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Nach 200 Jahren: Von Marx lernen, heißt …?

»Wir ehren nicht nur einen der größten Universalgelehrten, der sich für Wirtschaft, Philosophie, Geschichte, Kunst, Sprachen, Anthropologie und viele andere Themen interessierte. Als Sozialdemokraten ehren wir den (neben Engels, Lassalle oder Bebel) wohl wichtigsten Ahnherren der SPD, aber auch den überragenden Kritiker des Kapitalismus, den Theoretiker des Sozialismus und Organisator der frühen Arbeiterbewegung. Besser als Willy Brandt kann man es nicht ausdrücken: ›Was immer andere aus Marx gemacht haben mögen, für die Sozialdemokratie war es zu allen Zeiten das Streben nach Freiheit, nach Befreiung der Menschen aus Knechtschaft und unwürdiger Abhängigkeit, nach Selbstbestimmung und Gleichheit, was sie im Werk von Marx fanden und ihrem Handeln zugrunde legten.‹« Mit diesen bewegenden Worten würdigte Malu Dreyer den berühmtesten Sohn Triers zum Auftakt des SPD-Festaktes am 4. Mai 2018, einen Tag vor dem 200. Geburtstag von Karl Marx.

Die zum Abschluss des Gedenkjahres vorgelegte Anthologie Klasse, Kapital und Revolution, die auf einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Universität Bonn organisierten Ringvorlesung basiert, umfasst 15 pointierte Kennerblicke auf Marx. Der Bogen spannt sich von der damaligen Festaktrede der SPD-Parteivorsitzenden Andrea Nahles, die an den erneut gefragten marxschen Ansatz erinnerte, aus technologischem Fortschritt sozialen Fortschritt zu machen, über historische, politikwissenschaftliche und ökonomische Analysen, bis hin zum Beitrag von Enguo Zhao, der wertvolle Einblicke in die aktuelle chinesische Marx-Rezeption gibt.

In Europa ist durch den Zusammenbruch des sowjetischen Marxismus-Leninismus die Beschäftigung mit Marx (von letzten Mohikanern des Kommunismus mal abgesehen) nicht mehr ideologisiert und dogmatisiert. Der Sammelband führt vor, wie eine vorurteilsfreie Beschäftigung heute Historisierung und Geschichtsvermittlung bedeutet, aber auch, wie von marxistischen Theoremen und Theorien nach wie vor wissenschaftliche Impulse ausgehen, wie in den zentralen Zukunftsdebatten postmarxistische Deutungsmuster wieder präsent sind: Egal, ob es um die Finanzkrise 2007/08 geht, um die durch Thomas Piketty beförderte Ungleichheitsdebatte oder den digitalen Kapitalismus, für alle Themen gilt das Motto: »Klassiker sind Philosophen nicht, wenn sie im Regal ideengeschichtlich archiviert werden, sondern dann, wenn ihr Werk zum eigenen Nachdenken provoziert«, so Michael Quante.

Marx wird nicht mehr als der Schurke verteufelt, der an allen Verbrechen derjenigen schuld gewesen sein soll, die sich, oft zu Unrecht, auf ihn beriefen. Marx wird auch nicht mehr als Ikone verklärt wie in der neomarxistischen Neuen Linken der 60er und 70er Jahre. Ganz im Gegenteil setzt sich etwa Beatrix Bouvier höchst kritisch mit der Bildvermittlung des »Mohr« auseinander. Wobei ein Beitrag über den heute kulturalisierten Kapitalismus und die kuriosen Erscheinungsformen seiner Vermarktung (neben dem Marx-Wein und dem Marx-Ampelmännchen gibt es z. B. die Marx-Tasse »Opium fürs Volk« ebenso wie die Marx-Badeente) den Band gut hätte ergänzen können.

Vielmehr wird Marx aus Sicht der sozialen Demokratie interpretiert und differenziert beurteilt. Bleiben wird sein »humanistischer Imperativ« (Thomas Meyer), »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtlichtes Wesen ist«. Bleiben wird eine politische Ökonomie, die das strukturell verankerte Motiv der Profitmaximierung aufdeckt, was ohne Regulierung und Eingrenzung Widersprüche, Instabilitäten und Krisen eines immer globaleren Kapitalismus freisetzt. Bleiben wird diese großartige Utopie einer Gesellschaft der Freien und Gleichen ohne Entfremdung in der Arbeit, der Menschen zueinander, im Verhältnis zur Natur.

Marx hat als Erster definiert, was den Kapitalismus im Kern ausmacht, worauf Ulrike Herrmann hinweist: »Ziel ist nicht die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern die Akkumulation an sich.« Die moderne Wirtschaft ist ein permanenter Prozess, kein Zustand. Gerade seine Analyse des Konzentrationsprozesses, in dem für ihn allerdings der Untergang des Kapitalismus selbst angelegt ist, war vorausschauend: Der Kapitalismus neigt heute mehr denn je zum Oligopol. Und dies weltweit, der marxsche Begriff des Weltmarktes, die internationale Steigerungslogik des Kapitalismus liest sich als scharfsinnige frühe Prognostik der heutigen Globalisierung: »Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen« – so beginnt das berühmte Zitat aus dem Manifest der Kommunistischen Partei.

Bei Oliver Nachtwey lesen wir hierzu, Marx habe damit und anderswo bereits »die populistische Konstellation als Folge der Globalisierung«, die die Sozialwissenschaften derzeit umtreibt, vorweggenommen. Die Konfliktlinie zwischen kosmopolitisch orientierten Globalisierungsbefürworten und regressiven Modernisierungsgegnern ist tatsächlich keine Neuerfindung, sie war in der Geschichte des Kapitalismus wiederholt virulent. Nachtwey verweist darauf, wie Marx die Machtfarce von Louis Bonaparte, einer »mittelmäßigen und grotesken Personage« im »Spiel der Heldenrolle«, schildert und sieht darin eine Parallele zu Donald Trump, wobei die französischen Parzellenbauern des 19. Jahrhunderts die gleiche Rolle wie die Arbeiter des Rust Belt in den USA gespielt hätten. Das Beispiel zeigt, wie große Texte auch dadurch weiterwirken, dass sie immer wieder zu Assoziationen anregen, Anknüpfungspunkte und Argumente selbst für aktuelle Debatten liefern.

Und natürlich gab es Irrtümer. Die Verelendungstheorie war zunächst widerlegt, Marx konnte nicht wissen, dass der Kapitalismus auch eine breite Mittelschicht hervorbrachte. Trotzdem stimmt eine seiner zentralen Denkfiguren derzeit wieder, »dass Gesellschaften wohlhabender werden, aber gleichzeitig ein Teil der Bevölkerung nach unten (bei Marx: ins Proletariat) gedrückt wird« (Nachtwey). Auch die Mehrwerttheorie, nach der Mehrwert allein durch menschliche Arbeit geschaffen wird, ist kaum belegbar. Schon Eduard Bernstein wies darauf hin, dass Ausbeutung empirisch feststellbar sei und nicht theoretisch abgeleitet werden müsse. Auch dass das Geld eine Ware sei, an das Gold gekoppelt, erwies sich als falsch. Es ist vielmehr eine soziale Konvention, Wirtschaftswachstum entsteht gerade dadurch, dass Geld über Kredite, Finanztransaktionen usw. fast beliebig vermehrbar ist.

Problematisch sind sicherlich »Pferdefüße« (Thomas Meyer) des vielschichtigen marxschen Werkes, das ein tiefer Zwiespalt zwischen Reform und Revolution durchzieht und das den Gegensatz zwischen gesellschaftlicher Planung der gesamten Produktion und freier spontaner Selbstorganisation der Produzenten nicht aufzulösen vermag. Marx gelang es kaum, die Analyse der Widersprüche des Kapitalismus begrifflich-systematisch mit der erlösenden Verheißung zu verbinden. Derartige Vieldeutigkeit wie auch die Einordnungen des – zuletzt eher pragmatischen (so Christian Krell) – Nachlassverwalters Friedrich Engels, enthielten Keime späterer Auseinandersetzungen in der Arbeiterbewegung und unter Linken. Anarcho-syndikalistische, marxistisch-leninistische, sozialdemokratische, westeuropäisch-neomarxistische und andere Interpretationen konnten an Marx anknüpfen – hier empfiehlt sich als ergänzende Lektüre die lebendige Erfahrungsgeschichte Die Erfindung des Marxismus: Wie eine Idee die Welt eroberte von Christina Morina, die diese als Projekt der nächsten Generation (u. a. Bernstein, Karl Kautsky, Viktor Adler, Rosa Luxemburg, Georgi W. Plechanow und Wladimir Iljitsch Lenin) beschreibt.

Im vorliegenden Sammelband ist auch schon einmal von einem »Hype« oder gar einer »Marxmania« die Rede, wobei aber wohl doch der Wunsch Vater des Gedankens war. Immer noch halten die meisten Menschen sozialistisch-marxistische Positionen für veraltet oder für zu verstrickt in Diktaturerfahrung. Letztlich waren die Besucherzahlen der Marx-Ausstellungen in Trier 2018 doch überraschend gering: Nur rund 160.000 Interessierte konnten sie anlocken; 270.000 waren es zuvor beim kaiserlichen Bösewicht Nero und gar 350.000 bei Kaiser Konstantin, der Rom zum christlichen Imperium machte. Machen wir uns nichts vor: Das Spektrum links der Mitte und die Konzepte sozialer Demokratie stecken mitten in einer tiefen Vertrauenskrise. Der Neoliberalismus, die Vernachlässigung der »kleinen Leute«, Globalisierung und Migration haben nicht das Interesse an Marx gestärkt, sondern Ängste und Vorurteile, den Rechtspopulismus und autoritären Nationalismus befördert.

Der Sammelband, der ein breiteres »Comeback« beschwört, gibt immerhin eine Einführung, die zur vertiefenden Lektüre neuerer Marx-Biografien wie die von Jürgen Neffe, Thomas Steinfeld oder Gareth Stedman Jones, oder gar der Schriften von Marx (und Engels) selbst, anregen kann. Denn tatsächlich hat manch aktuelles Menschheitsproblem, ob Ungleichheit, Entfremdung, Finanzkrise, digitale Kapitalkonzentration oder Klimakatastrophe, mit der ungebremsten kapitalistischen Dynamik zu tun. Vielleicht dachte sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier daran, dass die Destruktionskräfte des Kapitalismus umso verheerender wirken, je reiner der Kapitalismus herrscht, als er in Trier formulierte: »Der 200-Jährige hat uns verblüffend viel zu sagen über unsere Zeit«.

Jochen Dahm/Frank Decker/Thomas Hartmann (Hg.): Klasse, Kapital und Revolution. 200 Jahre Marx, J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2018, 200 S., 14 €.

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