der Verletzung der Pressefreiheit und insbesondere auch des Angriffs auf die Rechte von Minderheiten in beiden Ländern ist diese Art der motivationalen Politikgestaltung insofern eine diffizile Gratwanderung; die Gefahr, damit zu einer Art appeasement beizutragen, Vorgänge zu dulden, die unter demokratischen Gesichtspunkten nicht geduldet werden dürfen, steht zumindest im Raum. Neben den juristischen Mitteln, die nach Ansicht der Expert*-innen weiterhin umfassend und optimierter eingesetzt werden sollten, scheint dieser Weg dennoch richtig und wichtig zu sein. Er stärkt die Hoffnung auf ein zumindest einigermaßen funktionierendes Nebeneinander auf der Grundlage einiger unumstößlicher Werte, zumal Ungarn und Polen eine informelle Zweiteilung der EU laut Ellen Bos strikt ablehnen. Aktives Zuhören und eine stärkere Bereitschaft zur Empathie kann vonseiten der EU als Institution möglich und sinnvoll sein – allerdings nur dann, wenn allen Beteiligten klar ist, dass politische Empathie rein als Fähigkeit verstanden wird, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen. Sie bedeutet keinesfalls, dass man die Perspektive des anderen automatisch gutheißen muss.

Ist diese Prämisse gegeben, könnten sich die EU als Institution und besagte Mitgliedstaaten vor allem über bestimmte Politikbereiche (wieder) annähern: »In einigen haben diese Länder durchaus Interesse an einer funktionierenden europäischen Integration«, sagt Kai-Olaf Lang. Dies betreffe nicht nur die Energiepolitik, die insbesondere für Polen wichtig ist, um dessen Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Auch die Kohäsions- und Agrarpolitik habe in beiden Ländern eine große Bedeutung, »und das nicht nur, weil es dabei ums Geld geht. Der breitere Hintergrund ist, so meine These, dass gerade Fidesz und die PiS eine Modernisierungspolitik ihrer Länder betreiben«. Dabei seien sie auf die Unterstützung der EU angewiesen. Auch auf der Ebene der bilateralen Beziehungen sieht Lang einiges Potenzial dafür, dass sich die Beziehungen auch auf der gesamten EU-Ebene graduell verbessern.

Letztlich könnte auch die Corona-Krise manches dazu beitragen, dass die EU als Institution wieder handlungsfähiger wird – dann nämlich, wenn sie zeigen könne, dass es wertvoll sei, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, »und auch Mittel mobilisiert, die nationalstaatlich nicht zu mobilisieren sind«, wie Ellen Bos betont. Dann hätte die EU als Ganzes vielleicht einen weiteren, motivationalen Hebel in der Hinterhand, um ihre Mitgliedstaaten mit einigem Nachdruck daran zu erinnern, dass ihre Grundwerte eben nur bedingt optional und Auslegungssache sind. Dies ist laut den Expert*innen auch deshalb wichtig, weil andere Mitglieder wie Bulgarien und Rumänien diesbezüglich ebenfalls einigen Anlass zur Besorgnis geben.

Die Krise zwischen der EU als Institution und ihren antiliberalen Mitgliedstaaten wird sich also auch auf absehbare Zeit nicht lösen lassen – bis es vielleicht zu einem innenpolitischen Wandel in diesen Ländern kommt. Die große (und gleichzeitig mit Makeln und Ambivalenzen behaftete) Teilvision der EU als Friedens- und Wertegemeinschaft ist damit wohl kurz- und mittelfristig nicht zu aktivieren. Realistischer erscheint ein sehr nüchterner, realpolitischer Umgang miteinander, der um die Potenziale und Grenzen der Zusammenarbeit weiß. Trotzdem lohnt es sich die Haltung nicht aufzugeben, dass das zähe Ringen um Werte letztlich für die Bürger*innen der Europäischen Union unabdingbar ist – die, in all ihrer Pluralität, allesamt ein Recht auf Achtung ihrer Menschenwürde, auf Wahrung ihrer Menschenrechte, auf Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit haben.

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