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Nach 50 Jahren: Nukleare Nichtverbreitung vor dem Dammbruch

 

Derzeit haben wir es mit neun Atomwaffenstaaten zu tun: den USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Pakistan und Nordkorea. Sie alle haben Kernwaffen getestet. Dies trifft nicht auf Israel zu, das seinen Atomwaffenbesitz nie bestätigte. Dennoch ist es ein offenes Geheimnis, dass auch Tel Aviv über Nuklearwaffen verfügt.

Ein wichtiger Grund, warum es bisher gelang, die Anzahl der Atomwaffenmächte relativ gering zu halten, ist der vor rund 50 Jahren in Kraft getretene Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV). Er etablierte eine internationale Norm gegen die Verbreitung von Kernwaffen. Seit einiger Zeit ist diese Norm gefährdet. Viele Nichtkernwaffenstaaten sind mit den im NVV versprochenen atomaren Abrüstungsbemühungen der Kernwaffenmächte und auch mit der Existenz von Atommächten außerhalb des NVV seit Jahren massiv unzufrieden. Als Ausdruck dessen haben sie im Juli 2017 im Rahmen der Vereinten Nationen einem Vertrag über das vollständige Verbot von Atomwaffen zugestimmt.

Entstehung und Errungenschaften

Aufgeschreckt durch die nur mit einigem Glück überstandene Kuba-Krise von 1962 intensivierten die USA ihre Bemühungen um einen Vertrag über die nukleare Nichtverbreitung. Die Sowjetunion teilte das amerikanische Interesse, zusätzliche atomare Störfaktoren zu verhindern. Beide Supermächte des Kalten Krieges wollten ihre Sonderstellung im internationalen System zementieren. Moskau sah überdies die Chance, durch einen Nichtverbreitungsvertrag die damaligen Pläne für eine multilaterale Atomstreitmacht der NATO zu durchkreuzen und der Bundesrepublik Deutschland den Zugang zu Atomwaffen zu verwehren.

Der NVV wurde im Juni 1968 von der UN-Generalversammlung angenommen und am 1. Juli 1968 von 62 Staaten unterzeichnet. Das Abkommen trat am 5. März 1970 in Kraft und ist nach einer entsprechenden Entscheidung der Vertragsstaaten vom 11. Mai 1995 unbefristet gültig.

Als Kernwaffenstaaten gelten gemäß NVV diejenigen Länder, die vor dem 1. Januar 1967 eine Kernwaffe oder einen sonstigen Kernsprengkörper hergestellt und gezündet haben. Dies haben die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China getan. Sie dürfen Atomwaffen und sonstige nukleare Sprengkörper oder die Verfügungsgewalt darüber an niemanden unmittelbar oder mittelbar weitergeben. Die USA haben der Sowjetunion unwidersprochen ihre Auffassung mitgeteilt, wonach weder eine gemeinsame nukleare Einsatzplanung der NATO noch eine Stationierung amerikanischer Atomwaffen auf dem Territorium ihrer Alliierten gegen diese Regelung verstoßen. Umgekehrt verpflichten sich Nichtkernwaffenstaaten, Atomwaffen oder die Verfügungsgewalt darüber von niemandem anzunehmen, und Kernwaffen oder sonstige Kernsprengkörper weder herzustellen noch zu erwerben. Nichtkernwaffenstaaten müssen Sicherungsabkommen mit der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) mit Sitz in Wien abschließen, die den gesamten Fluss spaltbaren Materials überprüft. Zugleich sollen alle Vertragsparteien bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie zusammenarbeiten. Schließlich verpflichten sich die NVV-Mitglieder, in redlicher Absicht Verhandlungen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens und zur nuklearen Abrüstung unter wirksamer internationaler Kontrolle zu führen.

Die größte Errungenschaft des NVV besteht in der Etablierung einer Norm gegen die Verbreitung von Atomwaffen. Daher mussten einige Staaten, darunter auch in Europa, die sich eine nukleare Option für die Zukunft offenhalten wollten, Farbe bekennen. Die meisten entschieden sich in der Folge für den Status als Nichtkernwaffenstaat. Darüber hinaus erleichtert die Existenz des NVV die Bildung internationaler Koalitionen gegen die Entstehung neuer Atomwaffenstaaten. Dies gelang zwar nicht in den Fällen Indien, Pakistan und Israel (die alle dem NVV nicht beigetreten sind) und auch bezüglich Nordkorea und Iran muss offenbleiben, ob es jemals gelingen wird, Pjöngjang von einer atomaren Umkehr und Teheran von einem dauerhaften nuklearen Verzicht zu überzeugen. Ohne den NVV drohten jedoch vielleicht noch mehr Kernwaffenprogramme. Die Großmächte würden sie womöglich je nach ihrer nationalen Interessenlage unterstützen.

Ferner hat die Umsetzung des NVV im Zuge der IAEO-Sicherungsabkommen die Transparenz und Zusammenarbeit hinsichtlich friedlicher Kernenergieprogramme gefördert. Ohne den NVV entfiele die rechtliche Grundlage für eine solche Offenheit, sodass eine erhebliche Unsicherheit über heimlichen militärischen Missbrauch entstünde.

Diejenigen, die weitere Schritte bei der nuklearen Abrüstung einfordern, nutzen den NVV überdies, um auf die dort verbrieften Versprechen zu verweisen. Schließlich ist der NVV der Bezugspunkt für negative nukleare Sicherheitsgarantien. So wollen die USA Atomwaffen nicht gegen NVV-Mitglieder einsetzen, die sich an dessen Bestimmungen halten.

Durchsetzung

Die Durchsetzung der nuklearen Nichtverbreitungsnorm setzt die effektive Überwachung ziviler Kernenergieprogramme voraus, um militärischen Missbrauch auszuschließen. Die IAEO führt entsprechende Inspektionen durch. Ihr Ziel ist die Vermeidung der heimlichen Abzweigung einer signifikanten Menge von Nuklearmaterial zur Herstellung von Atomwaffen. Das IAEO-Inspektionsregime litt aber von vornherein darunter, dass die Organisation nicht-deklariertes Kernmaterial mangels entsprechender Kontrollmöglichkeiten nicht aufklären konnte. Diese Schwäche trat nach dem Golfkrieg 1991 offen zutage. Das NVV-Mitglied Irak hatte mit nicht gemeldetem Kernmaterial Experimente mit dem Ziel der Atomwaffenherstellung durchgeführt. Dieses irakische Parallelprogramm wies keine erkennbaren Berührungspunkte mit dem von der IAEO überwachten Nuklearprogramm auf.

Die IAEO lernte aus dieser Erfahrung. Sie verabschiedete im Juni 1997 ein freiwilliges Zusatzprotokoll. Dieses weitet die Informationspflichten erheblich aus. Sämtliche Anstrengungen im nuklearen Bereich, einschließlich Forschungsaktivitäten, müssen gemeldet werden. Zusätzlich bekommen die Inspektoren verbesserte Zugangsmöglichkeiten und können fortgeschrittene Techniken wie Wischproben, Umweltproben oder Satellitenaufnahmen nutzen.

Während viele westliche Länder die Anwendung des Zusatzprotokolls als Standard der NVV-Verifikation einfordern, verweigern sich dem eine Reihe von NVV-Mitgliedern, darunter auch solche mit bedeutsamen Nuklearaktivitäten, wie beispielsweise Brasilien. Sie wollen die mit der Umsetzung des Zusatzprotokolls einhergehende Einschränkung ihrer staatlichen Souveränität nur akzeptieren, wenn die Kernwaffenstaaten Fortschritte bei der atomaren Abrüstung machen.

Zudem kann die IAEO die NVV-Nichtverbreitungsnorm nicht selbst durchsetzen. Sie stellt auch keine NVV-Verletzungen fest, sondern nur solche gegen das Sicherungsabkommen. Solches Fehlverhalten kann die IAEO dem UN-Sicherheitsrat melden, der gemäß UN-Charta Zwangsmaßnahmen gegen den betreffenden Staat ergreifen kann. Der UN-Sicherheitsrat hat etwa in den Fällen Nordkorea und Iran Sanktionen erhoben. Während Pjöngjang ungeachtet dessen den NVV verließ und sein Atomwaffenprogramm fortsetzte, gelang im Fall Iran eine Einigung auf den »Joint Comprehensive Plan of Action« (JCPOA). Ziel war es, Iran wieder zu einem NVV-Mitglied in Übereinstimmung mit dessen Regeln zu machen. Einen Sonderfall stellt Syrien dar. Ein dort offenbar von Nordkorea gelieferter und der IAEO nicht gemeldeter Reaktor zur Herstellung von waffenfähigem Plutonium wurde im September 2007 von der israelischen Luftwaffe kurz vor seiner Inbetriebnahme zerstört. Die näheren Umstände des syrischen Atomprogramms konnten bislang nicht aufgeklärt werden.

Streit um die Abrüstung und möglicher Dammbruch

Viele Nichtkernwaffenstaaten finden die Existenz der Kernwaffenstaaten Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea außerhalb der durch den NVV gestifteten nuklearen Ordnung kaum erträglich. Dies gilt besonders für arabische Länder. 1995 waren sie nur bereit, den NVV unbefristet zu verlängern, indem zugleich in einer Nahostresolution Schritte zur Errichtung einer massenvernichtungswaffenfreien Zone in der Region gefordert wurden. Dass es bei diesem Vorhaben, das aus arabischer Sicht in der Aufgabe von Atomwaffen seitens Israels münden sollte, bisher keine Fortschritte gab, frustriert viele arabische Staaten.

Hinzu kommt der bereits seit vielen Jahren stattfindende Streit um die nukleare Abrüstung. Zwar haben die Kernwaffenmächte nach dem Ende des Kalten Krieges ihre nuklearen Arsenale massiv verringert; zugleich werden jedoch leistungsfähigere Systeme eingeführt. Zudem rüsten China, Indien und Pakistan auch zahlenmäßig nuklear auf. Vor allem aber bricht die seit den 60er Jahren errichtete Rüstungskontrollarchitektur in sich zusammen. Das Ende des INF-Vertrags über das Verbot landgestützter amerikanischer und russischer Mittelstreckensysteme vom August 2019 ist in dieser Hinsicht einschlägig. Immer wieder aufgestellte Forderungen nach dem Inkrafttreten des umfassenden nuklearen Teststoppvertrages, eines Abkommens zum Verbot der weiteren Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffen oder gar eines Zeitplans für die nukleare Abrüstung liefen ins Leere. Vor diesem Hintergrund wurde am 6. Juli 2017 in der UN-Generalversammlung ein Vertrag über das komplette Verbot von Atomwaffen angenommen. Ziel dieses Abkommens ist die Stigmatisierung von Kernwaffen. Die Atomwaffenstaaten, sämtliche NATO-Staaten (abgesehen von den Niederlanden, die aufgrund eines Parlamentsbeschlusses zur Entsendung einer Delegation verpflichtet waren) sowie alle US-Verbündeten in Asien (einschließlich Japan, das einzige Land, das jemals Opfer des Abwurfs von Kernwaffen wurde), die sich auf amerikanische nukleare Sicherheitsgarantien verlassen, blieben den Verhandlungen fern. Sie verwiesen darauf, dass das Abkommen auf die zentrale Frage, wie die völlige nukleare Abrüstung zweifelsfrei sichergestellt und wie Sorge getragen werden könne, dass es dann auch dabei bliebe, keine befriedigende Antwort bereithalte.

Die NVV-Vertragsstaatengemeinschaft ist also zutiefst zerstritten. Dies ist umso gefährlicher, als die Norm gegen die Verbreitung von Atomwaffen womöglich schon bald vor ihrer ultimativen Bewährungsprobe steht. Sollte es nämlich nicht gelingen, Iran, das im Rahmen des NVV völkerrechtlich verbindlich Kernwaffen entsagte, weiterhin vom Zugang zu Atomwaffen fernzuhalten, droht ein nuklearer Dammbruch. Dieser ist seit dem einseitigen amerikanischen Austritt aus dem 2015 vereinbarten JCPOA wahrscheinlicher geworden. Zwar bemühen sich Deutschland, Frankreich und Großbritannien nach Kräften, das Abkommen dennoch aufrecht zu erhalten, doch stehen die Chancen dafür schlecht. Viele iranische Hardliner würden sich lieber heute als morgen aus allen Verpflichtungen verabschieden und auf den Atomwaffenpfad zurückkehren. Sollte dieser Fall eintreten, dürfte Irans Kontrahent Saudi-Arabien seine Ankündigung wahrmachen und ebenfalls versuchen, sich Nuklearwaffen zu verschaffen. Aus neun Atomwaffenstaaten wären elf geworden. Vor allem aber wäre die durch den NVV etablierte nukleare Nichtverbreitungsnorm vermutlich entscheidend durchlöchert. Fraglich wäre, ob Atomkriege dann noch lange verhindert werden könnten.

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