In der Geschichte spannender Wahlauseinandersetzungen, an denen die Bundesrepublik seit 1949 wahrlich nicht arm war, ragt die bevorstehende Bundestagswahl 2021 schon jetzt durch zwei Besonderheiten hervor. Die erste betrifft die personelle und parteipolitische Ausgangslage. Noch nie zuvor hat ein amtierender Bundeskanzler – in diesem Fall eine Bundeskanzlerin – darauf verzichtet, bei einer Wahl erneut zu kandidieren. Diese Konstellation bringt die Unionsparteien im Wahljahr in eine undankbare, fast unmögliche Situation. Sie müssen mit einem neuen Kandidaten in eine Wahlauseinandersetzung gehen, die gleichzeitig ein Votum über die Regierungsbilanz der scheidenden Amtsinhaberin sein wird. Dass es dem Kandidaten unter diesen Bedingungen nur schwer möglich sein wird, eigene Akzente zu setzen, liegt auf der Hand. Nur bei einem unumstrittenen Anwärter auf die Nachfolge wäre das vielleicht verschmerzbar gewesen.
Angela Merkels Favoritin Annegret Kramp-Karrenbauer, die 2017 ihr Ministerpräsidentenamt im Saarland aufgegeben hatte und als Generalsekretärin nach Berlin gewechselt war, galt nach ihrer Wahl zur neuen Vorsitzenden auf dem Hamburger Parteitag im Dezember 2018 auch für die Kanzlernachfolge als gesetzt. Sie ließ freilich schon bald Zweifel an ihren Führungsqualitäten aufkommen, wofür neben selbstverschuldeten Fehlern auch der übermächtige Schatten Merkels verantwortlich war. Im Februar 2020 musste Kramp-Karrenbauer hilflos mitansehen, wie der CDU-Landesverband in Thüringen ihre Autorität untergrub, als er die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten des Landes zusammen mit den Stimmen der rechtspopulistischen AfD ermöglichte. Daraufhin erklärte sie ihren Verzicht auf die Kanzlerkandidatur und den Rücktritt vom Parteivorsitz. Die ursprünglich vorgesehene Neuwahl auf einem Parteitag im Mai 2020, mit der auch eine Vorentscheidung über die Kanzlerschaft verbunden sein sollte, wurde wegen der Corona-Pandemie zweimal verschoben und fand schließlich als digitaler Parteitag Mitte Januar 2021 statt. Ob der neue Parteivorsitzende auch Kanzlerkandidat wird, entscheidet sich voraussichtlich erst nach den Landtagswahlen im Frühjahr.
In dem im Februar 2020 eröffneten Ringen um die Nachfolge warfen neben Friedrich Merz, der schon 2018 gegen Kramp-Karrenbauer angetreten war, auch Norbert Röttgen und der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet ihren Hut in den Ring. Laschet gelang dabei insofern ein Coup, als er mit Gesundheitsminister Jens Spahn, der sich 2018 ebenfalls um den Parteivorsitz beworben hatte, einen Exponenten des konservativen CDU-Flügels und Vertreter der jüngeren Generation in seine Kandidatur einband. Auch deshalb wurden ihm von den professionellen Beobachtern die größten Siegchancen eingeräumt. Als Laschet und Spahn ihre »Tandemlösung« am 25. Februar 2020 vor der deutschen Öffentlichkeit verkündeten, konnte noch niemand ahnen, dass nur wenige Tage später eine Krise über das Land hereinbrechen würde, deren Wucht die politische Agenda und damit auch die Vorzeichen des Bundestagswahlkampfs und Rennens um die Kanzlerschaft total verändern sollte.
Bis zum epochalen Einschnitt der Coronakrise – der zweiten Besonderheit der anstehenden Wahlauseinandersetzung – hatten sich die beiden Regierungsparteien in einem anhaltenden Stimmungstief befunden. Von September 2018 an, also nur ein halbes Jahr nach dem Start der neuerlichen Großen Koalition, verfügten Union und SPD in den Umfragen über keine gemeinsame Mehrheit mehr. Gleichzeitig gelang es den Grünen, sich als zweitstärkste Kraft nicht nur weit vor die anderen drei Oppositionsparteien, sondern auch vor die SPD zu setzen. Im September 2019 lagen sie in einigen Umfragen sogar gleichauf mit der Union.
Für die Verschiebung der Kräfteverhältnisse gab es eine Reihe von miteinander verbundenen Ursachen. Der Hauptgrund lag im miserablen Erscheinungsbild der Regierungsparteien. Die vor Corona unter dem Strich durchaus vorzeigbare Regierungsbilanz, begünstigt durch die positive wirtschaftliche Entwicklung, trat dahinter vollkommen zurück. Von den heftigen Geburtswehen, die ihren Start begleiteten, konnte sich die Koalition zu keinem Zeitpunkt erholen. Insbesondere die SPD musste in die Neuauflage des Bündnisses regelrecht hineingezwungen werden. Bereits nach wenigen Wochen brach Innenminister Horst Seehofer einen Streit über die Asyl- und Flüchtlingspolitik vom Zaun, der nicht nur die Regierung, sondern auch die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU an den Rand des Abgrunds brachte. Die Wähler quittierten dies mit schlechten Umfragen und Wahlergebnissen.
Auch das neue SPD-Duo aus der Partei- und Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles und dem Finanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz wurde in diesen Abwärtssorg hineingezogen. Als die Sozialdemokraten bei der Europawahl im Mai 2019 gegenüber ihrem schlechten Bundestagswahlergebnis nochmals 4,7 Prozentpunkte verloren, gab Nahles, die wegen einer Reihe missglückter öffentlicher Auftritte und Fehlentscheidungen innerparteilich schon vorher in der Kritik gestanden hatte, entnervt ihre Ämter auf. Scholz wiederum gelang es nicht, sich bei der Neuwahl des Vorsitzenden durchzusetzen – zusammen mit der Brandenburger Landtagsabgeordneten Klara Geywitz unterlag er dem früheren nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans und der Bundestagsabgeordneten Saskia Esken. Letztere hatte sich in ihrer Kampagne skeptisch gegenüber einem weiteren Verbleib in der Regierung geäußert und heftige Kritik an der von Scholz verteidigten Haushaltspolitik ohne Schuldenaufnahme (»Schwarze Null«) geübt.
Hoffnungen auf einen baldigen Regierungsaustritt wurden wegen des zu erwartenden Widerstandes der Fraktion und SPD-Minister von den neuen Vorsitzenden rasch gebremst. Er stand spätestens nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie nicht mehr zur Debatte. Symptomatisch für das weiter bestehende Führungsvakuum in der Partei war, dass Scholz, dessen Ablösung als Finanzminister nach der verlorenen Vorsitzendenwahl schon fast besiegelt schien, sich jetzt wieder Chancen auf die Kanzlerkandidatur ausrechnen konnte. Seine einstimmige Nominierung durch Präsidium und Vorstand erfolgte bereits im August 2020, mehr als ein Jahr vor der Bundestagswahl.
Je stärker die internen Führungsstreitigkeiten und -defizite das ohnehin geringe Zutrauen in die Regierungsparteien im Verlauf der Legislaturperiode erschütterten, umso größer wuchs der Zuspruch für die Opposition. Hauptprofiteur waren die Grünen. Sie wurden für ihre konstruktive Rolle bei den Jamaika-Verhandlungen belohnt. Die eigenen Führungsprobleme aus der vorangegangenen Legislaturperiode lösten sie durch einen überzeugenden personellen Wechsel an der Parteispitze, wo sich die Vorsitzenden Robert Habeck und Annalena Baerbock optimal ergänzten. Schon 2018 lautete die Frage nicht mehr, ob einer der beiden, sondern wer von ihnen eine mögliche Kanzlerkandidatur übernehmen würde. Die harten innerparteilichen Richtungsauseinandersetzungen ihrer Entstehungs- und Etablierungsphase haben die Grünen ohnehin hinter sich gelassen – ablesbar am Verschwinden der einstmals so prägenden Entgegensetzung von »Fundis« und »Realos« im parteiinternen und journalistischen Sprachgebrauch.
All das hätte aber kaum ausgereicht, um sie in die Nähe oder über die 20 %-Marke zu hieven, wenn nicht ein entscheidender, 2017 noch unabsehbarer Faktor hinzugetreten wäre, nämlich der Bedeutungsgewinn des Klimaschutzthemas. Die von der jungen schwedischen Aktivistin Greta Thunberg initiierten Fridays-for-Future-Proteste, die sich ab März 2019 zu einer weltumspannenden Bewegung entwickelten, führten der Öffentlichkeit und den Regierenden mahnend vor Augen, dass ohne größere Anstrengungen die im Pariser Abkommen festgelegten CO2-Reduktionsziele scheitern würden. Auf der Agenda der wichtigsten innenpolitischen Probleme in der Bundesrepublik rückte der Klimaschutz nun erstmals ganz nach oben. Von vielen als »Umweltpartei« wahrgenommen wurde den Grünen von jeher eine hohe Kompetenz auf diesem Gebiet attestiert. Dabei kam ihnen natürlich zugute, dass sie ihre Kritik am vermeintlich unzureichenden Klimaschutzpaket der Bundesregierung aus der Oppositionsrolle heraus formulieren konnten.
Anders als von manchen befürchtet, hat die Coronakrise nicht zu einer neuen Priorisierung materieller Wachstumsziele geführt. Stattdessen beförderte sie einen Konsens, die zur Ankurbelung der Konjunktur notwendigen öffentlichen Investitionen gerade für den Klimaschutz zu nutzen. Dass in der ersten Phase der Krise – im März und April 2020 –, als es um die unmittelbare Gefahrenabwehr ging, die Eindämmung der Pandemie alle anderen politischen Themen überlagern würde, war vorhersehbar. Das Heft des Handelns lag jetzt ganz bei den Exekutiven in Bund und Ländern, wobei sich die Augen naturgemäß zuerst auf die Bundesregierung richteten. Deren entschlossenes Vorgehen im Rahmen eines insgesamt gut funktionierenden föderalen Systems trug dazu bei, dass die Bundesrepublik glimpflicher durch diese erste Phase kam als andere europäische Länder. Die Wähler dankten es der Regierung mit wachsenden Zustimmungswerten, von denen Union und SPD allerdings nicht gleichermaßen profitierten. Während die Partei der Kanzlerin in den Umfragen um mehr als zehn Prozentpunkte zulegte, traten die Sozialdemokraten weiter auf der Stelle – trotz ihrer für die Bekämpfung der wirtschaftlichen und sozialen Krisenfolgen wichtigen Ressortzuständigkeiten in der Finanz-, Sozial- und Familienpolitik.
Die Opposition hatte in dieser Situation das Nachsehen. Weil viele der mit Corona zusammenhängenden Fragen sich einer parteipolitischen Logik entzogen, fiel es ihr schwer Gegenposition zu beziehen. Dass AfD und FDP relativ betrachtet stärkere Verluste verzeichneten als die Grünen und die Linkspartei, lag zugleich an ihren internen Querelen. Auch der regierungsinterne Wettbewerb zwischen Union und SPD kam in der ersten Phase der Krise weitgehend zum Erliegen. Abgesehen davon, dass der in der öffentlichen Debatte manchmal behauptete Zielkonflikt zwischen strengem Infektionsschutz und dem Inganghalten der Wirtschaft in dieser Form gar nicht bestand, gingen die Meinungen in beiden Parteien quer durcheinander. So stand und steht etwa der seit Ausbruch der Pandemie in allen Medien omnipräsente Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach als Verfechter strenger Schutzmaßnahmen keineswegs stellvertretend für die gesamte SPD. In der Union wurden die Gegenpole vom bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder und seinem nordrhein-westfälischen Amtskollegen Armin Laschet gebildet, deren öffentliche (Selbst-)Darstellung als »Warner« beziehungsweise »Lockerer« allerdings mehr mit dem innerparteilichen Machtkampf zu tun hatte als mit der Realität. Auch in Bezug auf die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise spielten frühere Unterschiede kaum noch eine Rolle. In den Unionsparteien gab es nur vereinzelte Stimmen, die mit Blick auf den Umfang der Rettungspakete vor einem Marsch in die Staatswirtschaft warnten. Und in der SPD sorgte Corona nebenbei dafür, dass sich die internen Auseinandersetzungen um »Schuldenbremse« und »Schwarze Null« vom einen auf den anderen Tag in Luft auflösten.
An dieser Gemengelage sollte sich auch in der zweiten Phase der Krise nichts Grundlegendes ändern. Der Wiederanstieg der Infektionszahlen seit dem Sommer schob Hoffnungen auf weitere Lockerungen – etwa im Bereich des Gastrogewerbes oder bei Großveranstaltungen – einen Riegel vor. Im November kam es zu einem erneuten Lockdown. Damit dürften sich die wirtschaftlichen und sozialen Folgeprobleme nochmals verschärfen, deren wahres Ausmaß ohnehin erst in den nächsten Monaten deutlich werden wird – durch Insolvenzen und steigende Arbeitslosenzahlen. Neben Gewinnern hinterlässt der durch die Krise eintretende Strukturwandel zahlreiche Verlierer, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Besonders dramatisch ist die Situation an den Schulen, wo eine Rückkehr zum Normalbetrieb ebenfalls auf absehbare Zeit ausgeschlossen scheint. Das ohnehin große Bildungsgefälle, das zu den Haupttreibern der sozialen Ungleichheit in diesem Land gehört, wird dadurch noch größer werden.
Der Bedeutungsgewinn verteilungsbezogener Fragen könnte im Wahljahr den linken Parteien, aber auch der fundamentaloppositionellen AfD in die Hände spielen. Kommt es dagegen aus Sicht der Wähler vor allem auf eine möglichst rasche Gesundung der Wirtschaft an, läge der Vorteil wohl eher bei Union und FDP. Der Blick auf vergangene Wahlen zeigt, dass die SPD immer dann am erfolgreichsten war, wenn sie neben ihrer sozialen Kompetenz auch ein bestimmtes Maß an ökonomischer Kompetenz für sich reklamieren konnte. Die Entscheidung für Scholz als Kanzlerkandidaten ist vor diesem Hintergrund folgerichtig. Dies gilt auch, wenn man den Klimaschutz als dritten Schlüsselbereich hinzunimmt. Denn will die SPD die Union aus dem Kanzleramt vertreiben, kann sie dies nur mit den Grünen an ihrer Seite. Deshalb muss sie darauf achten, dass bei den ökologischen Themen und in den sozialen Fragen größere programmatische Übereinstimmungen zwischen ihr und den Grünen bestehen als zwischen diesen und den Unionsparteien. Aus Gründen der Stimmenmaximierung läge es für die Grünen wahrscheinlich näher, als starker Juniorpartner in einer Zweierkoalition an der Seite der CDU/CSU zu regieren. Eine sozialdemokratisch geführte Regierung wäre hingegen nur möglich, wenn neben den Grünen die Linkspartei oder die FDP als dritter Partner mit ins Boot stiege.
Seit 2017 ist in das Koalitionsspiel Bewegung gekommen. Das hängt vor allem mit dem Aufschwung der Grünen zusammen. Diese mögen von ihren politischen Positionen her zwar weiter dem linken Lager zugehören. Elektoral muss man sie aber eher in der bürgerlichen Mitte verorten, wo ihnen seit 2018 besonders in die Unionswählerschaft tiefe Einbrüche gelungen sind. Die Achse des Parteiensystems, die durch die Etablierung der AfD ab 2013 nach rechts verschoben wurde, hat sich so nach links zurückbewegt und die Mehrheitsfähigkeit eines rot-rot-grünen Bündnisses perspektivisch verbessert. Parallel zur Öffnung nach links hat sich das Fenster zugleich für eine Ampelkoalition aufgetan. Dass die FDP diese Option inzwischen selbst ins Spiel bringt, liegt an ihrem schwierigen Verhältnis zur Union. Außerdem weiß die Partei, dass sie für ein neuerliches Jamaika-Bündnis wahrscheinlich gar nicht benötigt würde, weil es für Union und Grüne alleine zur Mehrheit reicht.
Nimmt man die hier betrachteten Schlüsselfaktoren – Kandidaten, Themenagenda und Koalitionsbeziehungen – zusammen, bleibt der Ausgang der kommenden Bundestagswahl in fast jeder Hinsicht ungewiss. Sicher voraussagen lässt sich nur, dass die Umfragen in den verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung eine erhebliche Rolle spielen dürften. So wie sich Union und Grüne für diejenigen Personen als Kanzlerkandidaten entscheiden werden, die beim Wähler den meisten Anklang finden, so geben die im wöchentlichen Rhythmus veröffentlichen Wahlprognosen Aufschluss über die Realisierbarkeit der verschiedenen Koalitionsmodelle.
Wie schnell sich die Stimmungen innerhalb der Wählerschaft verändern, hat die Bundestagswahl 2017 gezeigt, als die SPD mit ihrem neuen Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz äußert verheißungsvoll in das Wahljahr gestartet war, bevor ihre Kampagne binnen weniger Wochen kollabierte. Zumindest was den frühen Zeitpunkt der Nominierung angeht, scheint man aus den damaligen Fehlern gelernt zu haben. Dass bei der Entscheidung für Scholz der Zufall der Coronakrise kräftig mitspielte, steht auf einem anderen Blatt. Im Unterschied zur SPD müssen die Grünen die Kandidatenfrage noch klären. Habeck und Baerbock wollen das einvernehmlich unter sich ausmachen, lassen aber offen wann. Am schwierigsten bleibt trotz ihrer aktuell strahlenden Umfragewerte die Situation für CDU und CSU. Weil Merkel eine geregelte und rechtzeitige Machtübergabe während der Legislaturperiode versäumt hat, muss der neue Kanzlerkandidat ohne Amtsbonus antreten. Ob damit der Abschied von der Macht nach 16‑jähriger Regierungszeit begonnen haben könnte, werden wir im September wissen.
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